Müßig, Ulrike, Die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts. Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. XI, 167 S. Besprochen von Adolf Laufs.
Die ebenso konzise wie literarisch reich belegte Monographie bietet mehr als ihr Titel verheißt: sie führt tief ins 19. Jahrhundert, zur Rezeption der europäischen Verfassungsdiskussion im europäischen Liberalismus, zu einem im Verhältnis zwischen Monarch und Parlament offenen Konstitutionalismus. Diese Offenheit zeige, „daß es Verfassungsgeschichte nicht mit statischen Ordnungszusammenhängen der Herrschaftsbegründung und –begrenzung zu tun hat, sondern das Kräfteverhältnis der Verfassungsgrößen in Bewegung und im Wandel ist“. Die Autorin erkennt – im Anschluss an Rainer Wahl – die Verfassungsgeschichte als „Bewegungsgeschichte“. Damit bestätigt sich zugleich das Programm ihrer Studie zur europäischen Verfassungsdiskussion im 18. Jahrhundert.
In jenem Jahrhundert erfuhr – dank der amerikanischen Revolution – der Begriff der Verfassung seine kennzeichnende juristische Ausprägung – als Rechtstext, der die politische Ordnung als Rechtsordnung in Form brachte. Dabei entsprachen die Inhalte und das Gefüge den politischen und ideologischen Staats-, Rechts- und Gesellschaftslehren, die der europäische Verfassungsdiskurs überlieferte und erzeugte. Die Autorin folgt ihm, nicht indem sie ihre Schrift nach den Inhalten und Institutionen aufbaut, sondern indem sie – didaktisch geschickter – die einzelnen Länder, selbstverständlich unter Einschluss Nordamerikas, nacheinander in den Blick nimmt und die politischen Denker in zeitlicher Abfolge ins Spiel bringt. Praxis und Tradition lassen sich nicht ausblenden, bestimmen vielmehr die „Verfassungskultur“ (Peter Häberle) mit. Herrschaft als von der Verfassung konstituierte Staatsgewalt hängt gewiss ab von Denkweisen und Anschauungen, aber ob sie „nur bei Zustimmung der Beherrschten funktioniert“, erscheint doch wohl zweifelhaft.
Am Beginn steht die englische Rechtsschutzdebatte um die Bill of Rights mit Blackstone. Locke, Bolingbroke, De Lolmes, Burke, Hume und Bentham. Es folgt Amerika mit der Ausbildung des modernen Verfassungsbegriffs und der begrifflichen Unterscheidung zwischen dem Verfassungsrecht und dem sonstigen Recht. Dann erscheinen Paines Common Sense als Musterbeispiel der amerikanischen Argumentation gegen Westminster, Smiths Manifest nutzenbezogener Interaktion gegen den Merkantilismus, schließlich eine Würdigung des Verfassungstextes von 1787. In Frankreich geht es um „Freiheit durch Teilhabe an der Gesetzgebung (Nationalrepräsentation)“. Die Autorin erörtert Voltaires Interesse an der englischen Verfassung, Montesquieus Eintreten für aristokratische pouvoirs intermédiaires, das Naturrecht der Encyclopädisten, Rousseaus volonté général, Sieyes’ Nationalrepräsentation, den universalen Friedensgedanken der Aufklärer, die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 und die Septemberverfassung 1791, endlich die - Volkssouveränität und Staatsautorität verbindende - Direktorialverfassung des Jahres 1795.
Die deutsche
Aufklärung suchte nicht die Monarchie durch Untertanenrechte zu beschränken,
Ziel ihrer Staatsräson war vielmehr die Reform von oben. Das Buch verfolgt die
geistigen Linien über die Pflichtenlehren von Pufendorf, Thomasius und Wolff,
auch den - durchaus zu knapp bemessenen - Beitrag der Reichspublizistik.
Breiteren
Der Reiz des Werkes liegt einmal im weiten Blick auf Europa, auch wenn dieser manchen verfassungshistorischen Zug zumal der deutschen Vergangenheit im einzelnen unbedacht lassen muss, zum anderen im überzeugenden Aufweis einer nicht zum Stillstand kommenden Dynamik durch sich wechselseitig bedingende „Offenheit der Verfassungsstrukturen und Konsensprägung des Kräftemessens in der Verfassungspraxis“. Die Lektüre belehrt und erfrischt. Das Buch empfiehlt sich auch jungen Lesern: den Studentinnen und Studenten der Verfassungs- und Rechtsgeschichte.
Heidelberg Adolf Laufs