Marx-Jaskulski, Katrin, Armut und Fürsorge auf dem Land - vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 (= Moderne Zeit 16). Wallstein, Göttingen 2008. 479 S., Ill. Besprochen von Werner Schubert.

 

Rechtliche Grundlage der Fürsorgeunterstützung war von 1870 bis 1924 in Preußen das Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. 6. 1870 i. V. m. dem Ausführungsgesetz vom 8. 3. 1871 zu diesem Gesetz. Den Unterstützungswohnsitz als Prinzip für die Verteilung der Armenlasten hatte bereits das preußische Gesetz vom 31. 12. 1842 über die Verpflichtung zur Armenpflege festgelegt. Ersetzt wurde nur dieses Prinzip durch das Aufenthaltsprinzip entsprechend der Verordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. 2. 1924, die ergänzt wurde durch die „Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge“ vom 4. 12. 1924 (S. 204f.), die dem Bedürftigen aber immer noch keinen Anspruch auf Fürsorgeunterstützung gewährte. Träger der Armenunterstützung waren die Ortsarmenverbände, d. h. die einzelnen Gemeinden, deren Vertretungskörperschaften über die jeweils zu gewährenden Unterstützungen entschieden (vgl. S. 72ff.). Die Praxis dieser Gesetze ist für den ländlichen Bereich bisher kaum erschlossen worden. Marx-Jaskulski untersucht anhand der Akten der Fürsorgeverwaltung von zwei Bürgermeistereien des Kreises Bernkastel und von Beschwerdeentscheidungen des Kreisausschusses von Wittlich – diese Kreise bilden heute den Landkreis Bernkastel-Wittlich (Rheinland-Pfalz) – für die Zeit von 1900-1933 die Voraussetzungen, unter denen eine Fürsorgeunterstützung bewilligt wurde. Auf der Grundlage der Fallakten erschließt sie den Umgang der kommunalen Fürsorgeverwaltung und der Bedürftigen mit den gesetzlichen Handlungsmöglichkeiten.

 

Nach einem Abschnitt über das Untersuchungsgebiet geht Marx-Jaskulski auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Finanzierung der Fürsorgeleistungen näher ein (S. 72ff.). Eine wichtige Rolle spielten die Bedürfnisprüfung, die sehr restriktiv gehandhabt wurde, und die Festsetzung des „unentbehrlichen Unterhalts“ (preuß. Gesetz v. 6. 6. 1870). Die Art und die Höhe der Unterstützungsleistungen lagen weitgehend im Ermessen der Gemeinden. Hinzugezogenen Personen, die bereits verarmt waren, konnte die Unterstützung verweigert werden, während die Besorgnis künftiger Verarmung den Gemeindevorstand nicht zur Zurückweisung berechtigte (Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. 11. 1867, § 4 Abs. 2), eine Regelung, welche die Gemeinden wenig beachteten (S. 97ff.). Die Entscheidungsträger bezogen sich zur Ablehnung von Leistungen nicht selten auf die mangelnde „Unterstützungswürdigkeit“ oder die „selbstverschuldete Armut“, die allein zur Ablehnung eines Antrags jedoch nicht berechtigten (S. 87f.). Erst in der Weimarer Republik entstand für Arbeitslose ein Unterstützungssystem mit der Erwerbslosenfürsorge und dem späteren Arbeitslosengeld. Wer keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung mehr hatte, unterfiel als Wohlfahrtserwerbsloser der allgemeinen Armenfürsorge (S. 359ff.). Nicht selten machten die Gemeinden eine lebenslängliche Versorgung alter Menschen von der Bestellung von Sicherungshypotheken oder von der Abtretung von Renten abhängig (S. 83). Zu der Unterstützung der Armen durch die Gemeinden kamen noch andere Formen der Unterstützung hinzu, wie Darlehensgewährung aus den Armenspenden (Stiftungen), die allerdings mit der Inflation 1923 entwertet waren (S. 169ff.). Zur rechtlichen Konstruktion der Armenspenden hätte man gerne noch etwas mehr gelesen. Hinzu kam die Zusammenarbeit mit den konfessionellen Fürsorgeeinrichtungen (S. 176ff.). In einem eigenen Abschnitt untersucht Marx-Jaskulski die Verwaltungsvorgänge, die Verwaltungspraxis und den Usus der Antragstellung in der öffentlichen Fürsorge (S. 140ff.). Ein weiteres Kapitel gilt den fürsorgerischen und wohlfahrtspflegerischen Neuerungen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg (S. 204ff.). Weitere Abschnitte befassen sich mit den Überlebensstrategien von Armen (S. 242ff.), der Armut im biographischen und lebensweltlichen Kontext (S. 288ff.) und der Wahrnehmung von Armen im dörflichen Gefüge (S. 377ff.). Im Vergleich zu den Städten unterstützten die ländlichen Gemeinden im Untersuchungszeitraum nur wenige Personen (0,5-0,8% der Bevölkerung im Vergleich zu den Großstädten mit 5,6-8% Unterstützungsempfängern; S. 115ff.). Ein „geregeltes Armenwesen“ habe den Gemeinden, so die Verfasserin, im Interesse der Schonung der Finanzen nicht sonderlich am Herzen gelegen (S. 416). Dies änderte sich auch mit der neuen Programmatik der Fürsorge in der Weimarer Zeit nicht wesentlich, zumal trotz der Einrichtung von Bezirksfürsorgeverbänden die Entscheidungen weiterhin vor Ort fielen (S. 206ff.).

 

Die Untersuchungen Katrin Marx-Jaskulskis lassen grundsätzlich generalisierbare Aussagen zu, da die Verfasserin immer wieder zeitgenössische Untersuchungen zum ländlichen Armenwesen und zu dessen Gestaltungen in anderen Kommunen heranzieht (vgl. S. 416). Das Werk ermöglicht dem Rechtshistoriker einen detaillierten Einblick in die Handhabung der Fürsorgegesetzgebung in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und während der Weimarer Zeit. Das sozialhistorisch orientierte, interessant geschriebene Werk Marx-Jaskulskis liefert für gesetzgebungs- und strukturgeschichtliche rechtsgeschichtliche Arbeiten zum neuzeitlichen Fürsorgerecht (vgl. hierzu die umfassende Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik, Bd. 7: Armengesetzgebung und Freizügigkeit [1867-1881], hrsg. von Chr. Sachße/F. Tennstedt/E. Roeder, Karlsruhe 2000), die allerdings noch immer weitgehend ausstehen, das notwendige Anschauungsmaterial in hervorragendem Maße, zumal die Verfasserin in voller Breite auch die fürsorgerechtlichen Normen und die diesen zugrunde liegende juristische Spezialliteratur herangezogen hat (vgl. S. 74f.).

 

Kiel

Werner Schubert