Longerich, Peter, Heinrich Himmler. Biographie. Siedler, München 2008. 1035 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Im Jahr 2000 hat Johannes Tuchel aus Anlass einer von ihm selbst erstellten biographischen Skizze zu Leben und Wirken Heinrich Himmlers eine wissenschaftliche Biographie als „ein Desiderat der Forschung“ eingemahnt. Nun, immerhin acht Jahre später, hat Peter Longerich mit dem vorliegenden voluminösen Band diese Lücke geschlossen.

 

Das mag einigermaßen erstaunen, ist doch der Reichsführer-SS nach Adolf Hitler zweifellos jener Exponent des Dritten Reiches, dessen Wirken die Ideologie und die politische Realität des nationalsozialistischen Herrschaftssystems am stärksten geprägt hat. Der totalitäre Maßnahmenstaat ist ebenso untrennbar mit seinem Namen verknüpft wie das Konzept eines rassistischen Imperialismus, das mit der Ermordung von Millionen von Menschen einherging. Weshalb also dieser späte Zugang?

 

Longerich selbst schreibt in seinem Dankwort (S. 771), er habe die letzten zehn Jahre an dem Buch gearbeitet. Diese extensive Genese ist dem Werk in jeder Hinsicht gut bekommen. Denn neben der Nutzung der einschlägigen deutschen und US-amerikanischen Archive konnte der Verfasser vor allem auch auf ungedrucktes Quellenmaterial aus Moskauer Beständen zurückgreifen; dazu kommt eine genaue Beschäftigung mit dem erst 1999 veröffentlichten Dienstkalender Himmlers, der für die entscheidenden Jahre 1941/42 nicht nur als Itinerar, sondern auch in thematischer Hinsicht von wesentlicher Bedeutung ist. Der Zugriff auf diese Basis war den Verfassern älterer Skizzen (wie Frischauer 1953; Wulf 1960; Fest 1963; Fraenkel/Manvell 1965; Höhne 1967; Padfield 1990; Breitman 1996) noch verwehrt.

 

Gestützt auf ein solides Materialfundament entwickelt Peter Longerich seine Arbeit in einer Weise, die in ihrer Verschränkung des Persönlichen mit den entscheidenden zeitgenössischen politischen Entwicklungen nur als mustergültig bezeichnet werden kann. Während die bisherige Forschung die verschiedenen Tätigkeitsbereiche des heterogenen SS-Apparates weitgehend isoliert voneinander betrachtet hat, weist Longerich erstmalig dessen integralen Charakter nach, indem er überzeugend darstellt, wie Himmler es mit Zähigkeit, Machtinstinkt und Gespür für das jeweils Mögliche und Notwendige verstanden hat, die heterogenen Elemente seines Imperiums durch die Ausrichtung auf neue Zielvorgaben immer wieder so zu positionieren, dass dessen Kohärenz jeweils gefördert und seine Schlagkraft insgesamt gesteigert werden konnte.

 

Wenig Ungewöhnliches kennzeichnet zunächst die Kindheit und Jugendjahre des aus gutbürgerlichen katholischen Verhältnissen stammenden späteren Reichsführers. Longerich zeichnet das Bild eines kontaktgehemmten jungen Mannes, der sich in den Wirren der Nachkriegsjahre primär über sein Selbstverständnis als „verhinderter“ Weltkriegskämpfer und die Lektüre germanophiler Schriften zu definieren suchte und damit in den Dunstkreis der sich eben entwickelnden Hitler-Bewegung geriet. Am missglückten Putsch von 1923 persönlich beteiligt, entschied sich Himmler ein Jahr später in Ermangelung realistischer beruflicher Perspektiven für eine Rolle als hauptamtlicher Agitator in den Diensten Gregor Straßers. Ob seiner typischen ausgeprägten Neigung zur Kontrolle und zu einem schulmeisterlichen, oft jede Höflichkeit außer Acht lassenden Ton gegenüber den Dienststellen der Partei, hielt sich seine Popularität dort in Grenzen. Später für Goebbels tätig, ermöglichte ein Reichstagsmandat 1930 dem mittlerweile zum Ehemann und Familienvater gewandelten Himmler zum einen erstmalig eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit, zum anderen die volle Konzentration auf eine Aufgabe: den Ausbau der von ihm ein Jahr zuvor übernommenen, zahlenmäßig noch wenig bedeutenden Schutzstaffeln (SS).

 

Im Zentrum eines „historisch einmaligen politischen Radikalisierungs- und Mobilisierungsprozesses zugunsten der NSDAP“ (S. 148) agierend, gelang ihm die Schaffung der entsprechenden organisatorischen Strukturen zur gezielten Umleitung geeigneter Aspiranten zur SS und die Abgrenzung zur wankelmütigen SA durch das Betonen der unbedingten Treue der SS zur Parteiführung. Unter diesen Vorzeichen entwickelte sich im Laufe der kommenden Jahre nach der Machtergreifung und der endgültigen Emanzipation von der SA durch die Mordaktionen vom 30. Juni 1934 ein rassenideologisch geprägter, einzigartiger Macht- und Repressionsapparat.

 

Dieses Imperium hat Heinrich Himmler, wie Longerich zeigt, ebenso uneingeschränkt wie mit seiner typischen Handschrift zu lenken verstanden. Seine persönlichen Intentionen waren es, die unter Ausnützung der spezifischen historischen Gegebenheiten mit Rückendeckung Hitlers die Entwicklung immer wieder steuerten und vorantrieben. Gegen Widerstände von Seiten der Justiz und des Innenressorts gelang es ihm, das Institut der Schutzhaft – zeitlich unbegrenzt und keiner rechtlichen Kontrolle unterworfen – zu einer Dauereinrichtung und zu einem der Herrschaftsgewalt jederzeit zur Verfügung stehenden Willkürinstrument zu machen.

 

Die schrittweise Übernahme der Politischen Polizeien der Länder und die Monopolisierung des Sicherheitsdienstes (SD) sowie des Systems der Konzentrationslager in den Händen der SS bildeten die institutionelle Voraussetzung für die Herauslösung der Polizei aus der inneren Verwaltung und die Ausübung der Polizeihoheit durch den 1936 offiziell zum „Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern“ avancierten Himmler. Als einem präventiv agierenden „Staatsschutzkorps“ oblag diesem Apparat die Bekämpfung aller tatsächlichen und vermeintlichen Gegner des Regimes, wobei der Reichsführer selbst die Akzente setzte.

 

Den Orden der SS gestaltete er – auch in scheinbar unbedeutenden Details - ganz nach seinen persönlichen Präferenzen und Utopien und führte ihn bis ins Private hinein mit einer skurril anmutenden Mischung aus patriarchalischer Fürsorglichkeit und unerbittlicher Strenge, die bisweilen mit einer doch erstaunlichen Flexibilität einherging. Sein Drang zu erziehen machte nicht einmal vor seinen höchsten Offizieren Halt, die er bisweilen wie Schuljungen gängelte und deren rückhaltlose Gefolgschaft er sich doch durch eine ebenso kluge wie effektive Personalpolitik zu sichern wusste: Mancher SS-Führer, der in seinem Bereich die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllen konnte, wurde bald mit neuen Aufgaben betraut, wo er seine Treue nun umso dankbarer und diensteifriger seinem Reichsführer unter Beweis zu stellen trachtete.

 

Heiratsgesuche seiner Männer prüfte Himmler mit besonderer Akribie. Wie sehr er auf dem Gebiet der Familienpolitik seine gerade aktuellen privaten Verhältnisse einfließen ließ, zeigt Longerich für die Jahre ab 1936/37, als Himmlers Ehe in die Krise geriet. Eine sich entwickelnde Liebesbeziehung zu seiner Sekretärin führte letztlich auch zur Zeugung illegitimen Nachwuchses, Umstände, die ihren Ausdruck allgemein nun in einer überaus toleranten und großzügigen Haltung des SS-Chefs in Fragen des außerehelichen Verkehrs und der unehelichen Geburt finden sollten.

 

Mit dem einsetzenden Krieg ergaben sich für den Reichsführer-SS viele neue Aufgaben und mit diesen eine deutlich erweiterte Palette an machtpolitischen Perspektiven und Möglichkeiten. Repression und Kontrolle konnten nun auf ganz Europa ausgeweitet werden. Das exekutive Einschreiten der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD ist mit seinem Namen ebenso untrennbar verknüpft wie der militärische Einsatz der systematisch aufgebauten bewaffneten Verbände der SS-Verfügungstruppe, der sogenannten Waffen-SS. In den besetzten Gebieten agierten die von ihm eingesetzten und dirigierten Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) als in ihrem Wirken kaum eingeschränkte, verlässliche Statthalter seiner Macht.

 

Von elementarer Bedeutung war Himmlers Ernennung zum „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ im Oktober 1939, eine Funktion, die ihm – in Konkurrenz zu verschiedenen anderen Dienststellen – weit reichende Vollmachten auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik sicherte. Federführend ließ er immer großzügigere Aus- und Umsiedlungsprojekte planen und in Angriff nehmen, denen nur durch den Kriegsverlauf realistische Grenzen gesetzt wurden. Eine Rücksichtnahme auf historisch gewachsene Strukturen fand in seinen weit gesteckten Planungen keinen Platz, wie es die Behandlung der Südtiroler oder jene der volksdeutschen Minderheiten in Südosteuropa anschaulich vermitteln.

 

Von enormer Tragweite war diese Betrauung vor allem für das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Europas. Denn als maßgeblicher Proponent des weltanschaulichen Vernichtungskrieges im Osten wähnte sich Heinrich Himmler nunmehr gleichsam in einem Zeitfenster, das ihm die Möglichkeit bot, Ziele, für deren Verwirklichung er zunächst Jahre bis Jahrzehnte veranschlagt hatte und deren Art und Weise ihrer Umsetzung noch keineswegs feststand, jetzt ohne Zeitverzögerung unmittelbar und mit größter Radikalität zu verwirklichen. Unter dem Vorwand der Partisanenbekämpfung – eine Aufgabe, die Himmler ebenfalls an sich gezogen hatte – wurden zunächst durch Massenerschießungen und Zwangsumsiedlungen große Räume im Osten rücksichtslos von unerwünschten Bevölkerungsgruppen geleert. An der Spitze dieses Beschleunigungsprozesses stand bekanntlich die unter diesen Umständen plötzlich realisierbar gewordene „Endlösung“, der durchorganisierte Völkermord an den europäischen Juden in den Vernichtungslagern.

 

Nicht alle seine Pläne konnte der Reichsführer-SS so effizient ins Werk setzen. Pannen wie die peinliche Fritsch-Affäre 1938 oder das Scheitern der Idee eines SS-eigenen Rüstungskonzerns konnten Himmler aber ebenso wenig nachhaltig bremsen wie sein – mangels fachlicher Eignung – vorhersehbares Versagen als Feldherr in der Endphase des Krieges. Er, der bis zum bitteren Ende seinen Terrorapparat auf Hochtouren laufen ließ und ihn immer wieder zu höchster Effizienz antrieb, während er selbst bereits auf eine sonderbar dilettantische Art Kontakt zu den Westalliierten aufzunehmen suchte, glaubte offensichtlich noch nach der Verstoßung durch Hitler an eine weitere politische Karriere in den Reihen der Regierung Dönitz, ein absurder Gedanke in Anbetracht der von ihm zu verantwortenden Verbrechen. Auch dass der gefürchtete Reichsführer-SS keine tauglichen Vorbereitungen für seine organisierte Flucht treffen ließ, offenbart einen schwer zu erklärenden Realitätsverlust im Denken dieses sonst so gezielt kalkulierenden Machtmenschen.

 

Mit seiner Biographie ist es Peter Longerich in eindrucksvoller Weise gelungen, das Phänomen Heinrich Himmler sowohl dem historischen Fachpublikum als auch einer breiteren Leserschicht auf einer soliden wissenschaftlichen Grundlage nahe zu bringen. Sein Ansatz geht deutlich über die Ansprüche an eine herkömmliche Lebensbeschreibung hinaus und entwirft ein gelungenes Panorama der nationalsozialistischen Ideologie und Herrschaftspraxis. Ein 260 Seiten starker Anhang bringt in den Anmerkungen viele zusätzliche Details, ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Register der Orts- und Personennamen.

 

Der lebendig und sorgfältig geschriebene Band – kleinere, einem nachlässigen Lektorat geschuldete Mängel fallen kaum auf und wären im Fall einer Neuauflage einfach zu eliminieren – liest sich gut und kann jeder Zielgruppe etwas bieten. Skurrilitäten im Charakter des Reichsführers-SS etwa werden vom Autor zwar präsentiert, aber stets in Verbindung mit Himmlers Zielen und Handlungen, so dass die Gefahr einer ausufernden Anekdotisierung niemals aufkommt. Für den Juristen – noch immer und immer wieder – interessant zu lesen ist die einzigartige Weise, in der der SS-Apparat als ein Parteiinstrument den Staat zu vereinnahmen und dessen Rechtsordnung zu unterwandern vermochte.

 

Die Frage, weshalb Heinrich Himmler letztendlich seine Machtposition im Dritten Reich so unangefochten erringen und behaupten konnte, beantwortet sich aus der Darstellung selbst. Es scheint, als sei es die spezielle Mischung mehrerer Elemente gewesen, auf der diese einzigartige Ausnahmestellung fußte; wie die persönliche Unscheinbarkeit des anfangs oft unterschätzten, lange in der zweiten Reihe stehenden Mannes; sein Gespür für den richtigen Zeitpunkt und für Entwicklungsmöglichkeiten; sein Organisationstalent; sein rational verbrämter, anpassungsfähiger und zur äußersten Brutalität fähiger ideologischer Fanatismus; sein bedingungsloser Rückhalt bei Hitler; später die undurchschaubare Macht des von ihm penibel geführten und kontrollierten SS-Imperiums, das er durch das Akquirieren neuer Aufgaben stetig in Bewegung hielt und immer wieder nach seinem Willen fokussierte. Hier blieb für Konkurrenz keinerlei Raum.

 

Kapfenberg                                                                                        Werner Augustinovic