Psychologie als Argument in der juristischen Literatur des Kaiserreichs, hg. v. Schmoeckel, Mathias in Verbindung mit Gundlach, Horst/Schott, Heinz (= Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 11). Nomos, Baden-Baden 2009. 256 S. Besprochen von Arno Buschmann.
Der vorliegende Sammelband enthält die Druckfassung der Vorträge, die auf einer Klausurtagung im Dezember 2007 in Königswinter gehalten wurden und die sämtlich der Frage nach dem Einfluss von Psychologie und psychologischer Theorie auf das Straf-, Zivil- und Öffentliche Recht einschließlich des jeweiligen Verfahrensrechts gewidmet waren. Schwerpunkt der Betrachtung war die Zeitspanne zwischen 1870 und 1920, in der psychologische Lehren in den verschiedenen Bereichen der Jurisprudenz mit unterschiedlicher Intensität und vor allem mit wechselnder Verständnistiefe rezipiert und erörtert wurden. Weitgehend ausgeklammert (bis auf einen Beitrag) wurde die Psychologie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die in mancher Hinsicht der Boden für den Aufschwung der Psychologie des 19. Jahrhunderts als einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin bereitet hat.
Den Reigen der Abhandlungen eröffnet Horst Gundlach mit einer Studie über die Entwicklung des Verhältnisses von Rechtswissenschaft und Psychologie von der Aufklärungsphilosophie Christian Wolffs über die psychologischen Schulen des 19. Jahrhunderts, den Einfluss Hermann Lotzes und Wilhelm Wundts bis hin zur Entstehung einer auf die Anwendung der Psychologie in der Gerichtspraxis bezogenen Forensischen bzw. Rechtspsychologie. Daran anschließend befasst sich Adelheid Kühne mit der Entwicklung von Forensischer und Kriminalpsychologie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Nach einem Überblick über die psychologischen Strömungen, in dem sie auch auf die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Forensik eingeht, kommt sie auf den heutigen Sachstand zu sprechen, der zum einen durch die Ablehnung psychoanalytischer Strafrechtstheorien, zum andern durch eine schrittweise Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse bei den strafprozessualen Reformen des frühen 20. Jahrhunderts, namentlich im Jugendstrafrecht, gekennzeichnet ist. Mit der Psychologie als Argument für die Abschaffung des Strafmaßes beschäftigt sich Eric J. Engstrom, indem er sich vor allem mit den Lehren Otto Mittelstädts und Emil Kraepelins auseinandersetzt, die beide mit psychologischer Begründung die Abschaffung differenzierter Freiheitsstrafen gefordert hatten, der eine mit dem Ziel, diese durch die Wiedereinführung von erziehungsorientierten peinlichen Strafarten zu ersetzen, der andere, an Stelle der Freiheitsstrafen Maßnahmen der Sicherung und Besserung im Sinne der Liszt’schen Schule einzuführen. Beide Reformvorschläge betrachtet der Verfasser zu Recht im Zusammenhang der großen strafrechtlichen Reformbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ausführlich setzt sich Mathias Schmoeckel in der anschließenden Abhandlung mit dem Einfluss der Psychologie auf die Entwicklung des Zeugenbeweises im 19. und 20. Jahrhundert auseinander, indem er vor allem den Einfluss der Erkenntnisse der experimentellen Psychologie des 19. Jahrhunderts und deren Rezeption in der Lizst’schen Schule des Strafrechts betont, gleichzeitig aber auf die mangelnde Resonanz dieser Erkenntnisse vor allem in der Aussagepsychologie in der juristischen Praxis hinweist. Als Grund hierfür sieht Schmoeckel das gesetzlich verankerte richterliche Ermessen an, das dem Richter die Prärogative in der Einschätzung und Bewertung von Zeugenaussagen einräumt. Einem ganz anderen Aspekt ist der Aufsatz von Heinz Schott gewidmet, nämlich der Beziehung von Rassenhygiene und Degenerationslehre zur Kriminalpsychologie. Sie hat, wie der Verfasser dartut, ihre Wurzeln in der Signaturenlehre und deren speziellen Ausprägungen sowie im Sozialdarwinismus des 19. Jahrhunderts und mündet einerseits in die naturwissenschaftlich begründete Kriminalpsychologie, anderseits in die Psychopathologie, die beide als Ausgangspunkt für die Degenerationslehre und der Lehre von der Rassenhygiene gedient hätten. Die Bedeutung der Psychologie und des psychologischen Wissens in Leben und Werk Franz von Liszt’s ist Gegenstand der folgenden Untersuchung David von Mayenburgs, der in ihr nach Analyse der biographischen Beziehungen wie der systematischen Lehren Liszts zu dem Ergebnis kommt, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Psychologie seiner Zeit in ihr nicht stattgefunden hat, seine Beschäftigung mit der Psychologie sich vielmehr auf bloßes juristisches Laienverständnis ohne Zugrundelegung der Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie gründete. Mit der Situation der forensischen Psychologie vor dem Ersten Weltkrieg und den Verdiensten Karl Marbes um deren Einbindung vor allem in die Strafrechtswissenschaft beschäftigt sich Annette Mülberger in ihrem Beitrag. Für sie ist Marbe durch seine Gutachten wie durch seine „Grundlagen der forensischen Psychologie“ trotz aller Widerstände vor allem von Seiten der zeitgenössischen Jurisprudenz einer der Wegbereiter einer intensivierten Beziehung zwischen Psychologie und Jurisprudenz. Mit der Rezeption psychologischer Denkmodelle im Werk Adolf Merkels setzt sich Adrian Schmidt-Recla und vor allem mit Merkels Bemühen auseinander, eine empirisch orientierte psychologische Rechtsphilosophie als Grundlage einer Lehre von Verbrechen und Strafe zu entwickeln, mit der sich dieser zwischen den beiden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts dominierenden Schulen der Strafrechtswissenschaft positionieren wollte, ohne freilich damit einen nennenswerten Einfluss auf die strafrechtswissenschaftliche Diskussion gewinnen zu können. Das Verhältnis von Psychologie und Recht im Bürgerlichen Recht erläutert Hans-Georg Hermann in seiner Studie und wählt hierfür einen Gegenstand aus, der ihm in besonderem Maße geeignet erscheint, die Problematik dieser Beziehung zu zeigen, nämlich das Erbrecht und hier insbesondere das Recht des Erblasserwillens bei der gewillkürten Erbfolge. Hermann gelangt zu der Auffassung, dass sich gerade in diesem Bereich auf Seiten der Rechtswissenschaft eine gewisse „Systemimmunisierung“ breit gemacht habe, die auf eine Abwehr psychologischer Erkenntnisse bei der Erörterung von Rechtsfragen hinauslaufe und die trotz aller Fortschritte in der psychologischen Erkenntnis für diesen Bereich des Bürgerlichen Rechts bis in die Gegenwart anhalte. An ein anderes Beispiel für einen allerdings eher fraglichen Einfluss der Psychologie im Bürgerlichen Recht erinnert Ulrich Falk mit seiner Untersuchung über Windscheids Lehre von der Voraussetzung und die allgemein verbreitete Behauptung von deren psychologischer Grundlegung, von der Falk zutreffend feststellt, dass davon tatsächlich keine Rede sein könne, es vielmehr erkennbar Windscheids Intention gewesen sei, einem praktischen Bedürfnis zu entsprechen und der richterlichen Entscheidungsfindung eine wirksame rationale Urteilshilfe zu bieten, ohne einem justiziellen Dezisionismus den Boden zu bereiten. Jherings berühmter Vortrag von 1884 über das Rechtsgefühl ist Klaus Luigs Beitrag gewidmet, in dem von Jhering nicht nur die Frage nach dem Rechtsgefühl als der Grundlage allen positiven Rechts thematisiert, sondern vor allem dessen historische Bedingtheit als dessen eigentliche Substanz erörtert wird, womit der Historie als Element einer Psychologie des Rechts der Weg gewiesen wurde. Die Bedeutung der Psychologie im Recht bei Ernst Zitelmann ist Gegenstand des Beitrages von Hans-Peter Haferkamp, die er am Beispiel von Zitelmanns bekannter Monographie über den Irrtum beim Rechtsgeschäft behandelt, die sich allerdings nicht an den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie seiner Zeit orientiert, sondern an Zitelmanns eigenen philosophisch-psychologischen Vorstellungen. Mit der Psychologie als Grundlage der Allgemeinen Staatslehre befasst sich im Anschluss an Haferkamps Abhandlung Christoph Schönberger, indem er die Beziehungen der Staatsrechtslehre zur Psychologie von Paul Laband über Georg Jellinek bis hin zu Hans Kelsen verfolgt, die im Kern durch eine Entwicklung von der anthropromorphen Vorstellung vom Staat als Übermenschen über den Staat als von der menschlichen Gemeinschaft getragener Körperschaft bis hin zu einer Vorstellung vom Staat als einem rein juristischen Begriff mit strengen Trennung von jeder Form von Sozialwissenschaft gekennzeichnet ist, zu denen Kelsen auch die Psychologie gerechnet habe. Den Schluss der Beiträge bildet eine Studie Christian Waldhoffs über die Entstehung der Vorstellung vom Staat als juristischer Person mit allen Konsequenzen für das Verständnis des staatlichen Handelns, die zumindest im Ansatz eine psychologische oder besser psychologisierende Betrachtungsweise erkennen lässt, ohne dass allerdings ein Rekurs auf die wissenschaftliche Psychologie nachzuweisen wäre.
Betrachtet man die Ergebnisse der verschiedenen in diesem Sammelband versammelten Studien und deren vielfältige Aspekte, dann wird schnell klar, dass von einer systematischen Einbeziehung der Psychologie als einer eigenständigen Wissenschaft nach deren Emanzipation von der Philosophie oder überhaupt von Erkenntnissen der wissenschaftlichen Psychologie in die Rechtswissenschaft bis zum Ende des Kaiserreichs keine Rede sein kann. Wo psychologische Erkenntnisse in der Rechtswissenschaft verwendet wurden, beruhte dies zumeist - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auf allgemeinen psychologischen Betrachtungsweisen und nicht auf konkreten Bezugnahmen auf die Psychologie als Wissenschaft. Insofern standen sich Psychologie und Rechtswissenschaft weitgehend beziehungslos gegenüber. Diesem Resultat kann nur zugestimmt werden. Tatsächlich waren die Bezugnahmen auf die Erkenntnisse der Psychologie als Wissenschaft in der Rechtswissenschaft, aber auch der Rechtspraxis eher selten, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, dass sich die Psychologie als Wissenschaft noch im Stadium der Entwicklung befand, eine innere Konsolidierung noch nicht stattgefunden hatte und Rechtswissenschaft und Rechtspraxis zögern ließ, sich dieser in statu nascendi befindlichen wissenschaftlichen Psychologie als Grundlage juristischer Erkenntnisse zu bedienen. Auf der anderen Seite ist unübersehbar, dass sich Rechtswissenschaft und Rechtspraxis immer wieder genötigt sahen, bei der Erörterung von Rechtsfragen auf psychologische Aspekte einzugehen und psychologische Betrachtungsweisen in die juristische Argumentation einfließen zu lassen. Dieses Dilemma mit all seinen Facetten sichtbar gemacht und für die Rechtsgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts in einem ersten Umriss aufgearbeitet zu haben, ist das besondere Verdienst der Beiträge des vorliegenden Sammelbandes, von denen zu hoffen steht, dass sie zu weiteren Forschungen anregen, wobei insbesondere auch die Frage zu behandeln wäre, inwieweit sich der Gesetzgeber der Erkenntnisse der wissenschaftlichen Psychologie bedienen sollte, wie dies im Jugendstrafrecht bereits geschehen ist, in anderen Bereichen wie etwa im Bürgerlichen Recht aber noch der Klärung bedarf.
Salzburg Arno Buschmann