Ranieri, Filippo, Europäisches Obligationenrecht. Ein Handbuch mit Texten und Materialien. 3. Aufl. Springer, Wien 2009. XXVIII, 2044 S. Besprochen von Martin Avenarius.

 

Das in überarbeiteter Fassung neu vorgelegte Werk entspricht der Erwartung an ein „Handbuch“ schon äußerlich umso mehr, als sich sein Umfang gegenüber der Vorauflage fast verdreifacht hat. Gleichwohl für didaktische Zwecke entworfen, bleibt das gewichtige Buch auch in der Erweiterung jenem induktiven Lehrkonzept treu, das sich in den Vorauflagen bewährt hat. Der Verfasser legt daher eine ausgewogene Mischung aus Sachmitteilung und Materialien vor, die gerade nicht erschöpfend für eine monographische Darstellung ausgewertet, sondern vielfach mit dem Text nur lose verflochten sind. Urteile, Gesetzestexte und andere Quellen werden dabei erfreulicherweise im – auch fremdsprachigen – Wortlaut wiedergegeben. Die Neufassung enthält allerdings nicht nur zusätzliche Materialien und Nachweise zu den schon in den Vorauflagen behandelten Gegenständen, sondern ein ergänztes, das Obligationenrecht weitergehend abdeckendes Themenspektrum. Obwohl das Werk dadurch schwerfälliger geworden ist und bei der Fülle der Teilbereiche selbstverständlich eine Beschränkung des Tiefgangs stattfinden musste, ist die Erweiterung in mehrfacher Hinsicht begrüßenswert.

 

Das gilt zunächst insoweit, als die Darstellung des Rechts der Leistungsstörungen erheblich erweitert wurde: So ist ein Kapitel über „Vertragshaftung zwischen Verschulden und Garantie“ neu aufgenommen worden, und die bisherige Darstellung des Rechts der mangelhaften und falschen Warenlieferung im Kaufrecht ist in einem neuen, umfangreichen Kapitel „Von der Gewährleistung zur einheitlichen Vertragsverletzung“ aufgegangen. Neu eingefügt ist ferner ein Kapitel „Die Haftung des Herstellers fehlerhafter Produkte“, in dem am Beispiel der Produkthaftung die Gefährdungshaftung entwickelt wird.

 

Sowohl in den neu aufgenommenen als auch in den schon zuvor enthaltenen Kapiteln ist die rechtshistorische Perspektive aufgewertet worden. Schon bisher ist es ein positives Merkmal des Buches gewesen, daß die Darstellung des europäischen Obligationenrechts durch die historische Entwicklung verklammert worden ist. Was in der Vorauflage allerdings – sieht man von den unverzichtbaren historischen Gerichtsentscheidungen für den Bereich des common law ab – noch eine vergleichsweise bescheidene Rolle gespielt hatte, ist nun deutlich ausgebaut, und zwar hauptsächlich mit Texten aus der Geschichte des kontinentaleuropäischen Privatrechts. Dies bietet die Voraussetzungen dafür, daß sich dem Benutzer der historische Zusammenhang des Verhältnisses zwischen den Rechtsordnungen erschließt. Auf dieser Grundlage gewinnt die Rechtsvergleichung durch ihre geschichtliche Dimension die gebotene Tiefenschärfe.

 

Für das gemeine Recht des 19. Jahrhunderts wird öfters aus der Pandektenvorlesung Gneists zitiert. Nun ist Gneist zwar unzweifelhaft wichtig, doch hat er seine Bedeutung nicht gerade durch seine Pandektenvorlesung errungen. Es drängt sich vielmehr der Eindruck auf, dass die Wahl einer Gneist-Nachschrift damit zusammenhängen könnte, daß 2004 eine Edition derselben erschienen ist.[1] Wenn sich der Verfasser schon auf ediertes Material beschränken möchte, könnte er – jedenfalls in einer künftigen Neuauflage – eine etwas ausgewogenere Darstellung erreichen, indem er die von Jäde erarbeitete Ausgabe einer Nachschrift von Jherings Pandektenvorlesung nach Puchta mehr heranzöge.[2] Diese hat der Verfasser noch zur Kenntnis genommen (S. 1146), doch waren, als sie 2008 erschien, die entsprechenden Abschnitte des Buches offenbar schon fertiggestellt.

 

In den Anmerkungen zitiert der Verfasser immerhin öfters das inzwischen edierte Manuskript Savignys zum Abschnitt seiner Pandektenvorlesung über den Allgemeinen Teil des Obligationenrechts.[3] Wenn der Verfasser die „auffallende Ähnlichkeit“ zwischen den Ausführungen Savignys und Gneists „beachtenswert“ findet (S. 464, Fn. 5 und 1184, Fn. 6), dürfte die Erklärung darin liegen, dass Gneist Hörer Savignys gewesen war und in der Tradition von dessen berühmter Vorlesung seit 1842 selbst in Berlin die Pandekten las. Auch angesichts der bekanntermaßen kritischen Auseinandersetzung mit Savigny ist Gneists Vorlesung im Ganzen klar an den Standpunkten des akademischen Lehrers orientiert.

 

Für die sicherlich zu erwartende nächste Auflage wäre vorzuschlagen, der herausragenden Bedeutung Savignys für die bis in die Gegenwart fortwirkende Dogmatik noch etwas konsequenter Rechnung zu tragen. Dies gilt z. B. insoweit, als die Übereignungslehre Savignys gegenwärtig ohne Berücksichtigung des Obligationenrecht-Manuskripts dargestellt wird (S. 1056ff.). Wenn allerdings Gneist zur culpa zu Wort kommt, ohne dass der entsprechende Abschnitt bei Savigny genannt wird (S. 570ff.), dann trägt dies wohl richtigerweise dem Umstand Rechnung, daß Savignys culpa-Lehre nicht ganz so originell war wie andere dogmatische Beiträge.

 

An anderer Stelle teilt der Verfasser mit, das gemeine Recht habe die Verbürgung für Naturalobligationen nur unter engen Voraussetzungen als wirksam anerkannt (S. 1256). Dabei stellt er generalisierend fest, die Pandektistik habe die Rechtskategorie der naturalis obligatio abgelehnt. Wenn es so wäre, hätte Savigny diesem Rechtsbegriff in seinem gedruckten Obligationenrecht nicht über hundert Seiten widmen müssen. Götz Schulzes Monographie über die Naturalobligation ist, obwohl vom Verfasser noch zur Kenntnis genommen, vielleicht zu kurz vor dem Abschluss des Buches erschienen, um zur Erhellung dieses Punktes noch beitragen zu können.[4]

 

Begrüßenswert ist schließlich, dass bei der Erweiterung der betrachteten Rechtsordnungen der Bereich Ostmittel- und Osteuropas aufgewertet wird. So sind jetzt u. a. die Rechtsordnungen Russlands, Tschechiens und Ungarns in angemessener Weise berücksichtigt. Dies schafft eine wichtige Ausweitung des Spektrums europäischer Lösungen. Insoweit könnte das Werk auch der unangebrachten Neigung vieler westeuropäischer Darstellungen der neueren Privatrechtsgeschichte entgegenwirken, den Osten zu vernachlässigen. Schlosser, den der Verfasser nur in der 9. Auflage zitiert, bietet – trotz Bezugnahme auf den „europäischen Kontext“ – ein Beispiel für diese eingeschränkte Perspektive.

 

Die angesichts des Stoffumfangs gebotene Schwerpunktsetzung führt in diesem Rahmen zu einer vergleichsweise ausführlichen Berücksichtigung Polens. Diese Konzentration ist gerechtfertigt durch die bedeutende polnische Tradition auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung sowie durch die historische Verbindung des polnischen Obligationenrechts mit westeuropäischen Rechtsordnungen, für die exemplarisch die Arbeiten von Roman Longchamps de Bérier stehen. Der Verfasser hätte vielleicht – auch in Anerkennung des didaktischen Konzepts des Buches – diesen Zusammenhang etwas mehr erklären sollen, weil man zur genetischen Einbindung der Privatrechtsordnungen Ostmittel- und Osteuropas in die Tradition der kontinentaleuropäischen Rechtsentwicklung regelmäßig kaum Hintergrundwissen voraussetzen kann.

 

Angesichts der Anerkennung, die der Verfasser mit Rücksicht auf die Fülle des behandelten Stoffes verdient, wird man ihm kleine corrigenda gerne nachsehen. Dem Kundigen wird sofort klar, dass es sich auf S. 21 nur um eine Verwechslung von conditio und condictio handelt und dass der Verfasser auf S. 500, Fn. 91 mitteilen will, wer vom gutgläubigen Besitzer Nachlassgegenstände erwerbe, sei nach Ulpian 15 ad ed. D. 5,3,25,17 vor (!) der rei vindicatio des Erben geschützt. Auf S. 1367 nennt der Verfasser „schwerwiegende tödliche Folgen“ eines Sturzes. Aber könnten solche auch weniger gravierend sein?

 

Wenn der Band also Aufmerksamkeit verdient, dann wegen der Fülle des gebotenen Materials keineswegs nur als Lehrwerk. Gerade in dieser Hinsicht wird sich vielmehr zeigen müssen, ob das Werk nicht womöglich Opfer seines eigenen Erfolges wird. So wird sich jene intensive Auseinandersetzung mit dem Buch, den nicht einzelne Bibliotheksexemplare erlauben, sondern erst der Eigenerwerb durch Studenten, angesichts des maßlosen Preises kaum einstellen können. Auch dürfte der enorme Umfang des Bandes auf diese Zielgruppe wohl eher abschreckend wirken. Glücklich der Verfasser, dessen Erfahrungen mit der Vorauflage diese Befürchtung offenbar nicht aufkommen ließen.

 

Köln                                                                                                              Martin Avenarius



[1] D. Eßer, Gneist als Zivilrechtslehrer. Die Pandektenvorlesung des Wintersemesters 1854/55. Mit kommentierter Edition der Vorlesungsnachschrift v. R. Esser (2004).

[2] R. v. Jhering, Pandektenvorlesung nach Puchta. Ein Kollegheft aus dem Wintersemester 1859/60, hg. und kommentiert v. Ch. Jäde (2008).

[3] F. C. v. Savigny, Pandekten. Obligationenrecht, Allgemeiner Teil, nach Savignys Vorlesungsmanuskript hg. v. M. Avenarius (2008).

[4] G. Schulze, Die Naturalobligation. Rechtsfigur und Instrument des Rechtsverkehrs einst und heute – zugleich Grundlegung einer zivilrechtlichen Forderungslehre (2008).