Höbelt, Lothar, Franz Joseph I. Der Kaiser und sein Reich. Eine politische Geschichte. Böhlau, Wien 2009. XII, 171 S. Besprochen von Werner Augustinovic.

 

Leben und Regierungszeit der Symbolfigur des seit 1804 bestehenden Kaisertums Österreich waren mit 86 bzw. 68 Jahren außergewöhnlich lang. Allein schon deshalb stellt der Versuch, die Ära Franz Joseph I. auf so knappem Raum als „eine politische Geschichte“ zu präsentieren, eine Herausforderung dar.

 

Kenner der Arbeiten des Wiener Historikers Lothar Höbelt wissen, was sie von diesem einmal als „intellektuellster Agent Provocateur des dritten Lagers“ charakterisierten Autor erwarten dürfen: Spannend geschriebene Geschichte mit pointierten Formulierungen und originellen, unkonventionellen Fragestellungen auf einer soliden Quellenbasis. Hier ist es sein erklärtes Ziel, den Charakter der Habsburgermonarchie als Vielvölkerstaat nicht in anachronistischer Weise dergestalt zu betrachten, dass aus heutiger Sicht rückblickend über mögliche „Lösungen“ der Nationalitätenproblematik spekuliert wird, sondern statt dessen zu analysieren, „wie … dieses Reich funktioniert … hat“ (Vorwort S. VII).

 

Offensichtlich wegen des beschränkten Umfangs verzichtet der Autor auf den üblichen, durch fortlaufende Fußnoten angezeigten Anmerkungsapparat. Dennoch findet sich im Anhang manches Nützliche: eine detaillierte Nationalitätenstatistik für Cisleithanien laut Umgangssprachenerhebung 1880 (leider ohne Quellenangabe), ein Personenregister, eine chronologische Auflistung der Ministerpräsidenten für beide Reichshälften und der Außenminister von 1848 bis 1916/1917 sowie – zuerst allgemein zum Thema und dann separat für neun der insgesamt zehn Kapitel des Bandes – Hinweise zur wichtigsten Literatur. Die vom Autor verwendeten wörtlichen Zitate, zum Teil archivalischer Provenienz, sind durch einen gesonderten Nachweis belegt.

 

Die Studie setzt inhaltlich mit dem Revolutionsjahr 1848 ein und reicht bis zu Kaiser Franz  Josephs Tod im Kriegsjahr 1916. In einem großen Bogen schildert der Autor die relevanten innenpolitischen, außenpolitischen und ökonomischen Faktoren dieser Zeit in ihrer Verschränkung. Ausgehend von den Ereignissen des Jahres 1848, deren Revolutionscharakter er hinterfragt, werden die verschiedenen Anläufe um eine Verfassung und die Ära des Neoabsolutismus unter die Lupe genommen. Anschließend kommt das komplizierte Parteienspektrum ebenso zur Sprache wie Fragen des Kulturkampfes, des Antisemitismus oder der ökonomischen Situation des Großreiches. Verknüpft werden diese Betrachtungen mit dem Blick auf die außenpolitischen Wechselwirkungen und die Rolle der Donaumonarchie im Konzert der europäischen Mächte. Der Analyse der seit dem „Ausgleich“ von 1867 eigenständigen ungarischen Reichshälfte widmet der Band ein eigenes Kapitel.  Thema des letzten Abschnittes ist der Weg Österreich-Ungarns in und durch den Ersten Weltkrieg bis zum Zerfall des Reiches, woran sich noch ein Resümee, überschrieben  „Der Kaiser und seine Völker“, schließt.

 

Der einschlägige, auf den Namen des Regenten konzentrierte Titel des Buches sollte allerdings den Leser nicht dazu verleiten, sich neue, bisher nicht bekannte Informationen über das Leben des Kaisers zu erhoffen. Lothar Höbelt ordnet das Biographische ganz der Epochencharakteristik unter und versucht der Persönlichkeit des Monarchen dort ihren realistischen Ort zuzuweisen. Man erfährt, dass Franz Joseph zwar „subjektiv … ein Konservativer“ war, der „Neuerungen skeptisch gegenüberstand“, aber dennoch keinerlei „Berührungsängste“ hatte, „mit den Radikalen aller Schattierungen zu paktieren“, sofern dies im Interesse der Monarchie opportun erschien (S. 155). Seine Isolation in den späteren Jahren sei auch eine „Vertrauensgrundlage“ gewesen, „eine Garantie der (relativen) Unvoreingenommenheit“, die auch in der Auswahl seiner engsten Paladine zum Ausdruck gekommen sei. Im Hinblick auf das Kardinalproblem der Donaumonarchie, die Nationalitätenfrage, konstatiert der Autor, dass sich Franz Joseph „nie der Illusion hin(gab), eine mehrsprachige „österreichische Nation“ kreieren zu können“. Angelehnt an ein Zitat  Gregor von Rezzoris sei das kaiserliche Österreich eine „Arena der wechselseitigen „fröhlichen Verachtung“ … mit einem erblichen Schiedsrichter, der eine wirklich gefährliche Eskalation hintanhielt“, gewesen, aber „kein Schmelztiegel“ (S. 156f.). Und: „Es ist ein Gemeinplatz: Die Monarchie ging am Nationalismus zugrunde. Es ließe sich genauso gut argumentieren: Die Monarchie ist an der Überschätzung des Nationalismus gescheitert, an der übertriebenen Reaktion auf staatsfeindliche Bestrebungen … Die Kur gegen den irredentistischen „Terrorismus“ war tödlicher als die Krankheit“ (S. 159), denn selbst die Attentäter von Sarajevo seien „gesellschaftlich … alles andere als repräsentativ für die Serben in der Monarchie“ (S. 137) gewesen.

 

Wer dieses Büchlein wirklich mit Gewinn lesen und die gedanklichen Kapriolen des Autors genießen will, wird allerdings gut daran tun, sich im Vorfeld sehr gründliche Kenntnisse der österreichischen Geschichte der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts anzueignen. So unscheinbar der Band ob seines geringen Umfanges daherkommen mag: der spritzige, bewegliche, Gedankengänge oft nur knapp assoziativ anreißende Stil des Autors setzt viel Hintergrundwissen voraus und fordert die Aufmerksamkeit des Lesers ununterbrochen und in einem hohen Maß. Interessierten Historikern bietet die Arbeit aber auch nützliche Anregungen und Hinweise auf Forschungsdesiderate, wie etwa auf das „faszinierende Unterfangen“ (Höbelt) einer noch ausstehenden Analyse der Wechselwirkungen zwischen Politik und Ökonomie am Beispiel des Zuckerkartells zwischen 1903 und 1911 (S. 102).

 

Kapfenberg                                                                Werner Augustinovic