Klose, Fabian,
Menschenrechte im Schatten kolonialer Gewalt. Die Dekolonisierungskriege in
Kenia und Algerien 1945-1962 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen
Instituts London 66). Oldenbourg, München 2009. X, 346 S. Besprochen von Hans-Michael
Empell.
Die Untersuchung wurde im April
2007 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München als Dissertation
eingereicht; betreut wurde die Arbeit von Martin H. Geyer. In der Einleitung
(S. 1 ff.) stellt der Autor das Thema vor: den von Großbritannien in Kenia
geführten Krieg gegen die Widerstandsbewegung der Mau-Mau (1952-1956) und den Algerienkrieg
Frankreichs (1954-1962). Von zentraler Bedeutung ist für ihn die Frage, „wie
Großbritannien und Frankreich als demokratische Rechtsstaaten in Europa
einerseits den internationalen Menschenrechtsdiskurs wesentlich mitbestimmten
und andererseits in ihren Überseegebieten zu Maßnahmen entgrenzter Gewalt
greifen konnten.“ (S. 6) Im Anschluss an die Einführung in das Thema werden der
Forschungsstand dargestellt, die ausgewerteten Quellen behandelt und der Aufbau
der Untersuchung erläutert.
Der Verfasser geht zunächst, wie
es in der Überschrift des ersten Abschnitts heißt, auf die „neue Weltordnung
(1941-1948)“ ein (S. 19ff.). Als Antwort auf das nationalsozialistische Regime
und den von ihm ausgelösten Zweiten Weltkrieg setzte sich danach in den westlichen
Staaten die Idee universeller Menschenrechte durch. Das erklärte Kriegsziel der
Alliierten bestand darin, die Grundlagen einer neuen Weltordnung zu schaffen,
in der die Menschenrechte respektiert werden. Ausdruck fand dieses Ziel in der von
den USA und Großbritannien beschlossenen Atlantik-Charta (12. 8. 1941), wonach
die „Freiheit von Furcht und Not“ zu den Prinzipien der neuen Weltordnung
gehören sollte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die Menschenrechte
zum ersten Mal völkerrechtlich umfassend anerkannt - in der UN-Charta (26. 6. 1945),
der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (9. 12. 1948)
und der (rechtlich nicht unmittelbar verbindlichen) Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte (10. 12. 1948). In der Geschichte des Völkerrechts bildete dies einen
geradezu revolutionären Schritt. Die antikolonialen Befreiungsbewegungen, die für
die Unabhängigkeit ihrer Völker kämpften, beriefen sich nun auf die
Menschenrechte, insbesondere auf das Verbot der rassischen Diskriminierung, um
ihre Forderung nach Beendigung der Kolonialherrschaft völkerrechtlich zu legitimieren.
Die Kolonialmächte, und das heißt hier: Großbritannien und Frankreich, gerieten
dadurch in eine Zwickmühle. Einerseits propagierten sie universelle
Menschenrechte; andererseits konnten sie den Menschenrechten nur Rechnung
tragen, wenn sie bereit waren, diese Rechte auch im Hinblick auf die in den
Kolonien lebenden Völker anzuerkennen, und das heißt praktisch: die
Kolonialherrschaft zu beenden.
Im folgenden Abschnitt, der die
Überschrift „Die umkämpfte Dekolonisation 1945-1962“ trägt (S. 63ff.), macht
der Verfasser deutlich, dass Großbritannien und Frankreich sich dafür
entschieden, ihre Kolonialsysteme mit Hilfe neuer Konzepte der
Herrschaftssicherung – vor allem auch gewaltsam – aufrechtzuerhalten. So kam es
zum Mau-Mau-Krieg und zum Algerienkrieg.
Anschließend behandelt der
Autor unter dem Titel „Legitimation kolonialer Gewalt“ die Frage, mit welchen
Begründungen Großbritannien und Frankreich als demokratische Rechtsstaaten in
ihren Kolonien zu Maßnahmen exzessiver Gewalt griffen (S. 115ff.). Übereinstimmend
haben beide Staaten danach in den Kolonien den Notstand erklärt, wodurch die
Sicherheitskräfte mit fast unbegrenzten Vollmachten versehen wurden. Zudem wurde
die neue Militärdoktrin des antisubversiven Krieges geschaffen, die es den Kolonialmächten
erlaubte, die Bindungen des humanitären Völkerrechts, insbesondere der Genfer
Konventionen (12. 8. 1949), außer Acht zu lassen. Die Begründung lautete, das
humanitäre Völkerrecht sei auf den Krieg zwischen zivilisierten Nationen
zugeschnitten, nicht jedoch auf den Kampf gegen „unzivilisierte Barbaren“ (S.
149), und dies obwohl im gemeinsamen Art. 3 der Genfer Konventionen festgelegt
worden war, dass der Kern des humanitären Völkerrechts auch in
nicht-internationalen, bewaffneten Konflikten (zu denen die Kolonialkriege
gerechnet wurden) gültig ist.
Unter der Überschrift
„Entgrenzung kolonialer Gewalt“ wird sodann geschildert, mit welchen Methoden
die Kolonialmächte im Einzelnen vorgingen (S. 171ff.). Dabei werden die
„kollektive Bestrafung und willkürliche Erschießung als zentrale Elemente
kolonialer Kriegsführung“ (S. 171) ebenso dargestellt wie der Einsatz
völkerrechtlich geächteter Kampfstoffe, die Umsiedlung von großen Teilen der
Bevölkerung und ihre Unterbringung in riesigen Lagern sowie die systematische
Folter als Mittel einer „Schlacht um Information“ (S. 214) im antisubversiven
Krieg.
Im letzten Abschnitt des
Hauptteils der Untersuchung („Der internationale Menschenrechtsdiskurs im
Zeichen der Dekolonisierungskriege“) geht der Autor der Frage nach, in welchem
Verhältnis das Vorgehen der Kolonialmächte zur internationalen
Menschenrechtsdebatte stand (S. 239ff.). Während es Großbritannien gelang, die
Widerstandsbewegung der Mau-Mau international zu isolieren, nutzte die
algerische Befreiungsbewegung den Menschenrechtsdiskurs erfolgreich; es gelang
ihr, Frankreich eine entscheidende diplomatische Niederlage zu bereiten. Der
Autor stellt ferner dar, welchen Einfluss die antikolonialen Kämpfe ihrerseits auf
den Menschenrechtsdiskurs hatten. So wurde zum Beispiel in den beiden grundlegenden
Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen, dem Internationalen Pakt über
bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (beide vom 19. 12. 1966), das
Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt (Art. 1).
Abschließend fasst der Autor
die Ergebnisse seiner Untersuchung zusammen (S. 291ff.). Der Anhang (S. 299ff.)
enthält ein Abkürzungsverzeichnis, ein Quellenverzeichnis, ferner ein
umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Abstract sowie ein Sach- und
Personenregister.
Die Untersuchung hat nicht nur
eine umfassende Darstellung des Mau-Mau-Krieges und des Algerienkrieges sowie
einen Vergleich der beiden Konflikte zum Inhalt, sondern macht vor allem auch deutlich,
welche Beziehungen zwischen dem Kampf für die Befreiung von Kolonialherrschaft einerseits
und dem internationalen Menschenrechtsdiskurs andererseits bestanden. Durch die
Verbindung dieser beiden Forschungsbereiche betritt der Autor methodisches Neuland.
Anschaulich wird dargestellt, wie die antikolonialen Bestrebungen durch die
völkerrechtliche Anerkennung universeller Menschenrechte stimuliert wurden. Gezeigt
wird ferner, welche völkerrechtlichen Konsequenzen die Dekolonisation auf den
internationalen Menschenrechtsdiskurs hatte. Was den letzten Punkt angeht, so
sind auch die beiden Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen (8. 6. 1977)
von Bedeutung, die der Verfasser nicht behandelt. Im I. Zusatzprotokoll, das
sich auf internationale, bewaffnete Konflikte bezieht, werden militärische
Kämpfe, die mit dem Ziel geführt werden, das Selbstbestimmungsrecht der Völker
gegen koloniale und unterdrückerische Regime durchzusetzen, den internationalen
(das heißt: zwischenstaatlichen), bewaffneten Konflikten gleichgestellt, so dass
etwa Gefangene aus antikolonialen Befreiungsbewegungen als Kriegsgefangene
einzustufen sind. Ferner wird darin der Guerillakampf, wenn auch nur unter engen
Voraussetzungen, als kriegsrechtlich erlaubt anerkannt, sofern er von Angehörigen
einer antikolonialen Befreiungsbewegung geführt wird. Das II. Zusatzprotokoll
bezieht sich auf nicht-internationale, bewaffnete Konflikte. Da der Autor den
„Analyserahmen“ auf die Jahre von 1941 bis 1966 beschränkt (S. 15), ist es
jedoch konsequent, dass er diese Verträge nicht behandelt.
Dem Leser, der besonders am
Völkerrecht und seiner Geschichte interessiert ist, wird deutlich, in welchem
Maße die Entstehung der Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes, wie
sie etwa in den beiden UN-Menschenrechtspakten von 1966 enthalten sind, von
weltpolitischen Konstellationen und vom Stand politischer, auch militärisch
geführter Konflikte abhängig war. Gezeigt wird ferner, welch starken Einfluss nicht-staatliche
„Kräfte“, vor allem Nichtregierungsorganisationen, Einzelpersonen und die Weltöffentlichkeit,
auf die völkerrechtliche Anerkennung der Menschenrechte hatten.
Die Darstellung
völkerrechtlicher Zusammenhänge ist durchweg präzise und korrekt. Kritisch sei
lediglich angemerkt, dass es problematisch ist, wenn der Verfasser konstatiert,
die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker in die beiden
UN-Menschenrechtspakte bedeute, dass das Selbstbestimmungsrecht damit als „Menschenrecht“
bzw. als „elementares Menschenrecht“ anerkannt worden sei (S. 15, 55 und 289).
Es ist umstritten, ob kollektive Rechte, wie das Selbstbestimmungsrecht der
Völker, das Recht auf Frieden und das Recht auf Entwicklung, als Menschenrechte
zu qualifizieren sind. Herrschend ist die Auffassung, wonach allein individuelle
Rechte als Menschenrechte eingestuft werden können. So hat der Menschenrechtsausschuss,
dessen Aufgabe darin besteht, die Einhaltung des Internationalen Paktes über
bürgerliche und politische Rechte durch die Vertragsstaaten zu überwachen, dem
Selbstbestimmungsrecht der Völker zwar besondere Bedeutung zuerkannt mit der
Begründung, es bilde die Grundlage für die Ausübung der individuellen Rechte.
Der Ausschuss hat das Selbstbestimmungsrecht der Völker aber nicht als
Menschenrecht qualifiziert (vgl. die Allgemeine Bemerkung Nr. 12 des
Ausschusses vom 13. 3. 1984).
Die Abhandlung ist in einem
klaren, prägnanten und lebendigen Stil geschrieben. Der Autor arbeitet häufig
mit entlarvenden Zitaten, in denen sich die rassistische Haltung derjenigen
manifestiert, die am Kampf für die Aufrechterhaltung des Kolonialsystems beteiligt
waren. Hervorzuheben ist ferner, dass der Verfasser in zahlreichen Bibliotheken
und Archiven recherchiert hat, nicht nur in Deutschland, sondern auch in der
Schweiz, den Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Großbritannien,
und dabei bisher nicht publizierte, zum Teil sogar vertrauliche Akten auswerten
konnte. Die Untersuchung kann jedem, der an den historischen Entwicklungen des
20. Jahrhunderts und insbesondere auch am Völkerrecht und seiner Geschichte interessiert
ist, ohne jede Einschränkung und mit Nachdruck empfohlen werden.
Heidelberg Hans-Michael
Empell