Miederhoff, Thorsten, Man erspare es mir, mein Juristenherz auszuschütten. Dr. iur. Kurt Tucholsky (1890-1935). Sein juristischer Werdegang und seine Auseinandersetzung mit der Weimarer Strafrechtsreformdebatte am Beispiel der Rechtsprechung durch Laienrichter (= Rechtshistorische Reihe 369). Lang, Frankfurt am Main 2008. 301 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Längst hat der Schriftsteller und promovierte Jurist Kurt Tucholsky die Aufmerksamkeit der Rechtswissenschaft gefunden. Über sein Werk liegen inzwischen etliche Arbeiten aus der Feder belletristisch interessierter Juristen vor. Ganz zu schweigen von literaturwissenschaftlichen Studien. Hinreichend bekannt ist deshalb nicht zuletzt, ein wie entschiedener Kritiker der Justiz und Richter der Weimarer Republik er war. Von konservativer Seite ist ihm ja attestiert worden, einer der literarischen „Totengräber“ jenes Staates und seiner Verfassung gewesen zu sein. Doch haben seine Kritiker wohl nicht hinreichend zur Kenntnis genommen, wie traditionsverhaftet, ja autoritär viele Richter jener Epoche gewesen sind, die in ihrem Denken und Handeln der wilhelminischen Ära weit näher gestanden haben als der jungen Demokratie, die ihnen als freiheitliche Staatsform ebenso fremd geblieben ist wie die Grundsatzkritik linker Autoren, die sich mit einer rechtslastigen Justiz - namentlich in politischen Strafsachen - partout nicht abfinden konnten und mochten.

 

Gleichwohl sind wichtige Abschnitte der Biographie und Themen des einschlägigen Lebenswerks Tucholskys weitgehend im Dunkel geblieben. Das gilt namentlich für sein Rechtsstudium und seine literarische Auseinandersetzung mit der Laienbeteiligung im Strafprozess der Weimarer Epoche. Thorsten Miederhoff schließt mit seiner Münsteraner Dissertation (2007) diese in der Tat auffälligen Lücken. Die überaus gründliche und detailreiche Arbeit fußt auf Archivstudien, die der Verfasser zu diesem Zweck namentlich an der Humboldtuniversität Berlin, der Friedrich-Schiller-Universität Jena, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach - wo das „Kurt-Tucholsky-Archiv“ aufbewahrt wird - und an der Tucholsky-Forschungsstelle der Universität Oldenburg Archivstudien betrieben hat. Sie zeichnet in ihrem ersten Teil den juristischen Werdegang des Schriftstellers nach, um dann im zweiten Teil die zahlreichen Beiträge Tucholskys zur „Volksjustiz“ vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Rechtsentwicklung chronologisch darzustellen. Das umfangreiche WerkTucholskys - das anders, als es bei Kafka der Fall ist,  außer seiner Dissertation keine juristischen Fachtexte aufweist - erscheint seit 1996 bei Rowohlt in einer auf 22 Bände angelegten Gesamtausgabe.

 

Einleitend lässt Miederhoff  die bisher über den Schriftsteller erschienenen Arbeiten Revue passieren, die ihren Schwerpunkt eindeutig im justizkritischen Wirken haben (und die in der Dissertation behandelten Fragestellungen allenfalls streifen). Tucholsky hat sich dem Vernehmen nach schon früh für das Strafrecht interessiert. Wie viele seiner Altersgenossen hat er sich für das Jurastudium entschieden. Ein als Rechtsanwalt tätiger Onkel, der zugleich künstlerischen Interessen nachging, scheint ihm zeitweilig wenigstens eine Art  Vorbild für die Verbindung von juristischem Brotberuf und Schriftstellerei gewesen zu sein. Noch während des 1909 an der Universität Berlin begonnenen Rechtsstudiums hat er Ambitionen für eine Strafverteidiger-Tätigkeit geäußert. Der früh, bereits 1905, verstorbene Vater - der als Bankier tätig gewesen war  hatte durch die Bildung von Rücklagen für die berufliche Ausbildung seines Sohns vorgesorgt. 1910 nahm Tucholsky ein Auslandssemester in Genf wahr, um anschließend wieder an die Berliner Universität zurückzukehren. Von 1911 an war er zugleich schriftstellerisch tätig; er veröffentlichte regelmäßig Beiträge im „Vorwärts“, „Prager Tagblatt“ und „Pan“.

 

Doch tritt Miederhoff der verbreiteten „These vom oberflächlichen Studenten“ entgegen (S. 59). Namentlich Franz von Liszt hat Tucholsky als Rechtslehrer offenbar mehr als jeder andere Professor beeindruckt. Nach Ablauf seines dreijährigen Studiums begann der junge Student 1912 mit der Examensvorbereitung, die er - wiederum den Gepflogenheiten entsprechend - beim Repetitor absolvierte. 1913 meldete er sich zum Referendarexamen an, trat aber während der Anfertigung der Hausarbeit wohl aus der Furcht heraus, die Prüfung beim überaus strengen Kammergericht nicht zu bestehen, vom Examen zurück. Damit gab er sein ursprüngliches Vorhaben, einen juristischen Beruf zu ergreifen, auf. Aber immerhin verfolgte er das Ziel zu promovieren, in der Folgezeit weiter. In dieser Zeit war er nicht nur in bemerkenswertem Umfang schriftstellerisch tätig, sondern beschäftigte sich auch eingehend mit den Schriften des Freirechtlers Ernst Fuchs.

 

Nach seinem Rücktritt baute Tucholsky das Thema seiner Hausarbeit zu einer Dissertationsschrift (über „Die Vormerkung aus § 1179 BGB und ihre Wirkungen“) aus, die er dann, 1914, als sog. „Externer“ nach offizieller Ablehnung der Erstfassung in überarbeiteter Form an der Universität Jena einreichte. Er wurde dort 1915 - nach Ablegung der mündlichen Prüfung und Drucklegung der Arbeit - „cum laude“ promoviert. Für die verbreitete Annahme, ihm sei nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten im Zusammenhang mit der Ausbürgerung 1933 auch der Doktorgrad entzogen worden, hat der Verfasser keine Belege finden können (S. 144).

 

Mit seiner ausführlichen Darstellung der Studienzeit Tucholskys liefert der Verfasser zugleich eine plausible Erklärung für die ausgiebige Beschäftigung des Schriftstellers mit Recht und Justiz in seinem literarischen und journalistischen Werk. Zwischen 1912 und 1932 sind nicht weniger als rund 200 Zeitungsartikel und Gedichte mit Rechts- und Justizbezug entstanden (S. 151). Namentlich in der Weimarer Epoche hat sich Tucholsky als Kritiker der „politischen Justiz“ einen Namen gemacht. Seine an Schärfe kaum zu überbietenden Anklagen richteten sich vor allem gegen eine konservative Richterschaft, die sich großenteils noch der Monarchie verbunden fühlte und ablehnend gegen den neuen Verfassungsstaat eingestellt war. Ihr schrieb er denn auch die „rechtslastige“ Rechtsprechung zu. „Seine Kritik an Schöffen und Geschworenen galt dagegen weniger den Laienrichtern schlechthin, sondern war Teil seiner Auseinandersetzung mit der bestehenden Form der Laienbeteiligung.“ (S. 172) Indessen gab ihm die Entscheidung, die 1922 im Schwurgerichtsverfahren im  „Fall Harden“ erging und die für ihn ein Fehlurteil war, Anlass, mit den Geschworenen schärfstens abzurechnen. Freilich galt seine Kritik in erster Linie den beiden damals besonders umstrittenen Problemen: der Auswahl der Laienrichter und den Fragen, die nach der Beweisaufnahme an sie zu richten waren. Das kommt in den beiden Feststellungen Tucholskys zum Ausdruck: „Diese Geschworenengerichte sind keine Volksgerichte“(S. 181). „Sie [die Geschworenen - H. M.-D.] beantworten die Fragen fast ohne Kenntnis der rechtlichen Folgen“ (189).

 

Nach Inkrafttreten der „Lex Emminger“ von 1924 - die das Schwurgericht alter Prägung abschaffte - setzte Tucholsky seine Kritik an der Laiengerichtsbarkeit unter freilich anderem Vorzeichen fort. Nunmehr erblickte er eine wesentliche Gefahr für eine unabhängige Justiz in der Beeinflussung von Laienrichtern durch die Berufsrichter während der gemeinsamen Beratung des Urteils. Er sah sie zu „Statisten“ degradiert. Ganz im Sinne linksgerichteter Tendenzen, die sich entschieden gegen die „Klassenjustiz“ wandten, trat er für eine Stärkung der Laienrichter gegenüber den Berufsrichtern ein. Dem sollten namentlich Schulungen für Schöffen und Geschworene dienen. 1929 veröffentlichte er in der „Weltbühne“ „sein berühmt gewordenes ‚Merkblatt für Geschworene’“, das Laienrichter vor Vorurteilen gegenüber Angeklagten bewahren und zu einem selbstbewussten Auftreten gegenüber Berufsrichtern anhalten sollte (S. 236).

 

In zahlreichen Gerichtsreportagen nahm Tucholsky seit Beginn der 20er Jahre kritisch zur Tätigkeit und Stellung von Schöffen und Geschworenen im Strafverfahren Stellung. Daraus wurde verschiedentlich auf eine generell ablehnende Haltung des Schriftstellers gegenüber einer Laienbeteiligung im Strafverfahren geschlossen. Miederhoff gelangt aufgrund seines detailliert aufbereiteten Materials indessen zu einem differenzierteren Befund: „Tucholskys Laienrichter-Kritik verband sich von Anfang an mit einer grundsätzlich positiven Einstellung zur Laienbeteiligung im Strafprozess.“ Dafür würde vor allem die zweite Hälfte der 20er Jahre beweiskräftige Belege liefern (S. 239). Seine „Systemkritik“ beruhte namentlich auf der ursprünglichen Vorstellung vom „Volksgericht“.

 

Miederhoff hat dank seiner gründlichen Auswertung sowohl des archivalischen Materials als auch der einschlägigen Texte Tucholskys und seiner sorgsam abwägenden Analyse verschiedene Korrekturen an gängigen Darstellungen der Biographie und des justizkritischen Werkes anzubringen vermocht. Dies gilt ungeachtet mancher „Leerstellen“ und offenen Fragen, die auf Lücken in den vorhandenen Unterlagen zurückzuführen sind, sowie bei aller offenkundigen Sympathie für jenen Autor, der selbst nicht selten wegen seiner gnadenlos wirkenden Schärfe Kritik herausfordert. Insofern trägt die sorgfältige Studie dazu bei, dem bisherigen Bild des Schriftstellers genauere Konturen zu verleihen und ihm dadurch auch stärker gerecht zu werden.

 

Saarbrücken                                                                                       Heinz Müller-Dietz