Reich,
David, Direkte
Demokratie in der Krise. Die Funktion des Notrechts in der Schweiz während
Weltwirtschaftskrise und Zweitem Weltkrieg dargestellt am Beispiel des
Warenhausbeschlusses 1933-1945 (= Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Reihe
D: Grundlagen Band 2). Helbing, Basel 2007. XVII, 292 S. Besprochen von Martin
Tegelkamp.
„Außerordentliche
Zeiten, außerordentliche Maßnahmen“ (S. 164). Könnte man auch zunächst versucht
sein, den von David Reich bedachtsam formulierten Titel seiner
Dissertation auf diese einfache Formel zu bringen, so würde man dessen
Vielschichtigkeit damit nicht gerecht. Bezieht sich die angesprochene Krise doch
hier nicht nur und in erster Linie auf eine zeitliche Verortung in die Jahre
vor und während des zweiten Weltkrieges, sondern geht vielmehr auf inhaltlicher
Ebene der Frage nach der Vitalität der direkten Demokratie in der Schweiz
dieser Zeit nach.
Der
Verfasser zeichnet am Beispiel der 1933, 1935, 1937, 1939, 1941 und 1944
erlassenen Warenhausbeschlüsse einen Tiefpunkt der direkten Demokratie in der
Schweiz nach, wenn nicht gar einen Tiefpunkt der Demokratie
überhaupt. Überzeugend ist sein Ansatz, zuerst den wirtschafts- und
gesellschaftspolitischen Hintergrund darzustellen, welcher eine zumindest
teilweise Abkehr von rechtsstaatlichen Verfahrensweisen ermöglichte und die
Reaktionen der Akteure anhand treffender Zitate greifbar zu machen.
So
lässt Reich schon zu Beginn einen Parlamentarier das Wort ergreifen, der
sich 1933 gegen den Erlass des ersten Warenhausbeschlusses wendet: „Es ist
ausserordentlich bedauerlich, dass in einer Zeit der Krise und der Not, wo die
Volksgemeinschaft mehr denn je auf gegenseitiges Zusammenwirken angewiesen ist,
die Verfassung und das Mitspracherecht des Volkes ausser Kraft gesetzt wird“
(S. 1). Woraufhin er den damals für diesen Bereich zuständigen Bundesrat Edmund
Schulthess für den Warenhausbeschluss mit bezeichnenden Worten erwidern
lässt: „Wir haben aus Notrecht gehandelt, das bestehen muss, und sollten wir es
aus den Sternen holen müssen“ (S. 3).
Im
Fortgang seiner Arbeit wendet sich Reich der verfassungsrechtlichen
Diskussion zu notrechtlichen Instrumenten in der Weltwirtschaftskrise und im
Zweiten Weltkrieg zu, wobei sein Hauptaugenmerk auf der bisher wenig
untersuchten Anwendung des Notrechts in praxi liegt. Hierbei ist er um
eine enge Verzahnung der Lebensumstände der Schweizer mit den rechtlichen
Neuerungen bemüht. Der Autor beschreibt zunächst in einem wirtschaftshistorischen
Überblick die Marktlage im Gewerbehandel: Traditioneller Einzelhandel,
Konsumgenossenschaften, Migros, Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte
charakterisiert der Verfasser kurz. Anschließend widmet er sich ausführlich der
Wirtschaftspolitik. Hier zeigt Reich, wie es korporatistischen
Strömungen zumindest zum Teil gelang, ihre „Anti-Warenhauspolitik“ (S. 52) von
einer Lobbyforderung zur offiziellen Linie in Verfassungsorganen der Schweiz zu
machen.
So
erreichten einzelne gesellschaftliche Gruppen, allen voran der Schweizerische
Detaillistenverband (SDV), 1933 den ersten Warenhausbeschluss, der im
Wesentlichen aus einem allgemeinen Eröffnungs- und Erweiterungsverbot für
Waren- und Kaufhäuser sowie Einheitspreisgeschäfte bestand, wobei für Waren-
und Kaufhäuser die Möglichkeit von Ausnahmebewilligungen vorgesehen war.
Reich analysiert die in den Folgejahren
erlassenen Warenhausbeschlüsse und zeigt, wie an die Stelle vormals staatlicher
Gesetzgebung immer mehr privatrechtliche Vereinbarungen von Verbänden traten.
Seiner
Verbitterung Ausdruck verleihend kommt Reich zu dem Ergebnis: „In einer
zunehmend von verbandsmässig organisierten Interessengruppen dominierten
Politik und einer vermehrt der Öffentlichkeit entzogenen Entscheidungsfindung
in Wirtschaftsfragen sollten Lösungen, die durch Spitzenfunktionäre von
Verbänden und Verwaltung ausgehandelt worden waren, nicht mehr durch die
Unwägbarkeiten eines Referendums ‚gefährdet‘ werden“ (S. 135). Dass ein solches
Misstrauen gegenüber dem Schweizer Stimmvolk tatsächlich bestand, belegt Reich
wiederum mit einem eindrucksvollen Zitat. Diesmal lässt er den SDV-Präsident
mit im Hinblick auf sein Demokratieverständnis entlarvenden Worten sprechen:
„Ein dringlicher Bundesbeschluss muss erlassen werden. Gewiss widerspricht ein
solcher Beschluss der verfassungsmässigen Gewerbefreiheit. Das Bundesgericht
hat jedoch gegenüber einem Bundesbeschluss kein Prüfungsrecht auf
Verfassungsmäßigkeit“ (S. 164).
Neben
diesen wirtschaftshistorisch wertvollen Erkenntnissen liefert Reich
zudem einen Überblick über die damaligen Erlassformen: Bundesgesetz,
allgemeinverbindlicher Bundesbeschluss, dringlicher allgemeinverbindlicher
Bundesbeschluss und einfacher Bundesbeschluss.
Mit
dem dringlichen allgemeinverbindlichen Bundesschluss als in den ersten Jahren
für den Warenhausbeschluss gewählte Erlassform setzt sich Reich dabei
intensiv auseinander. Er beschreibt, wie sich aus rein pragmatischen Gründen
bei den Beteiligten das Begriffsverständnis von einem zeitlichen zu einem materiellen
Dringlichkeitsverständnis erweiterte. Demnach war eine Maßnahme dringlich, wenn
sie aus Sicht der Bundesbehörden notwendig war.
Bediente
man sich des dringlichen Bundesbeschlusses, so waren die Schweizer Stimmbürger
von der Mitwirkung ausgeschlossen, ein fakultatives Referendum war hier nicht
statthaft. Nach Reichs Analyse wurde immer dann zum dringlichen
Bundesbeschluss gegriffen, wenn man das Risiko einer Maßnahmenablehnung durch
das Stimmvolk nicht eingehen wollte. Die direkte Demokratie war damit in einer
lebensbedrohlichen Krise.
Diesen
neuen Umgang mit – oder auch diese neue Form der Umgehung der – schweizerischen
Verfassung nimmt Reich zum Anlass einer terminologischen Klärung des
Notrechtsbegriffs. Der Verfasser kommt zu dem Schluss, dass Notrecht sowohl als
Überbegriff für eine Kompetenznorm als auch für eine besondere Erlassform
gebraucht wurde. So wurde von Einigen in der Krise eine neben der Verfassung
stehende Notkompetenz nicht nur für Kriegszeiten, sondern auch für
wirtschaftliche Schwierigkeiten angenommen.
Hiergegen
wendet sich der Autor im Einklang mit dem damaligen Zürcher Staatslehrer Zaccaria
Giacometti, den Reich wie folgt zitiert: „Damit bewegt man sich aber
nicht mehr auf juristischer Ebene. […] Es gibt keine Legalität ausserhalb der
Bundesverfassung. […] So ist denn auch ein solches naturrechtliches Notrecht,
das neben den Revisionsvorschriften der Bundesversammlung gelten soll,
rechtswissenschaftlich nicht erfassbar; es ist Subjektivismus, Metaphysik“ (S.
148).
In
der Gesamtbetrachtung zeichnet sich Reichs Dissertation durch seine
klare wirtschafts- und rechtshistorische Betrachtungsweise aus, die maßgeblich
Glanz durch die gut ausgewählten Quellen erhält. Die Sprache ist schnörkellos,
manchen leicht polemischen Seitenhieb („Inhaltlich griff der Korporatismus auf
ältere Vorbilder zurück, insbesondere auf eine romantisch-verklärte Vorstellung
der mittelalterlichen Zünfte“ (S. 27).) verzeiht man dem Autor gerne bei seinem
deutlichen Plädoyer für Verfassungstreue und damit zur direkten Demokratie. Der
Kampf ums Recht wird eben mit harten Mitteln gefochten.
Münster Martin
Tegelkamp