Kremer, Carsten, Die Willensmacht des Staates. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerber (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 238). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XI, 464 S. Besprochen von Walter Pauly.

 

Nach den privatrechtsgeschichtlichen Untersuchungen Sibylle Hofers und Susanne Schmidt-Radefeldts sowie einer verfassungsgeschichtlichen zu seinem Wirken als sächsischer Kultusminister von Jördis Bürger ist seit der Jahrtausendwende nunmehr die vierte Monographie zu Carl Friedrich von Gerber erschienen. Die von Thomas Vesting betreute Frankfurter rechtswissenschaftliche Dissertation legt den Schwerpunkt auf Gerbers staatsrechtliches Werk, das unter Freilegung seiner willenstheoretischen Fundierung als System rekonstruiert wird. Habe in Gerbers Privatrechtssystem der Wille des Einzelnen und damit das System der subjektiven Rechte im Vordergrund gestanden, so dominierte im staatsrechtlichen System der Wille des Staates, wobei Staatsgewalt als Willensmacht erscheint, die von der Staatsrechtswissenschaft auf ihre Inhalte, Grenzen, Organe und Formen  hin analysiert werde (S. 216ff.). Nicht ohne Grund hat sich denn auch Hans Kelsen in seiner Allgemeinen Staatslehre von 1925 in eine von Gerber über Paul Laband zu Georg Jellinek reichende Linie eingegliedert und Rudolf Smend in Gerber einen Vorläufer von Kelsen erblickt, wie Kremer zu berichten weiß (S. 3). Dass Gerber bei seiner Gründerleistung seinerseits auf die Leistungen anderer Autoren, wie namentlich den romanistischen Persönlichkeitsbegriff Georg Friedrich Puchtas (S. 234ff.) und das von Georg August Grotefend ins Staatsrecht transferierte Willensdogma (S. 224f., 238ff.) zurückgriff, wird ebenso herausgearbeitet wie die Strahlkraft von Gerbers Konzeption auf durchaus kritische zeitgenössische Autoren wie etwa Hermann Schulze (S. 227f., 243ff.). Eingebettet wird Gerber in den vielschichtigen Kontext der Wissenschaft vom gemeinen deutschen Staatsrecht, das er im Wesentlichen nicht als geltendes Recht betrachtete und nach dem Vorbild seiner Lehre vom gemeinen deutschen Privatrecht konzipierte (S. 129). Dass Gerber trotz starker Prägung durch die historische Rechtsschule das Staatsrecht in gewisser Weise unhistorisch begriff, lag an einer grosso modo bereits von seinem Lehrer Wilhelm Eduard Albrecht betonten Diskontinuität einerseits von privatrechtlich durchwirktem älterem und andererseits organisch volksstaatlichem modernem Staatsrecht (S. 164). Zugleich hielt Gerber die Lehre von den Staatszwecken im Hinblick auf die kulturelle Entwicklung des im Staat zu organischem Ausdruck gelangenden Volkes historisch offen, wenngleich sich die Rechtsschutzaufgabe als durchgängige staatliche Zweckbestimmung erweisen lässt (S. 292ff.).

 

Besondere Aufmerksamkeit verdient Kremers These, Gerber habe sowohl ansatzweise mit seiner Ausgangsvorstellung vom Staat als Organismus als auch mit seiner späteren Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates ein vergleichsweise offenes gemeindeutsches „Grundmodell“ zur Erfassung der mitunter stark divergierenden einzelstaatlichen Ausformungen des Typus der konstitutionellen Monarchie liefern wollen (S. 332ff.). Hierzu habe Gerber den Dualismus von Monarch und Ständen, die er beide auf die Rolle von Staatsorganen verwies, neutralisiert (S. 311ff.) und zudem innenpolitisch den Souveränitätsbegriff  entschärft, der lediglich als mögliches Attribut der Unabhängigkeit der Staatsgewalt im Außenverhältnis zu anderen Staaten gefasst wurde (S. 323ff.). Eine Absage erteilt Kremer dabei der Auffassung Carl Schmitts, die konstitutionelle Monarchie  beruhe  als „System umgangener Entscheidungen“ auf einem „dilatorischen Kompromiß“ von Monarchie und Demokratie und bilde folglich auch kein eigenständiges Formprinzip, wie später Ernst-Wolfgang Böckenförde in der entsprechenden Kontroverse mit Ernst Rudolf Huber betonte (S. 329ff.). Zurückgewiesen wird in diesem Zusammenhang sowohl die Meinung Peter von Oertzens, Gerber habe den „Schritt bis an die Schwelle der Volkssouveränitätstheorie“ getan (S. 336) als auch die pauschale Etikettierung seines Staatsdenkens als „antiparlamentarisch“ (S. 409) oder einseitig promonarchisch (S. 344, 361f., 421). In dogmatischen Einzelstudien zum Budgetrecht, Gesetzesbegriff, monarchischen Notverordnungs- und Dispensationsrecht sowie richterlichen Prüfungsrecht zeigt Kremer, wie sehr Gerber an einem rechtlichen Schutz der ständischen Mitwirkungsrechte gelegen war (S. 366ff.). Insgesamt sieht die lesenswerte Schrift die gemeindeutsche Staatsrechtswissenschaft samt Gerber in einem „Dilemma“: Auf der einen Seite musste gemäß Art. 57 der Wiener Schlussakte die gesamte Staatsgewalt im Oberhaupt des Staats vereinigt bleiben, auf der anderen Seite hatten die Volksvertretungen jedoch, teilweise unter partikularverfassungsrechtlicher Anerkennung wie in Art. 62 der revidierten preußischen Verfassung, erhebliches politisches Gewicht gewonnen. Daraus resultierte ein enormes Spannungsverhältnis, das sich in die Staatsrechtsdogmatik übertrug, aber in Gerbers offenem Modell ausgehalten werden konnte (S. 411). Gerbers eigene verfassungspolitischen Präferenzen bleiben gleichwohl erkennbar.

 

Jena                                                                                                   Walter Pauly