NS-Raubgut in Bibliotheken - Suche. Ergebnisse. Perspektiven - Drittes hannoversches Symposium, hg. v. Dehnel, Regine (= Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderband 94). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. 242 S., zahlr. Abb. Besprochen von Hans-Michael Empell.

 

Das NS-Regime hat nicht allein Menschen systematisch verfolgt und ermordet, sondern sich auch deren Vermögen, zum Beispiel ihre Kunstwerke und Bibliotheken, angeeignet. Es waren vor allem die Juden, die ihrer Bücher beraubt wurden, aber auch politische Organisationen und Gewerkschaften, Kirchen und Klöster sowie die Freimaurer waren betroffen, und dies nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Seit etwa zehn Jahren wird der Bücherraub intensiver als zuvor erforscht. Zwei Ziele werden damit verfolgt. Zum einen soll ein bisher wenig behandeltes Kapitel der deutschen Geschichte durchleuchtet werden, an dem nicht zuletzt Bibliothekare aktiv beteiligt waren. Zum anderen wird versucht, die heute in den Bibliotheken aufbewahrten, aus dem Bücherraub stammenden Bestände ausfindig zu machen. So können die geraubten Bücher den Erben der früheren Eigentümer übergeben werden; zumindest aber wird es erleichtert, die Erinnerung an die Eigentümer wachzuhalten, indem die Bücher besonders gekennzeichnet, zum Beispiel separat aufgestellt, werden. Die Forschungsarbeit hat in einer Reihe von Publikationen und Kongressen ihren Ausdruck gefunden, darunter drei, im Auftrag der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsischen Landesbibliothek (Hannover) veranstaltete Symposien. Auf dem ersten Symposium (2002) wurde ein „Leitfaden“ für die Suche nach NS-Raubgut in Bibliotheken erarbeitet. Das wweite Symposium (2005) beschäftigte sich mit dem internationalen Aspekt der Suche. Der vorliegende Band enthält im Wesentlichen die Vorträge, die auf dem dritten Symposium gehalten wurden.

 

Der Band gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil umfasst außer einem „Grußwort“ des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Wolfgang Maurus, (S. 7ff.) und einem „Geleitwort“ von Georg Ruppelt, dem Direktor der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsischen Landesbibliothek, (S. 11ff.) eine instruktive „Einleitung“ der Herausgeberin Regine Dehnel (S. 15ff.) sowie einen Aufruf von Yochonon Berman, dem Hauptrabbiner der jüdischen Gemeinde von Pinsk (Belarus), der sich auf die Ermordung der in Stolin (im heutigen Belarus) lebenden Juden in den Jahren von 1941 bis 1943 bezieht. Bermans Ziel ist es, Informationen über den Verbleib der ihnen gehörenden Bücher und Handschriften zu erlangen, die für die Geschichte des chassidischen Judentums von herausragender Bedeutung gewesen sind.

 

Im zweiten Teil werden die „Organisatoren, Mittler und Nutznießer des Raubs“ behandelt. Cornelia Briel berichtet über die „Preußische Staatsbibliothek und die Reichstauschstelle als Verteilerinstitutionen beschlagnahmter Literatur“ (S. 29ff.). Ebenfalls die Preußische Staatsbibliothek betrifft der Beitrag Karsten Sydows: „Die Erwerbungspolitik der Preußischen Staatsbibliothek in den Jahren 1933 bis 1945“ (S. 45ff.). Werner Schroeder widmet sich dem „Raub von Kirchen- und Klosterbibliotheken durch den Sicherheitsdienst der SS, die Geheime Staatspolizei und den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (S. 57ff.). Das Thema Christiane Kullers lautet: „Die deutschen Finanzbehörden und die Bücher der Deportierten“ (S. 71ff.). Das Schicksal einer kleinen, in der Nähe von Hannover gelegenen Bibliothek verfolgt Hans-Dieter Schmid: „Auf der Suche nach der Bibliothek der israelitischen Gartenbauschule Ahlem“ (S. 85 ff.).

 

Der dritte Teil, der unter der Überschrift: „Identifizierung von Raubgut“ steht, umfasst Werkstattberichte aus einzelnen Bibliotheken. So behandeln Stefan Alker und Christina Köstner die „Erwerbungspolitik an der Universitätsbibliothek Wien während der NS-Zeit“ (S. 97ff.). Maria Kesting berichtet über das „NS-Raubgut in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky“ (S. 111ff.). Eike Christian Busch widmet sich dem Verbleib von Büchern aus Freimaurerlogen (S. 121ff.). In einem besonders eindrucksvollen Beitrag schildert Christiane Hoffrath das Schicksal der Schwestern Elise und Helene Richter, deren Haus ein kulturelles Zentrum Wiens gebildet hatte. Im Jahre 1941 wurden sie gezwungen, ihre Bibliothek zu verkaufen - an die Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Die Schwestern starben 1942 bzw. 1943 in Theresienstadt (S. 127ff.). Almut Hielscher befasst sich mit dem Verbleib der Bibliothek des Verlagsbuchhändlers Geca Kon in der Bayerischen Staatsbibliothek München (S. 139ff.). Elke Pophanken schreibt über beschlagnahmte Bücher in der Universitäts- und Landesbibliothek Münster (S. 143 ff.), während Heike Tröger sich mit einem vergleichbaren Thema im Hinblick auf die Universitätsbibliothek Rostock beschäftigt (S. 157ff.).

 

Der vierte Teil steht unter der Überschrift „Neue Facetten und Sichtweisen des Themas“. Zunächst stellt Jim G. Tobias die Geschichte der Bibliotheken in den jüdischen Displaced Persons Camps nach 1945 dar (S. 163ff.). Von herausragender Bedeutung ist der Beitrag Jürgen Webers: „NS-Raubgut und hidden collections – Herausforderungen für ein neues Sammlungsmanagement“ (S. 175ff.). Der Autor stellt fest, die Bilanz der bisher durchgeführten „NS-Raubgutforschung“ sei „blamabel“. Von 3000 relevanten Bibliotheken, Archiven, Museen und öffentlichen Verwaltungen hätten bis Oktober 2007 lediglich 612 Institutionen Recherchen angestellt; 545 hätten angegeben, keine Anhaltspunkte für unrechtmäßige Erwerbungen entdeckt zu haben. Weber fordert, die Bibliotheken sollten über die Formalerschließung (bibliographische Beschreibung) und die Sacherschließung hinaus ihre Bestände (oder zumindest Teile davon) in der Weise durchleuchten, dass die Geschichte eines jeden einzelnen Buches, einschließlich seiner früheren Zugehörigkeit zu anderen Sammlungen, offen gelegt wird. Auf einer solchen Grundlage wäre es dann leichter möglich, auch NS-Raubgut zu identifizieren. Stefan Lutz schildert Schwierigkeiten bei der „Rückgabe geraubter Bestände der Verlagsbuchhandlung Geca Kon in der Bayerischen Staatsbibliothek München“ (S. 185ff.). Schließlich behandeln Liliana Ruth Feierstein und Liliana Furman das rechtshistorisch interessante Thema „Raub und Restitution in den jüdischen Quellen“ (S. 199ff.). Abgeschlossen wird der Band durch Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren (S. 215 ff.) sowie durch nützliche Personen-, Orts- und Sachregister (S. 221ff.).

 

Die Beiträge sind durchweg gut geschrieben und instruktiv. Mehreren Aufsätzen sind fotografische Abbildungen beigefügt. Es werden nicht abschließende Ergebnisse präsentiert, sondern aufschlussreiche Einblicke in einen Forschungsprozess gewährt.

 

Heidelberg                                                      Hans-Michael Empell