Lindner, Anna, 100 Jahre Frauenkriminalität. Die quantitative und qualitative Entwicklung der weiblichen Delinquenz von 1902 bis 2002 (= Würzburger Schriften zur Kriminalwissenschaft 22). Lang, Frankfurt am Main 2006. XXI, 289 S., zahlr. Tab. und Graf. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.
Die Würzburger Dissertation hat ein Thema zum Gegenstand, das in dieser umfassenden Form, soweit ersichtlich, bisher noch nicht bearbeitet worden ist. Die Entwicklung der Frauenkriminalität in Deutschland hat zwar, was verschiedene Phasen, Erscheinungsformen und Erklärungsansätze angeht, zunehmend wissenschaftliche Beachtung gefunden. Doch ist die Verlaufsstruktur über den Zeitraum von einem ganzen Jahrhundert (1902-2002) zuvor noch nicht dargestellt und analysiert worden. Andrea Lindner hat dieses Unternehmen vornehmlich auf statistischer Grundlage in Angriff genommen. Dabei hat sie die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die jeweils die Tatverdächtigen und deren mutmaßliche Delikte ausweist, und die Strafverfolgungsstatistik (StVStat), welche die gerichtlichen Verurteilungen und Aburteilungen erfasst, zugrunde gelegt. In die Interpretation des umfangreichen Datenmaterials, das die Entwicklung der Gesamtheit der Frauenkriminalität sowie der Delikts- und Altersstruktur im Zeitablauf wiedergibt, hat sie den bisherigen einschlägigen Diskussionsstand einbezogen. Eine vertiefte Gesamtdarstellung weiblicher Kriminalität im Untersuchungszeitraum, die sämtliche Aspekte erfasst, ist ersichtlich nicht das Ziel der Studie gewesen.
Freilich unterliegt die empirische Aussagekraft der von der Verfasserin erhobenen Befunde sowohl in quantitativer als auch in quantitativer Hinsicht nicht unerheblichen Einschränkungen - mit denen sie sich denn auch im Einzelnen auseinandersetzt. Kriminalstatistiken spiegeln keineswegs das wahre Ausmaß der Kriminalität und ihres Zuschnitts wider. Allein schon aufgrund des Dunkelfeldes bleibt den Strafverfolgungsbehörden eine nach Deliktsschwere unterschiedliche Zahl von Straftaten unbekannt. Die Erfassungsmodi der Statistiken haben im Laufe der Zeit gewechselt, was die Vergleichbarkeit der Daten über ganze Perioden hinweg einschränkt; sie bergen überdies Fehlerquellen. Die Befunde von PKS und StVStat lassen sich nicht aufeinander beziehen. Polizei und Gerichte können dieselben Taten unterschiedlich beurteilt haben. Der zwischen polizeilicher Ermittlungstätigkeit und gerichtlicher Entscheidungstätigkeit stattfindende Ausfilterungsprozess hat die Selektion von Taten und Tätern zur Folge. Die für dasselbe Jahr vorliegenden Daten der PKS und StVStat betreffen daher nicht dieselben Delikte und Personen. Auch sind die Statistiken von unterschiedlicher Dauer. Während die Strafverfolgungsstatistik - der sogar noch eine sog. „Reichskriminalstatistik“ vorausgegangen ist - seit 1902 existiert, ist eine einheitliche Polizeiliche Kriminalstatistik erst 1936 eingeführt worden.
A. Lindner hat ihre Untersuchung in vier Teile gegliedert. Im ersten Teil definiert sie „Frauenkriminalität“, gibt einen knappen Überblick über deren gegenwärtiges statistisches Erscheinungsbild und stellt derzeit im Vordergrund stehende Ansätze vor, die weibliche Kriminalität zu erklären suchen. Sie verbindet damit Kritik an der Aussagekraft der gängigen biologischen, anthropologischen, soziologischen und sozialpsychologischen Kriminalitätstheorien. Ebenso geht sie dem Erklärungswert einiger ausgewählter sozialstruktureller Ansätze nach, die an der - nicht nur in statistischer Hinsicht - dominierenden männlichen Kriminalität entwickelt worden sind. Der Ertrag fällt überaus mager aus. Die Verfasserin vermag keine Theorie zu entdecken, die weibliche Kriminalität hinreichend zu erklären vermöchte (S. 47). Dies gilt ungeachtet der Erkenntnis, die sich dann wie ein roter Faden durch die Studie zieht, dass Frauenkriminalität über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg nur einen geringen statistischen Anteil an der Gesamtkriminalität aufweist (z. B. S. 123, 265). Die Verfasserin verkennt dabei nicht, dass jene Ansätze, die weibliche Kriminalität zu erklären beanspruchen, vielfach auf geschlechtsspezifischen Stereotypen fußen. Indes verfolgt sie die allgemeine Problematik begrenzter, wenn nicht unzureichender Aussagekraft von Kriminalitätstheorien nicht weiter.
Der zweite Teil hat die quantitative Entwicklung der Frauenkriminalität im Untersuchungszeitraum zum Gegenstand. Dabei werden zunächst einmal die Veränderungen in der statistischen Erfassung im Zeitablauf wiedergegeben. Anschließend wird die Entwicklung in den einzelnen Phasen dargestellt. Als solche figurieren die Zeiträume vor dem Ersten Weltkrieg (1902 bis 1912), des Krieges (1914 bis 1918), der Nachkriegszeit (1919-1923), der (oder einer gewissen) Konsolidierung der Weimarer Republik (1924-1932), der NS-Diktatur (untergliedert in die Zeiten von 1933-1939 und des Zweiten Weltkrieges), der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (1946-1950), von 1951 bis 1970 sowie von 1971 bis 2002. Dabei bleibt die Darstellung der Frauenkriminalität in der NS-Zeit – von den Kriegsjahren abgesehen - im Wesentlichen bei der Wiedergabe statistischer Daten stehen, ohne die spezifischen Wirkungsmechanismen der Diktatur näher zu analysieren. Insgesamt registriert die Verfasserin vor allem in Kriegs- und Krisenzeiten statistische Anstiege der Frauenkriminalität, was sie weitgehend auf wirtschaftliche Notlagen zurückführt. Sie stellt aber auch eine Zunahme der Delinquenz weiblicher Jugendlicher (16- bis 21-Jähriger) im Zeitraum von 1976 bis 2002 (S. 115) fest - was sie einmal mehr dazu veranlasst, sich mit einschlägigen Erklärungsansätzen kritisch auseinanderzusetzen.
Der dritte Teil ist der Darstellung des Verlaufs der Frauenkriminalität in einzelnen herausragenden Deliktsgruppen gewidmet. Als solche werden erörtert: Delikte gegen die Person (Mord und Totschlag, Kindestötung, Schwangerschaftsabbruch, Körperverletzung, Beleidigungsdelikte), Delikte gegen das Vermögen (Diebstahl, Raub, Betrug, Brandstiftung), Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung (insbesondere sexueller Missbrauch von Kindern) und Aussagedelikte. Schwerpunkte der Frauenkriminalität macht die Verfasserin vor allem bei den Eigentums- und Vermögensdelikten sowie den Aussagedelikten aus. Darüber hinaus konstatiert sie einen überproportional hohen Anteil an Straftaten, die „in einem engen Zusammenhang mit der weiblichen Geschlechtsrolle stehen“ (S. 263). Das hätte einmal mehr nach einer Erklärung verlangt, wie diese Feststellung mit der durchgängig vertretenen These in Einklang zu bringen ist, dass es keine geschlechtsspezifischen Ursachen der Kriminalität gibt.
Die Qualitäten der übersichtlich gegliederten Studie liegen vor allem in der soliden Darstellung und Aufbereitung des aufgrund der PKS und StVStat verfügbaren Datenmaterials. Es bildet eine wichtige Grundlage für weitere, namentlich vertiefende Untersuchungen. Allerdings hätten jene Faktoren, die die kriminalstatistischen Befunde über Anteile der Frauenkriminalität hätten beeinflussen können (z. B. Anzeigeverhalten der Bevölkerung, Schwerpunkte der Ermittlungstätigkeit, Handlungsmuster der Staatsanwaltschaft, gerichtliche Sanktionspraxis), eine nähere Untersuchung verdient.
Saarbrücken Heinz Müller-Dietz