Legalität, Legitimität und Moral. Können Gerechtigkeitspostulate Kriege rechtfertigen? hg. v. Bruha, Thomas/Heselhaus, Sebastian/Marauhn, Thilo (= Jus internationale et Europaeum 24). Mohr (Siebeck), Tübingen 2008. VIII, 265 S. Besprochen von Hans-Michael Empell.

 

Die hier versammelten, elf Aufsätze sind, wie sich der vorangestellten „Danksagung“ entnehmen lässt, aus Diskussionen hervorgegangen, die „im Umfeld des 70. Geburtstags“ Heinhard Steigers (Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht), Justus-Liebig-Universität Gießen, von Schülern und Freunden unter Beteiligung des Jubilars geführt wurden. Im Zentrum der Beiträge steht die Frage, ob von Staaten ausgeübte, militärische Gewalt ohne Autorisierung durch die Vereinten Nationen moralisch gerechtfertigt werden kann. Mehrere Aufsätze sind explizit völkerrechtsgeschichtlichen Themen gewidmet, andere weisen zumindest historische Aspekte auf. Die Autoren sind überwiegend Völkerrechtler, aber auch zwei Politikwissenschaftler, ein Soziologe und ein Theologe sind beteiligt. Die mit den Beiträgen verbundene Absicht ist, den „interdisziplinären Dialog“ zu fördern.

 

In dem Aufsatz: „Gerechtigkeit als Grundlage einer internationalen Ordnung? Anmerkungen zu John Rawls“ (S. 1ff.) widmet sich Mark Arenhövel dem dritten, großen Werk des US-amerikanischen Philosophen John Rawls (1921-2002), das dieser nach „A Theory of Justice“ (1971) und „Political Liberalism“ (1993) veröffentlicht hat, „The Law of Peoples“ (1999), und gelangt zu dem Schluss, Rawls sei zwar einer der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, für das 21. Jahrhundert komme das „Recht der Völker“ aber zu spät – weil es einem Denken in der Kategorie von Nationalstaaten verhaftet bleibe und transnationale oder supranationale Konstellationen kaum in Erwägung ziehe. Gerhard Beestermöller geht in dem Beitrag: „Thomas von Aquin: Die Idee des ‚gerechten Krieges’ als Friedensethik?“ (S. 25ff.) der Frage nach, ob die Lehre vom gerechten Krieg, wie Thomas von Aquin sie vertreten hat, auch heute noch von Bedeutung sei. Der Autor ist „äußerst skeptisch“, ob sich aus dieser Lehre „normativ-materielle Inhalte“ gewinnen lassen. Allerdings enthalte sie „formale Einsichten“, die noch immer zu beachten seien. So komme dem Kriterium der „rechten Intention“ aktuelle Bedeutung zu, wenn darunter verstanden werde, dass die eingreifende Macht (der UN-Sicherheitsrat oder auch einzelne Staaten) nicht ein partikulares Interesse verfolgt, sondern „unparteiisch für das Recht eintritt“. Hauke Brunkhorst: „Demokratischer Konstitutionalismus – Eine Kantianische Alternative zum gerechten Krieg“ (S. 43ff.) setzt sich kritisch mit der Lehre vom gerechten Krieg auseinander, wie sie der 1935 geborene, US-amerikanische Philosoph Michael Walzer in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederbelebt hat. Heinhard Steiger gelangt in dem Beitrag: „Ius belli in der Völkerrechtsgeschichte – universelle Geltung oder Beschränkung auf ‚anerkannte Kulturvölker’“? (S. 59ff.) zu dem Ergebnis, dass die universellen, naturrechtlichen Völkerrechtslehren des 16. bis 18. Jahrhunderts keine Unterschiede zwischen den Völkern gemacht und jedem Volk ein Recht zur Kriegführung zugebilligt hätten, das im 19. Jahrhundert entwickelte „Völkerrecht der zivilisierten Staaten“ jedoch zwischen  zivilisierten, halbzivilisierten und sonstigen Herrschaftsverbänden unterschieden und die dritte Kategorie aus dem Kriegsvölkerrecht herausgenommen habe. Das organisierte, militärische Vorgehen gegen „Wilde“ sei nicht als Krieg, sondern als Militäraktion deklariert worden; das Kriegsvölkerrecht habe keine Anwendung gefunden. Das geltende Völkerrecht habe diese Entwicklungsstufe zwar überwunden, es sei universal, in dieser Hinsicht aber durchaus gefährdet – etwa durch den „Krieg gegen den Terror“ und „humanitäre Interventionen“. Bardo Faßbender behandelt in dem Aufsatz: „Selbstverteidigung und Staatengemeinschaftsinteresse in der Zeit des Völkerbundes. Zur Vorgeschichte von Artikel 51 der UN-Charta“ (S. 99ff.) die seit dem Ende des Ersten Weltkrieges unternommenen Versuche, Krieg mit den Mitteln des Völkerrechts zu verhindern. Ausgehend von der völkerrechtlich verankerten „liberté à guerre“ des 19. Jahrhunderts habe die Entwicklung über die Satzung des Völkerbundes (1919) schließlich zur UN-Charta (1945) geführt, in der erstmals ein umfassendes Gewaltverbot postuliert worden sei. Der Krieg werde nicht länger ausschließlich als Angelegenheit einzelner Staaten betrachtet, vielmehr habe die Staatengemeinschaft ein Interesse an der Friedenswahrung. Dieses Staatengemeinschaftsinteresse stehe jedoch in einem Spannungsverhältnis zur staatlichen Souveränität, wie sich besonders deutlich an dem von den Vereinigten Staaten von Amerika in Anspruch genommenen und umstrittenen Recht zur präventiven Selbstverteidigung zeige. Berthold Meyer geht in dem Beitrag: „Konfliktfolgenabschätzung – Ist die ‚humanitäre Intervention’ tatsächlich humanitär?“ (S. 133ff.) der Frage nach, welche friedensethischen Anforderungen an eine solche (einzelstaatliche) Intervention zu stellen sind, und behandelt anschließend die Frage, wie es ethisch zu bewerten sei, wenn die Bereitschaft, eine Intervention zu unternehmen oder zu beenden, in demokratischen Gesellschaften auch von der Zahl der Opfer unter den eigenen Truppen und damit verbunden von der Stimmung in der Öffentlichkeit (verstärkt durch die Massenmedien) abhänge. Er fragt, ob eine (von solchen Stimmungen unabhängige) Pflicht zur Intervention bei besonders schweren Menschenrechtsverletzungen (zum Beispiel Völkermord) postuliert werden sollte. Michael Bothe vertritt in dem Beitrag: „Idee und Funktionalität eines Argumentationstopos: historische und aktuelle Hintergründe der ‚humanitären Intervention’“ (S. 149ff.) die Auffassung, ein Recht zur humanitären Intervention als gewohnheitsrechtliche Ausnahme vom Gewaltverbot sei völkerrechtlich nicht anerkannt, weil eine allgemeine Rechtsüberzeugung, die für die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht konstitutiv sei, fehle. Allein der UN-Sicherheitsrat sei befugt, militärische Maßnahmen anzuordnen. Ein Recht zur humanitären Intervention könne auch leicht zu ganz anderen als humanitären Zwecken missbraucht werden. Zweifel an der von Bothe vertretenen Position bleiben. So fragt sich, ob die nicht zu leugnende Missbrauchsgefahr notwendig zur Folge hat, dass humanitäre Interventionen pauschal als völkerrechtswidrig qualifiziert werden sollten. Kann es sein, dass die Staaten im Fall von Menschheitsverbrechen von Rechts wegen militärisch untätig bleiben müssen, falls der UN-Sicherheitsrat den Beschluss von militärischen Maßnahmen unterlässt, selbst wenn solche Maßnahmen erforderlich sind, um ein derartiges Verbrechen abzuwenden oder zu beenden? Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte besonders eindringlich. Thomas Bruha behandelt in dem Beitrag: „Kampf gegen den Terrorismus als neue Rechtfertigungsfigur für die Anwendung militärischer Gewalt“ (S. 157ff.) die Geschichte der Interpretation des in der UN-Charta enthaltenen, zwischenstaatlichen Gewaltverbots und des staatlichen Selbstverteidigungsrechts – mit dem Schwerpunkt auf dem von den USA und ihren Verbündeten geführten „Krieg gegen den Terrorismus“ und den damit verbundenen Fragen, wie dem von den USA behaupteten Recht zur präventiven Selbstverteidigung. Der Aufsatz führt in aller Deutlichkeit die Fragilität des völkerrechtlichen Gewaltverbots vor Augen. Sie ist, wie sich hinzufügen lässt, auch historisch begründet. Die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangenen Siegermächte, allen voran die USA und die Sowjetunion, setzten sich zwar dafür ein, ein umfassendes Gewaltverbot in die UN-Charta aufzunehmen; dies aber nur, weil klar war, dass sie auf Grund ihres künftigen Status als ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und des damit verbundenen Vetorechts nicht zur Verantwortung würden gezogen werden können, falls sie selbst einmal das Verbot missachten sollten. Die Sie­germächte waren sich darin einig, jegliche Ausübung militärischer Gewalt durch an­dere Staaten zu unterbinden, während sie selbst freie Hand behalten wollten. An diesem „Geburtsfehler“ krankt das Gewaltverbot bis heute. Stefan Oeter ist der Autor des Beitrages: „Menschenrechte, Demokratie und Kampf gegen Tyrannen als Probleme der Friedenssicherung? Voraussetzungen und Grenzen der Autorisierung militärischer Gewalt durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen“ (S. 183ff.). Oeter befasst sich mit der Interpretation von Art. 39 UN-Charta, wonach der UN-Sicherheitsrat zunächst feststellen muss, dass ein Bruch oder eine Bedrohung des Friedens vorliegt, um auf dieser Grundlage Zwangsmaßnahmen beschließen zu können. Der Autor spricht sich dafür aus, im Fall von massiven Menschenrechtsverletzungen eine Bedrohung oder einen Bruch des Friedens nur anzunehmen, wenn zugleich auch der zwischenstaatliche Friede beeinträchtigt ist. Sebastian M. Heselhaus geht in dem Aufsatz: „Ungerechtigkeit durch Untätigkeit? Das Nichthandeln des Sicherheitsrates“ (S. 211ff.) der Frage nach, ob der UN-Sicherheitsrat im Fall von schwersten Menschenrechtsverletzungen, insbesondere bei Völkermord, zum Beschluss von Zwangsmaßnahmen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet ist. Thilo Marauhn untersucht in seinem Beitrag: „Konfliktfolgenbewältigung zwischen Legitimität und Legalität“ (S. 249ff.), wie ein ius post bellum auf Grund der im Kosovo, in Afghanistan und im Irak gemachten Erfahrungen beschaffen sein sollte und plädiert dafür, die „Konfliktfolgenbearbeitung“ nicht einzelnen Staaten zu überlassen, sondern den Vereinten Nationen anzuvertrauen.

 

Die Beiträge sind informativ und lehrreich, anregend und durchweg gut geschrieben. Gleichwohl drängen sich einige Fragen auf. Das im Titel des Buches angesprochene Verhältnis von „Legalität, Legitimität und Moral“ wird als problematisch empfunden, wenn weltpolitische Umbrüche dazu zwingen, sich auf die Grundlagen des Völkerrechts zu besinnen, um sich dieser Grundlagen zu vergewissern oder sie zu erneuern. Es ist einleuchtend, dass dabei auch philosophische und theologische Lehren in den Blick genommen werden. Zu fragen ist jedoch, in welchem Verhältnis eine theologisch oder philosophisch fundierte Friedensethik zum geltenden Völkerrecht steht. Warum sind Elemente der Lehre vom gerechten Krieg eines Thomas von Aquin im Hinblick auf die Kompetenzen des UN-Sicherheitsrates überhaupt von Bedeutung? Ist es zulässig, ethische Grundsätze gewissermaßen „von außen“ an das Völkerrecht heranzutragen, um völkerrechtliche Normen zu interpretieren oder das Völkerrecht weiterzuentwickeln, obwohl dem Völkerrecht selbst derartige Prinzipien immanent sind? Das Verhältnis von Legalität und Legitimität ist aber auch innerhalb des Völkerrechts von Bedeutung. Zu fragen ist, wie sich die Struktur des Völkerrechts ändert, wenn ethische Grundsätze (zum Beispiel das Prinzip der Achtung der Menschenrechte) in das Völkerrecht Eingang finden, wie dies seit 1945 verstärkt geschieht. Eine traditionell positivistische Haltung wird dadurch in Frage gestellt, neue Sichtweisen werden gefördert, die hier nur stichwortartig benannt werden können: „Renaissance des Naturrechts“, „das Völkerrecht als Wertordnung“, „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“. Dies hat Auswirkungen auf die Beantwortung konkreter völkerrechtlicher Fragen. Wer das Völkerrecht auf Grund einer positivistischen Haltung interpretiert, wird in Bezug auf das Problem der humanitären Interventionen wahrscheinlich eine andere Antwort finden (und sie eher für rechtswidrig halten) als ein Autor, der das Völkerrecht als „Wertordnung“ begreift. Ein Beitrag wäre wünschenswert gewesen, der das Verhältnis von Legalität, Legitimität und Moral im Allgemeinen und für das Völkerrecht im Besonderen behandelt. Auch ein Vorwort, in dem derartige Zusammenhänge hätten beleuchtet werden können, fehlt leider. Der „interdisziplinäre Dialog“ hätte sich dadurch noch vertiefen lassen.

 

Heidelberg                                                                              Hans-Michael Empell