Koop, Volker, Himmlers letztes Aufgebot.
Die NS-Organisation „Werwolf“. Böhlau, Köln 2008. 309 S. Besprochen von Martin
Moll.
Der Nationalsozialismus war sowohl vor als auch
nach seiner Machtübernahme in Deutschland Ende Januar 1933 eine zutiefst in
archaischen Mythen verhaftete Weltanschauung, in der Ideen einer nationalen
Wiedergeburt ebenso ihren Platz hatten wie phantastische (Wahn-)Vorstellungen
von angeblichen jüdischen Rasseschändern und einer jüdisch-bolschewistisch-plutokratischen
Weltschwörung. Weniger bekannt dürfte sein, dass das NS-Regime in seiner
Endphase bzw. sogar nach seiner definitiven Beseitigung neue und nicht weniger
langlebige Mythen in die Welt setzte, die zu einem erheblichen Teil selbst
heute noch zirkulieren: Das Regime hätte gegen Kriegsende über Wunderwaffen
verfügt, Hitler selbst und sein Adlatus Martin Bormann hätten das Ende in
Berlin im April/Mai 1945 überlebt und sich mittels Flugzeugen und U-Booten nach
Südamerika abgesetzt, es habe nach Kriegsende eine überaus effiziente
Hilfsorganisation ehemaliger SS-Angehöriger namens „Odessa“ gegeben usw.
Derlei Legenden sind von der seriösen Forschung
längst entweder ins Reich der Fabel verwiesen oder nachhaltig relativiert
worden – die von der NS-Propaganda vielbeschworenen Wunderwaffen, etwa Raketen
und Düsenjäger, gab es zwar tatsächlich, sie konnten jedoch wegen ihres viel zu
späten und marginalen Einsatzes den Kriegsverlauf nicht beeinflussen oder gar
zugunsten Nazi-Deutschlands verändern. All diesen Mythen gemeinsam ist das
Element der Verzweiflung, des letzten Aufbäumens eines Regimes, das seinen
Untergang vor Augen hatte, sich jedoch mit allen Mitteln, koste es was es
wolle, dagegen auflehnte.
Es war diese vom nahenden Untergang bestimmte
Atmosphäre, die im letzten Kriegsjahr in Deutschland – oder was noch davon
übrig war – allerhand phantastische Ideen ins Kraut schießen ließ, wie man den
Sieg der Alliierten verhindern könne. Paradoxerweise tendierte das NS-Regime in
seiner Agonie nun dazu, jene unliebsamen Erfahrungen gegen die künftigen Sieger
anzuwenden, die man selbst mit den Partisanenbewegungen in den einst von
Deutschland okkupierten Gebieten gemacht hatte: Eine im Untergrund operierende,
aus dem Hinterhalt zuschlagende, die gegnerischen Verbindungslinien störende
und dessen Besatzungstruppen ständig verunsichernde Widerstandsbewegung,
organisiert in kleinen und kleinsten Gruppen und daher schwer aufzuspüren,
sollte dem Gegner mittels Nadelstichen ständig zusetzen und ihn daran hindern,
die unangefochtene Herrschaft über das von ihm eroberte Gebiet auszuüben.
Typisch für das NS-Regime, wurde für diese Idee –
bevor noch organisatorische und personelle Fragen zur Entscheidung anstanden –
erst einmal ein vermeintlich zugkräftiger Name geboren: Der Werwolf. Es gehört
zu den besonderen Verdiensten der hier zu besprechenden Arbeit, endlich einmal
die Wortgeschichte dieses nebelumhafteten Begriffs wenigstens in groben Zügen
nachgezeichnet zu haben. Der Terminus reichte weit ins 19. Jahrhundert zurück
und war nie auch nur annähernd definiert, dafür umso mehr von Mythen
umschlungen, so dass er sich ideal anbot, als das NS-Regime daranging,
angesichts der von Ost und West ins Reichsgebiet einbrechenden Gegner eine den
eigenen leidvollen Erfahrungen mit bodenständigen Partisanen adäquate, deutsche
Untergrundbewegung ins Leben zu rufen. Was damit beabsichtigt war, ist auch
nach den Forschungen Koops noch immer nicht klar: Ging es darum, die dauerhafte
Herrschaft der Sieger auf deutschem Boden zu behindern oder – wenigstens auf
lange Sicht – eine Renaissance des Nationalsozialismus vorzubereiten?
Derlei Unsicherheiten resultieren, wenig
verwunderlich, aus dem mit dem Ende der NS-Herrschaft einhergehenden Chaos –
einer Situation, in der, wie Koop aufzeigt, die bürokratischen Apparate wohl
noch (scheinbar) funktionierten, ihre Anordnungen jedoch kaum noch auf
Resonanz, geschweige denn Befolgung hoffen konnten. Immerhin scheint nach Koops
Recherchen klar, dass der Werwolf eine von der SS-Führung (wirklich oder
ansatzweise) ins Leben gerufene Einrichtung war, während Einflüsse der
Partei-Kanzlei der NSDAP unter Martin Bormann oder des Reichsleiters der Deutschen
Arbeitsfront, Robert Ley, kaum mehr zum Tragen kamen. Immerhin wird deutlich,
dass selbst während der Agonie des NS-Regimes der notorische polykratische
Kompetenzkampf nicht zum Erliegen kam.
Derlei Urteile sind freilich mehr als vorläufig,
denn die chaotische Situation gegen Kriegsende ließ keine geschlossene, eindeutig
interpretierbare Aktenlage mehr entstehen.Was Koop also auswerten konnte, ist
und bleibt Stückwerk. Kein Wunder, dass er sich bei seiner Darstellung
streckenweise weit von seinem Gegenstand entfernt und mehr ein Gesamtbild
NS-Deutschlands im letzten Kriegsjahr liefert, worin der Werwolf lediglich eine
marginale Rolle einnimmt.
Zu den Stärken der Arbeit Koops gehört, dass er
von Fall zu Fall kritisch fragt, welche scheinbare Werwolf-Aktionen wirklich
dem Werwolf zuzurechnen sind, gab es doch daneben weitgehend unkoordinierte
Aktivitäten von Volkssturm, HJ und diversen SS-Einheiten, die in der
Perspektive der alliierten Sieger nach dem Kriegsende nur allzu leicht –
wenngleich irrig – zu Werwolf-Aktionen verschmolzen. Auch die von den
Alliierten angestrengten Nachkriegsprozesse, auf die der Verfasser breit
eingeht, vermochten nur selten Licht ins Dunkel zu bringen. Selbiges gilt von
den zeitgenössischen Quellen, die ebenso das Durcheinander diverser
NS-Organisationen spiegeln.
Wie aus der hier vorzustellenden Arbeit erhellt,
war der Werwolf nicht bloß eine Chimäre, aber doch weit weniger real und
bedrohlich, als die Zeitgenossen, allen voran die alliierten Sieger, anzunehmen
schienen. Leider geht Koop auf den bis heute in der amerikanischen Populärkultur
virulenten Werwolf-Mythos nicht mehr ein, sein Zeitrahmen endet mit der
gerichtlichen Aburteilung jener, die zu Recht oder zu Unrecht nach 1945 mit dem
Werwolf in Verbindung gebracht wurden. Paradoxerweise scheint der Verfasser
somit seinen eigenen Gegenstand nicht ernst genug zu nehmen.
Gleichwohl liegt hier eine Arbeit vor, die sich
zwar nicht vollständig aus dem Bannkreis des Werwolf-Mythos zu lösen vermag,
die jedoch erstmals eine nüchterne Bestandsaufnahme der überaus spärlichen
Quellenlage vornimmt und auf dieser Basis wenigstens versucht, zu halbwegs
ausgewogenen Urteilen zu gelangen. Das letzte Wort über den Werwolf und die
zahlreichen sich um ihn rankenden Gerüchte ist damit sicherlich noch nicht
gesprochen.
Graz Martin Moll