Pohl, Dieter, Die Herrschaft der
Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der
Sowjetunion 1941-1944 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 71).
Oldenbourg, München 2008. VII, 399 S., Ill., graph. Darst., Kart. Besprochen
von Karsten Ruppert.
Die
Wehrmacht hat seit dem Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 bis Mitte 1944
in Feindesland ein Gebiet mit mehreren Millionen Einwohnern besetzt, das auf
dem Höhepunkt der Expansion etwa doppelt so groß war wie Frankreich.
Dieses Operationsgebiet mit seinem Hinterland ist zu unterscheiden von den
weiter westlich liegenden Reichskommissariaten, die der Zivilverwaltung
unterstanden und in denen das nationalsozialistische Ostprogramm brutal umgesetzt
wurde. Obwohl die internationale Forschung zur Herrschaft der Wehrmacht zahllose Studien vorgelegt hat, war
deren vielfältiges Wirken noch nicht zusammenhängend dargestellt worden. Hier
setzt die Studie Dieter Pohls an. Sie ist aber mehr als eine Zusammenfassung.
Sie kommt, besonders hinsichtlich der Auswirkungen dieser Herrschaft auf die
Bevölkerung, deutlich über das bisher Bekannte hinaus. Das ist nicht zuletzt
einer breiten Quellenbasis zu verdanken unter Einbeziehung auch der
sowjetischen Überlieferung, soweit sie vor allem im Holocaust Memorial Museum
in Washington greifbar war. Die Untersuchung ist Teil eines umfassenden
Projekts des Instituts für Zeitgeschichte über „Die Wehrmacht in der nationalsozialistischen
Diktatur“ und ordnet sich
ein in den breiten Strom von Forschungen, die seit gut 20 Jahren der
bewaffneten Macht einen (unterschiedlich großen) Anteil an den Verbrechen des
Regimes zurechnen.
Das
Buch setzt ein mit dem wenig überzeugenden Versuch, Traditionslinien zwischen
Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, Antisemitismus in der deutschen
Gesellschaft vor 1933 und
dem Bild von den Slawen einerseits und dem Geschehen in der Sowjetunion
andererseits herzustellen. Hier wird zu sehr pauschaliert und werden
Kontinuitäten zwischen Unvergleichbarem konstruiert. Sehr viel mehr fördert das
Verständnis das Herausarbeiten der Vorbedingungen und Vorentscheidungen: Die
Aushöhlung von Recht und Moral seit der Machtergreifung, die Nazifizierung der
Armee, vor allem aber die politischen Vorgaben, die aus der Absicht entsprangen,
einen weltanschaulichen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion zu führen.
Damit waren einer Kriegsführung nach Völkerrecht und einer Besatzung, welche die
Auswirkungen auf die Bevölkerung auf das Unvermeidliche begrenzte, von Anfang
an der Boden entzogen. Schließlich kam in der Besatzungspraxis noch eine nach
Zeit und Ort unterschiedliche Zusammenarbeit mit den Terrorinstrumenten des
Regimes (Polizei, Einsatzgruppen und SS) hinzu, die Himmlers Befehl
unterstanden.
Am
umfassendsten war die Zivilbevölkerung von der Entscheidung betroffen, die
besetzten Gebiete wirtschaftlich auszuplündern und die Armee aus dem Land
heraus zu ernähren. Dabei war schon in der Planungsphase der massenhafte Hungertod
der Einheimischen in Kauf genommen worden und dieses Instrument wurde während
Kampf und Besatzung auch immer wieder gegen die Bevölkerung der Großstädte
eingesetzt. Bewusst und vorsätzlich war auch schon von Anfang an das
Massensterben unter den kriegsgefangenen Rotarmisten in Kauf genommen worden.
Erkennbar sind Unterschiede in der Behandlung von Soldaten und Offizieren und
zwischen den einzelnen Volksgruppen. Für Politkommissare, Kommunisten und Juden
bedeutete Gefangenschaft fast immer den Tod.
In
die das Bild vom Terror vor allen prägenden Massenerschießungen war die
Besatzungsmacht unterschiedlich eingebunden. Soweit Juden Opfer wurden, gingen
sie weitgehend auf das Konto von SS und Polizei. Doch beteiligten sich auch
Einheiten der Wehrmacht daran, die aber in größerem Umfang dadurch schuldig
wurde, dass sie Unterstützung leistete und von gelegentlichen Protesten und Interventionen
abgesehen den Massenmord in ihrem Verantwortungsbereich duldete. Dass aber auch
in ihren Reihen der exterminatorische Antisemitismus Wurzeln geschlagen hatte,
wird dadurch deutlich, dass bei Geiselerschießungen, „Bandenbekämpfung“ und
Repressalien der Truppe Juden bevorzugt Opfer wurden. Fließend dazu war stets
die Bekämpfung der Partisanen. Die Opfer in der Dimension von bis zu 200.000
Toten hatte die Wehrmacht ebenfalls mehrheitlich nicht zu verantworten. Dennoch
war sie darin in ähnlicher Weise wie beim Vorgehen gegen die Juden verstrickt. Schließlich
beteiligte sich das Militär auch noch an der Deportation von Zwangsarbeitern in
der zweiten Hälfte des Krieges, die zum größten Teil aufgrund der Kriegslage
aus der Ukraine kamen.
Als
die Wehrmacht mit Einsetzen des effektiven sowjetischen Widerstands und schließlichen
Vormarsches aus militärischen Gründen auf eine Beruhigung des Hinterlands
drang, war es für eine grundlegende Wende längst zu spät. Ihr war inzwischen
nicht nur das operative Heft aus der Hand entglitten, sondern auch die Besatzungspolitik.
Ihr erzwungener Rückzug aus der Sowjetunion ging nochmals mit exzessiver Gewalt
und Massakern einher.
Ein
Heer von Zwangsarbeitern war aus dem Besatzungsgebiet deportiert worden, jeder zweite
russische Kriegsgefangene war tot, Hunderttausende von Zivilisten waren durch
Hunger, Seuchen und Gewalt ums Leben gekommen und die jüdische Bevölkerung war ausgerottet
worden. Pohl schätzt, dass über zwei Millionen Menschen auf das Konto der
Besatzung gehen. Nutznießer dieser auch innerhalb der deutschen Kriegsführung
außerordentlichen Orgie der Gewalt war das Regime Stalins, dessen Herrschaft
dadurch im Innern gefestigt und außenpolitisch aufgewertet worden war.
Das
Bedrückende an dieser Bilanz ist, dass diejenigen, in deren Befehlsbereich dies
geschehen ist, anders als in den Reichskommissariaten zum aller geringsten Teil
dezidierte oder gar fanatische Nationalsozialisten gewesen
sind. Pohl deutet das daher schwer verständliche Geschehen vor allem aus zwei Gemeinsamkeiten
von Regime und militärischer Führung: einem nationalistisch-rassistischen
Grundkosens und gemeinsamen stereotypen Feindbildern von Russen und
Kommunisten. Das überzeugt nur zum Teil. Darüber hinaus hätten berücksichtigt
werden müssen die von ihm ja zurecht anfangs herausgestellten und grundsätzlich
auch vor Ort nicht mehr revidierbaren Vorentscheidungen, die militärischen
Notwendigkeiten, auf die sich viele (und sicherlich nicht nur apologetisch) beriefen,
und die kollektivpsychische Lage: das Abstumpfen gegenüber Leid und Tod als Folge
von deren massenhaften Auftreten und schließlich nicht zuletzt die allgegenwärtige
Angst vor dem eigenen Tod.
Dieses
Buch überzeugt, wenn man es als eine Studie über die verbrecherischen
Auswirkungen der Besatzungsherrschaft der Wehrmacht liest. Darin liegt seine
Stärke, aber auch seine Schwäche. Diese hat zwei Wurzeln. Der Autor bemüht sich
erstens zwar um Differenzierung und Abwägung, doch nur gelegentlich und verbal.
Methodisch wäre es aber erforderlich gewesen, auch die angemessen zu
berücksichtigen, die eine andere Melodie singen. Wenn auch bei den Militärs,
die sich nach dem Krieg zu Wort meldeten, eine Portion Apologetik unterstellt
werden kann, so darf man sie deswegen nicht ganz unter den Tisch fallen lassen.
Noch weniger gilt dies für Erinnerungen von untergeordneten Offizieren und
Soldaten, die zur Selbstrechtfertigung viel weniger Grund hatten, und die nicht
selten ein anderes Bild von dem Verhältnis der Soldaten zur einheimischen
Bevölkerung zeichnen. Zum anderen überschreitet Pohl die Grenze von dem, was
bei seinem Ansatz möglich ist, wenn er aufgrund seiner Ergebnissen das gesamte
Ostheer „als Institution“ schuldig spricht, da es in ihm kaum eine Division gegeben
habe, die nicht an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sei. Ja er geht sogar
noch weiter, indem er glaubt schließen zu können, dass „alle Männer im Reich
zwischen 18 und 45 Jahren“ in „erheblichem Ausmaß“ „nazifiziert, führergläubig“
und rassistisch gewesen seien!
Die
Studie ist Teil der neueren Forschung, die gegen das Bild von der „sauberen
Wehrmacht“ vorgeht, das vorwiegend von ehemaligen Militärs gemalt wurde und die
deutsche Öffentlichkeit in der unmittelbaren Nachkriegszeit
beherrschte. Dass die Revision notwendig und berechtigt war, ist nicht mehr
ernsthaft zu bestreiten. Doch sind nicht wenige dieser Untersuchungen von zwei
methodischen Mängeln oft nicht frei. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der
Untaten glauben sie darauf verzichten zu können, auch die Täter und Beteiligten
hören zu müssen und zum anderen relativieren sie nicht die Position, von der
aus sie urteilen: nämlich aus der Warte dessen, der nie in vergleichbarer Lage
hat entscheiden müssen und die Bedingungen des Handelns besser durchschaut als
der, der aktuell in sie verstrickt war.
Eichstätt Karsten
Ruppert