Pagenkopf, Oliver, Die Hauptstadt in der deutschen Rechtsgeschichte (= Boorberg-Wissenschafts-Forum 11). Boorberg, Stuttgart 2004. 245 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Arbeit des Verfassers ist seine von einem ungenannten Betreuer begleitete, 2003 von der (juristischen Fakultät der) Universität Bonn angenommene Dissertation. Sie ist ausgelöst von der Frage nach der richtigen Hauptstadt, die nach der Herstellung der deutschen Einheit im Jahr 1990 entbrannte. War die Bundesrepublik Deutschland die wahre Erbin des Deutschen Reiches und damit Berlin als Hauptstadt des Deutschen Reiches auch die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland oder war Bonn 1949 vollständig an die Stelle Berlins getreten und die Präambel des Grundgesetzes von 1949 nur ein seinerzeitiges, von der Rechtswirklichkeit überholtes Wunschdenken?

 

Der Verfasser gliedert seine ausführliche Behandlung dieses Themas in insgesamt 15 Abschnitte. Dabei stellt er im Eingang mit Peter Häberle fest, dass 1990, als die Einigungsvertragsparteien vor der Aufgabe standen, die Sitznahmen der obersten Staatsorgane zu regeln und die Hauptstadt für den neuen Gesamtstaat zu bestimmen, Grundsatzstudien zum Hauptstadtproblem aus juristischer Sicht fehlten. Deswegen setzte er sich zum Ziel seiner Arbeit, diese Lücke zu schließen und die Hauptstadt als Rechtsbegriff zu ermitteln, um ihre juristische Bedeutung zu erkunden und als anzulegende Maßstäbe allein das Recht und seine Geschichte anzuwenden.

 

Von daher greift er anschließend auf das Heilige Römische Reich deutscher Nation zurück, das er zwischen die Jahre 800 und 1806 setzt. Dabei erkennt er für die Epoche des Hochmittelalters (ca. 800-1250), dass von der Art der Herrschaft Bestrebungen, ein festes Zentrum zu gründen, von vornherein ausgeschieden seien. Im Ergebnis hält er für das gesamte Heilige Römische Reich deutscher Nation fest, dass es in seiner tausendjährigen Geschichte keine Stadt hatte, die zum Mittelpunkt des Reichsleben wurde, wofür er als Grund anführt, dass im Spätmittelalter, als die Voraussetzungen zur Bildung fester Hauptorte entstanden, die Bedeutung des Reiches so geschwächt war, dass nur die Territorien Zentren für Verwaltungs- und Regierungsbehörden herausbilden konnten.

 

Im Anschluss hieran wendet der Verfasser sich dem Rheinbund und dem Deutschen Bund zu. Dabei schiebt er die Paulskirchenzeit und die Erfurter Union ein. Die praktische Bedeutung für die deutsche Hauptstadt bleibt aber naturgemäß gering, so dass erst mit dem preußisch bestimmten Norddeutschen Bund und dem Deutschen Reich von 1871 konkrete Entscheidungen von Gewicht getroffen werden konnten.

 

Im internationalen Vergleich mit Frankreich, Großbritannien, Russland, Polen, der Schweiz, den Vereinigten Staaten von Amerika, Brasilien, Kanada, Australien, Österreich, Belgien, Argentinien , Italien und Spanien gelangt er zur einmaligen Komplexität des deutschen juristischen Hauptstadtverständnisses. Wenig überraschend kann er aus der deutschen Rechtsgeschichte und der Durchsicht der von ihm verwerteten Literatur keinen einheitlichen und epochenübergreifenden Hauptstadtbegriff ermitteln, weil die Konstanz der in der geschichtlichen Entwicklung zu Grunde liegenden Wertungsmaßstäbe als Voraussetzung für das Erfassen eines juristischen Begriffes über mehrere Epochen hinweg fehle. Nur innerhalb einzelner Epochen habe es differenzierende Hauptstadtverständnisse gegeben, die - so wird man im Übrigen anfügen dürfen - wohl nur wenig auf Rechtsgründen beruht haben dürften, da trotz stetig zunehmender Verrechtlichung des menschlichen Lebens kein Ort von Natur aus ein Recht darauf haben kann, Schwerpunkt menschlicher Gestaltung zu sein.

 

Innsbruck                                                                                           Gerhard Köbler