Reiter, Ilse,
Gustav Harpner 1864-1924 - Vom Anarchistenverteidiger zum Anwalt der Republik.
Böhlau, Wien 2008. XI, 593 S. Besprochen von Hannes Ludyga.
Die
Rechtshistorikerin Ilse Reiter, deren Forschungsschwerpunkte ansonsten vor
allem die Thematik der politischen Ausbürgerung, der politisch motivierten
Vermögensbeschlagnahme im Austrofaschismus und die politische Radikalisierung
in Österreich in den 1930er Jahren sind, vom Institut für Rechts- und
Verfassungsgeschichte der Universität Wien untersucht in ihrem beinahe 600
Seiten umfassenden Werk Leben und Wirken des österreichischen Rechtsanwalts
Gustav Harpner (1864-1924). Reiter leistet mit diesem Buch, das den
Anforderungen an die Methode der „erneuerten Biographie“ vollständig gerecht
wird, einen wichtigen Beitrag zur österreichischen Rechtsgeschichte im
Allgemeinen sowie speziell zur Anwaltsgeschichte, die in Österreich und
Deutschland noch immer ein Forschungsdesiderat bildet. Sie zog
erfreulicherweise für ihre Untersuchung zahlreiche unveröffentlichte Quellen
heran, was bis heute für zahlreiche Rechtshistorikerinnen und Rechtshistoriker
keine Selbstverständlichkeit ist. Auch aufgrund dieses methodischen Vorgehens
gelingt es der Autorin in ihrer spannenden und sehr gut lesbaren Darstellung im
Spiegel des Lebens von Harpner, einen umfassenden Einblick in die rechtlichen,
politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der
„dekadenten Jahre“ zwischen etwa 1890 und 1914, im 1. Weltkrieg und in der 1.
Republik auch unter dem Staatskanzler Karl Renner (1870-1950) in Österreich zu
geben.
Gustav
Harpner, der 1902 vom jüdischen zum katholischen Glauben übertrat, starb am 10.
Juli 1924 mit 61 Jahren in Wien und wurde „in aller Stille“ (S. 15) auf dem
Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. Sein Sohn Otto bemerkte zu dem frühen Tod
seines Vaters 1943 im britischen Exil: „Das Schicksal hat ihm erspart, den
einstweiligen Zusammenbruch einer Welt zu erleben, deren Aufbau er sein Leben
gewidmet hatte“ (S. 1). Es gelang seiner Ehefrau Tery, seiner Tochter Marie und
seinen beiden Söhnen Otto und Franz, welche die Gefahr des aggressiven
Nationalsozialismus erkannten, die Flucht nach Großbritannien, wodurch sie den
millionenfachen nationalsozialistischen Morden entkamen. Ein einziger von
Gustav Harpners Enkeln, Stefan Gustav Harpner, der Sohn Ottos, kehrte nach 1945
nach Österreich zurück (S. 551). Die übrigen Familienmitglieder sahen keine
Zukunft für ein Leben in Österreich. Sie remigrierten nicht in ein Land, in dem
ihnen alles genommen worden war.
In Wien
studierte Gustav Harpner Rechtswissenschaften und nahm dort 1893 seine
Tätigkeit als Rechtsanwalt auf. Bekanntheit erlangte Harpner, der 1894 eine
Darstellung des österreichischen Strafverfahrens verfasste, noch im 19.
Jahrhundert als „Parteianwalt der Sozialdemokratie“ (S. 58-90), der
„sozialdemokratischen Eisenbahnergewerkschaft“ (S. 90-104) und der
„ArbeiterInnenpresse“ (S. 177-236). Eine Freundschaft verband ihn mit dem
prominenten österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler (1852-1918).
Parteimitglied der Sozialdemokraten war Harpner allerdings zu keinem Zeitpunkt.
1917 – im Jahr der russischen Februarrevolution - verteidigte er in einem
spektakulären Prozess Friedrich Adler (1879-1960), der 1916 den
österreichischen Ministerpräsidenten Karl Reichsgraf von Stürgkh (1859-1916)
erschossen hatte (S. 245-277). Zunächst zum Tode verurteilt wurde Adler bereits
1918 aus der Haft entlassen. Als „unermüdlicher Streiter für Recht und Gerechtigkeit“
(S. 553) kam Harpner nicht nur mit der Politik, sondern auch mit der Kultur
intensiv in Berührung (S. 404). So vertrat er Arthur Schnitzler (1862-1931),
Karl Kraus (1874-1936) und Alma Mahler-Werfel (1879-1964).
Nach
dem 1. Weltkrieg erreichte der mit Hans Kelsen (1881-1973) befreundete Gustav
Harpner den Gipfel seiner beruflichen Laufbahn. So wurde er 1919 Mitglied des
Verfassungsgerichtshofes (S. 521-529), 1921 Präsident des
Kriegsgeschädigtenfonds (S. 387), 1922 Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer
(S. 534) und „Anwalt der Republik“. Er war „Vertreter und Verwalter“ des
konfiszierten „Habsburgervermögens“ und Verfasser der Novelle zum
Habsburgergesetz (S. 362-401). Außerordentlich gelungen ist ebenso in diesen
Teilen der Darstellung die Verknüpfung biographisch-individueller mit
allgemeinen Fragestellungen. Es wird deutlich, dass Individuum und Gesellschaft
nicht getrennt voneinander zu betrachten sind.
Das Werk Ilse Reiters schließt ein Forschungsdesiderat. Die einer historisch-kritischen Geschichtsschreibung verpflichtete Autorin setzt auf dem Gebiet der biographischen Forschung zur Anwaltsgeschichte neue Maßstäbe. Künftige biographische Untersuchungen müssen sich an dem Buch inhaltlich und methodisch messen lassen.
München Hannes
Ludyga