Mazower, Mark, Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, aus dem Englischen v. Richter, Martin. Beck, München 2009. 666 S., 37 Abb., 9 Kart. Besprochen von Werner Schubert.
Die Rechtsgeschichte hat sich bisher nicht zusammenhängend mit den Plänen des Nationalsozialismus zur Neuordnung Europas insbesondere in den Jahren 1940/1941 und mit den rechtlichen Aspekten des Besatzungsregimes in den europäischen Staaten und Regionen befasst. Das Werk von Mazower, Direktor des Center for International History der Columbia University in New York City, befasst sich mit dieser Thematik aus allgemeinhistorischer Sicht unter breiter Einbeziehung der Unrechtspraxis des nationalsozialistischen Regimes zwischen 1939 und 1949. Mazower beschäftigt sich in Teil I seines Werks: „Der Weg nach Großdeutschland“ (S. 27-236) zunächst mit dem Verhältnis der Deutschen gegenüber den Slawen, dem Weg von Versailles nach Wien (Anschluss Österreichs 1938) und der Expansion und Eskalation in den Jahren von 1938 bis 1940 sowie anschließend mit der polnischen Teilung, dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und dem sog. Generalplan Ost (1940-1942). Teil II handelt unter der Überschrift: „Die Neue Ordnung“ (S. 247-498) von den einzelnen Aspekten der deutschen Besatzungs-, Ausbeutungs- und Vernichtungspolitik und von den von der Berliner Ministerialbürokratie 1940 bis 1942 verfolgten Plänen zur Bildung eines deutsch-europäischen Wirtschaftsraums (S. 119ff.), die sich u. a. mit der Frage gemeinsamer Zölle auf außereuropäische Importe und der gegenseitigen Ergänzung der Volkswirtschaften Europas befasste (zur Vereinheitlichung des europäischen Patentrechts vgl. W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht 1933-1955, Bd. IX, Frankfurt am Main 1999, S. 495ff.).
Eine völkerrechtlich fundierte Besatzungspolitik scheiterte jedoch an der SS und dem Wiederaufstieg der NSDAP 1942/43. Best (seit 1942 Reichsbevollmächtigter für Dänemark) hatte noch 1942 vier mögliche Arten der Verwaltung eines Großraums nach NS-Prinzipien herausgestellt: Bündnis-Vertrag, Aufsichts-Verwaltung (Frankreich, Belgien, Niederlande), Regierungs-Verwaltung (Protektorat Böhmen und Mähren) und Kolonialverwaltung (Generalgouvernement; S. 219f.). Mit Best (1941 noch Leiter der allgemeinen Verwaltung beim Militärbefehlshaber in Frankreich) hatte Heydrich 1942 gebrochen, da er, so in einem Brief an Daluege am 30. 10. 1941 „entschlossen gewesen sei, sein Konzept der ,Polizeiverwaltung’ gegen Best und das ,Regiment der Juristen’ durchzusetzen“. Es sei darum gegangen, „ob ,die Juristen’ – Männer wie Best – die ,führende’ oder nur die ,beratende’ Funktion in allen Fragen haben sollten“ (S. 225). Absoluten Vorrang hatten, wie Mazower ausführlich entwickelt, ideologische Ziele des Nationalsozialismus (Judenvernichtung, Degradierung der Polen, Russen und Ukrainer, Germanisierung des Ostens) zur Schaffung eines europäischen Großraums. In den entscheidenden Monaten (Ende 1941/Anfang 1942) scheiterten die Pläne der Nationalsozialisten an ihrem „Talent“ für „Verschwendung und Unkompetenz“ und an „Hitlers strategischen Fehlern und der Unfähigkeit des Regimes, Ressourcen ebenso wirksam in Waffen zu verwandeln wie seine Feinde“ (S. 298). Mazower stellt immer wieder auch die nationalsozialistischen Kritiker an den Plänen Hitlers und Himmlers dar, die sich allerdings, wenn überhaupt, nur sehr begrenzt von der Rassenideologie des Nationalsozialismus freimachen konnten. In diesem Zusammenhang weist er wiederholt auf den Verwaltungsfachmann und Staatssekretär des Reichsministeriums des Innern (seit 1943 dessen Minister) Wilhelm Stuckart hin, dessen Biographie noch nicht geschrieben ist. Breiten Raum nehmen die Maßnahmen und Pläne des Generalgouverneurs des besetzten Polens Hans Frank ein, der einerseits eine gnadenlose Vernichtungspolitik gegenüber den Juden und Polen betrieb, andererseits aber auch ein „koloniales Rechtssystem“ aufbauen wollte (S. 252). Mazower erwähnt auch die Reden Franks an vier deutschen Universitäten im Sommer 1942 über das „Recht als Grundlage der Volksgemeinschaft“ (S. 234), in denen er darauf hinwies, dass Juristen „immer noch … besser als jede Form des Polizeistaats“ seien. Wichtige rechtshistorisch relevante Fragen behandelt Mazower hinsichtlich der Beschaffenheit der Rohstoffe, der Währungspolitik (S. 258) und insbesondere mit der „Kolloberation“ mit Frankreich (S. 383ff.), ohne dass der Nationalsozialismus eine „gesamteuropäische Strategie“ (S. 260) zu entwickeln vermochte. Mit Recht weist Mazower in Übereinstimmung mit Eugen Erdely darauf hin, dass bereits die Maßnahmen gegenüber der Tschechoslowakei 1938/39 das „erste deutsche Kolonialstatut in der modernen Geschichte für eine weiße und zivilisierte Nation“ gewesen seien (S. 66). Von rechtlichem Interesse sind auch die Fragen der Gestaltung der deutschen Polenpolitik (S. 182ff.; hierzu auch W. Schubert, Akademie für Deutsches Recht, Bd. XIV, Frankfurt am Main 2002, S. 471ff.). Nicht detailliert beleuchtet wird die rechtliche Seite der Beziehungen zwischen Deutschland und Italien; auch das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Justiz wird nur kurz angesprochen.
Im Schlussteil (S. 509ff.) geht es um die Nachwirkungen der vom Nationalsozialismus und der Berliner Ministerialbürokratie verfolgten, jedoch zu wenig detailliert dargestellten Europakonzepte und um die personellen Kontinuitäten bei den deutschen Politikern und Beratungen beim Aufbau der europäischen Integration (S. 225). Das Werk enthält am Schluss ein aussagekräftiges Sach- und Personenregister. Nützlich wäre es gewesen, wenn das Inhaltsverzeichnis auch die Zwischenüberschriften innerhalb der einzelnen Kapitel wiedergegeben hätte. Insgesamt gibt das spannend geschriebene, wenn auch bedrückend zu lesende Werk Mazowers einen guten Überblick über die Großraumpläne des Nationalsozialismus für eine Neuordnung in Europa und – unter Einbeziehung auch „anderer Besatzungen“ (Ungarn, Rumänien; S. 306ff.) – die Verwaltungs- und Besatzungspraxis der Jahre 1939 bis 1945. Die Untersuchungen Mazowers zeigen, dass die Beschäftigung mit den von ihm behandelten Aspekten der nationalsozialistischen Herrschaft auch aus rechtshistorischer Sicht – und zwar auch aus Kontinuitätsgesichtspunkten – lohnend sein dürfte.
Kiel |
Werner Schubert |