Hetzer, Wolfgang, Rechtsstaat oder Ausnahmezustand? Souveränität und Terror. Duncker & Humblot, Berlin 2008. XIII, 331 S. Besprochen von Bernd Rüthers.

 

Spätestens die Terroranschläge vom 11. September 2001 haben eine globale Gefährdung der Sicherheit von demokratisch organisierten Zivilgesellschaften bewusst gemacht. Die Versuche, solchen Anschlägen wirksam vorzubeugen und sie jedenfalls effizient zu verfolgen, haben seit einigen Jahren in den besonders gefährdeten Ländern zu einer intensiven Diskussion über eine verstärkte Sicherheitspolitik geführt. Die dabei erwogenen Strategien führen in Grenzbereiche der Zulässigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen. Es geht um eine neue Bestimmung des Verhältnisses zwischen öffentlicher Sicherheit und grundrechtlichen Freiheitsgarantien. Die Gesetzgebung unternimmt in den letzten Jahren auf nationaler wie internationaler Ebene immer neue Anläufe, den unleugbaren terroristischen Bedrohungen wirkungsvoll begegnen zu können. Die lebhaften innenpolitischen Debatten über die Rasterfahndung, die staatliche Ausspähung privater Computer, die Telefonüberwachung, den Abschuss entführter Flugzeuge (Luftsicherheitsgesetz), die Zulässigkeit folterähnlicher Verhörmethoden und die Einsätze der Bundeswehr im Innern kennzeichnen die Aktualität der Problematik.

 

Wolfgang Hetzer hat die brisanten Probleme im Titel seines Buches auf die Frage reduziert „Rechtsstaat oder Ausnahmezustand?“.

 

Soll damit die Alternative „Rechtsstaat auch im Ausnahmezustand“ von vornherein für undenkbar erklärt werden? Das verwundert, denn 1967/1968 wurden aufgrund von Initiativen der „außerparlamentarischen Opposition“ (APO) ähnlich absolute Thesen gegen die geplanten Notstandsgesetze angeführt. Diese haben dann die Bürgerfreiheiten der Bundesrepublik, entgegen allen düsteren Vorhersagen, nicht erkennbar beeinträchtigt. Der Autor schreibt einen kämpferischen Stil und ist darin nicht ganz ungeübt. Er beschäftigt sich seit langem mit Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Er war zwei Jahre als Ministerialrat und Referatsleiter im Bundeskanzleramt zuständig für die Aufsicht über den Bundesnachrichtendienst (BND) in den Bereichen organisierte Kriminalität, Geldwäsche, Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen und strategische Überwachung der Telekommunikation. Wegen kritischer Äußerungen in der Öffentlichkeit wurde er 2002 vom Dienst suspendiert.[1][1] Er leitet seither die Abteilung Intelligence: Strategic Assessment & Analysis im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung (OLAF) in Brüssel. Er ist Autor des Buches Tatort Finanzmarkt[2][2], das die Geldwäsche zwischen Kriminalität, Wirtschaft und Politik schildert. Hetzer schreibt ein kämpferisches, journalistisch-polemisches Buch zu brisanten juristischen Fragen von großer sicherheitspolitischer, strafrechtlicher, staatsrechtlicher und freiheits-rechtlicher Bedeutung. Hetzer schreibt erkennbar mehr in rechtspolitischer als in juristisch-analytischer Absicht. Er sieht den Rechtsstaat in Gefahr und will aufrütteln. Gleichwohl ist sein Buch ein spannender Beitrag zur Zeitrechtsgeschichte. Indem er die Argumente und Beweggründe der Vertreter einer Verschärfung der Sicherheitspolitik gegenüber dem Terrorismus darlegt, gibt er einen Einblick in die historischen Entwicklungslinien der Diskussion über das Verhalten und die Chancen des Staates, sich gegen drohende nichtmilitärische Angriffe auf seine Existenz zu wehren.

 

Die Problematik betrifft in ihren Kernfragen staatsrechtliche, polizeirechtliche und strafrechtliche Bereiche, die in der juristischen Diskussion nicht immer scharf getrennt werden. Ein Schwerpunkt liegt in der Frage, wie sich der Rechtsstaat sinnvoll und wirksam gegen eine existentielle Bedrohung durch einen anonym agierenden, global organisierten, religiös motivierten Terrorismus zur Wehr setzen kann. Darüber ist es inzwischen zu einer kontroversen rechtspolitischen Debatte gekommen. Das Stichwort dazu lieferte ein Buchtitel des Kölner Staatsrechtslehrers Otto Depenheuer „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“ (2007).[3][3] Den Ausgangspunkt bildete der Begriff „Feindstrafrecht“. Diese Bezeichnung wurde 1985 von dem Bonner Strafrechtler und Rechtsphilosophen Günter Jakobs vorgeschlagen.[4][4] Er vertrat die Auffassung, im Hinblick auf die Entwicklung des modernen Terrorismus und anderer Kriminalitätsformen müsse neben dem normalen „Bürgerstrafrecht“ ein spezielles „Feindstrafrecht“ geschaffen werden. Diese These blieb lange eine kaum beachtete Außenseitermeinung, bis Jakobs 2004 nachlegte mit seinem Beitrag „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“.[5][5]

 

Mit Hinweis auf die Terroranschläge des 11. September 2001 in den USA bejaht Jakobs ein dringendes praktisches Bedürfnis für ein Feindstrafrecht. Die Bindungen, die sich der Rechtsstaat gegenüber seinen Bürgern auferlege, seien gegenüber Terroristen „schlechthin unangemessen“. Er ist überzeugt, dass derjenige, der die staatliche Rechtsordnung bewusst und entschieden ablehne oder sie sogar zerstören wolle, seine Rechte als Bürger und als Person verliere und deshalb vom Staat mit allen Mitteln bekämpft werden dürfe. Der Terrorist, der die herrschende Gesellschaftsordnung stürzen wolle, der Gewohnheitsverbrecher, der alle staatlichen Gesetze ignoriere oder das Mafia-Mitglied, das nur nach den Regeln seines Clans lebt, seien „Unpersonen“ und dürften nicht als Bürger behandelt werden. Sie seien als „Feinde“ zu bekämpfen. Hatte Jakobs bis dahin den Begriff "Feindstrafrecht" nur kritisch-deskriptiv verwendet, indem er die aus seiner Sicht feindstrafrechtlichen Tendenzen der neueren deutschen Strafgesetzgebung analysierte, so nimmt er jetzt eine mindestens teilweise bejahende Haltung zu der Konzeption des „Feindstrafrechts" ein. Er glaubt mit seiner Darstellung nur das festzustellen, was in der geltenden Rechtslage bereits vorgezeichnet sei.

 

Das Konzept des „Feindstrafrechts“ ruft zwei Erinnerungen wach. Die erste betrifft die während des Nationalsozialismus vorherrschende Lehre vom „Täterstrafrecht“. Die Strafbarkeit sollte sich an dem jeweiligen Tätertyp orientieren, also etwa am „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“, dem „Volksschädling“, dem „Volksfeind“ und dem „Staatsfeind“. Gegenüber dem Vorrang des „Tätertyps“ trat die eigentliche Straftat und ihre strafrechtliche Beurteilung zurück. Ihre Entsprechung in der Justizpraxis fand diese Denkweise etwa in der Schaffung der "Volksschädlingsverordnung" vom 5. 9. 1939, die keine klaren juristischen Tatbestandsmerkmale erforderte, sondern der nationalsozialistischen Rechtslehre vom Tätertyp folgte.[6][6]

 

Das Plädoyer für ein „Feindstrafrecht“ ruft ferner die Erinnerung an den „Begriff des Politischen“[7][7] bei Carl Schmitt, dem späteren NS-Starjuristen wach. Für Schmitt bestand das Wesen des „Politischen“ in der Unterscheidung von Freund und Feind. Politik erwächst danach aus dieser Einteilung der Völker wie der Bürger in „Freunde“ und „Feinde“. Schmitt gibt keine Kriterien an, unter welchen Umständen ein Gegenüber als Feind zu beurteilen ist. Feind ist derjenige, der per autoritativer Setzung des Souveräns zum Feind erklärt wird. Zur Feindschaft gehört nach Schmitt die Möglichkeit der Vernichtung des Feindes: „Die Begriffe Freund, Feind und Kampf erhalten ihren realen Sinn dadurch, daß sie insbesondere auf die reale Möglichkeit des physischen Tötung Bezug haben und behalten.“[8][8] Trotz der offenkundigen Nähe des von ihm vertretenen Feindstrafrechts zu dem Freund-Feind-Schema von Schmitts hat Jakobs diesen Autor lange nicht zitiert und erst auf kritische Vorhaltungen damit reagiert, er verstehe anders als Schmitt nicht den Andersartigen (hostis) als Feind, sondern den gefährlichen Verbrecher (inimicus).[9][9]

 

Das Konzept eines speziellen „Feindstrafrechts“ vermischt – dieser Hinweis sei dem strafrechtlichen Laien gestattet – zwei zu trennende Disziplinen, nämlich die Aufgaben der Gefahrenabwehr als einer typischen Funktion der Polizei und die Aufgaben des Strafrechts, die in der Sanktion begangener und nachgewiesener Straftaten bestehen.

 

Die Rezeption Schmittscher Konzepte für die Verteidigung des Staates gegen terroristische Anschläge reicht inzwischen über das Strafrecht hinaus. So wird etwa darüber diskutiert, unter welchen Voraussetzungen im Rahmen der polizeilichen Gefahrenabwehr gegen den Terrorismus auch militärische Mittel, also der Einsatz der Bundeswehr im Innern, über Art. 35 II, III, 87a II GG hinaus unterstützend zulässig sein soll.[10][10] Die traditionelle Trennung zwischen innerer und äußerer Sicherheit sei durch die Guerillataktik des modernen Terrorismus zunehmend obsolet geworden. Deshalb müsse nach geeigneten Abwehrinstrumenten zur Verteidigung des Rechtsstaates gesucht werden, die dieser neuen Lage gerecht werden könnten.

 

Auf der Suche nach Legitimation für diese Erwägungen in der staatsrechtlichen Literatur glaubte Schäuble, fündig geworden zu sein. In dem bereits genannten ZEIT-Interview[11][11] verwies er auf das Buch des Kölner Staatsrechtlers Otto Depenheuer „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“.[12][12]

 

Diesem Hinweis geht Hetzer ausführlich nach. Er kommt dabei zu der Feststellung, dass ein Kreis von Rechtslehrern des Staatsrechts wie des Strafrechts die juristischen Instrumente der Abwehr des internationalen Terrorismus zunehmend darin findet, an die politischen Lehren Carl Schmitts und seine Thesen zum staatsrechtlichen Ausnahmezustand anzuknüpfen. Er bezieht sich dabei vor allem auf Otto Depenheuer, dessen Lehrer Josef Isensee sowie Günter Jakobs und dessen Schüler Michael Pawlik, die sich insoweit übereinstimmend auf die Lehren Schmitts zum Ausnahmezustand und zum Freund-Feind-Schema stützen.[13][13] Den gemeinsamen Ausgangspunkt der Genannten sieht Hetzer in der These Carl Schmitts „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“[14][14], mit der er die erste Auflage seiner „Politischen Theologie“ 1922 eröffnet. Die traditionelle Funktion des Begriffs der „politischen Theologie“ besteht erfahrungsgemäß darin, dass sie geeignet ist, die Politik zu theologisieren, also mit religiöser Weihe auszustatten, und die Theologie zu politisieren.

 

Schmitt hatte sich damit in die erste Reihe einer Folge von Romantikern des Ausnahmezustandes gestellt. Sein gesamtes autoritäres Leitbild des Staates beruht auf der Grundannahme eines Souveräns, der in der Ausnahmelage des staatsrechtlichen Notstandes frei von normativen Bindungen entscheiden könne. Hetzer verweist darauf, dass Schmitt nach dem 30. Juni 1934 in seiner Rechtfertigung der ersten Massenmordbefehle Hitlers mit einem Artikel „Der Führer schützt das Recht“[15][15] ein praktisches Beispiel für die weite Verwendbarkeit dieser These gegeben hat. Dort heißt es zu diesem von Hitler befohlenen Massaker:

„Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Mißbrauch, wenn er im Augenblick der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft … Der wahre Führer ist immer auch Richter. Aus dem Führertum fließt das Richtertum … In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit.“

Für Schmitt war mit dem Führerprinzip als dem obersten Verfassungsprinzip des NS-Staates die Konzentration auf Hitler, den Souverän, und damit der permanente Ausnahmezustand verwirklicht.

 

In der Anleihe bei dieser Souveränitätslehre Schmitts für die Gegenwart sieht Hetzer das Risiko, dass ihre Vertreter aus der Tatsache einer dauerhaften Bedrohung durch den internationalen Terrorismus einen permanenten verfassungsrechtlichen Ausnahmezustand zu konstruieren versuchen. Michael Stolleis, Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, meint dazu kritisch: Die Angst phantasiert den Ausnahmezustand herbei.[16][16] Das erscheint angesichts der verwendeten Argumente nicht als abwegig.

 

Hetzer weist darauf hin, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Themen in die Diskussion geraten sind, die bis dahin als unverrückbare Grundpositionen der Verfassung galten, etwa die Relativierung der Menschenwürde, eine mögliche Aufweichung des Folterverbots, ein neues Feindrecht und ähnliche Grundwerte (S. 178ff.). Die entscheidende Frage lautet demnach: Kann der demokratische Rechtsstaat gegen seine terroristische Negation verteidigt werden, ohne seine rechtlichen Prinzipien zu verraten?

 

So meint etwa Depenheuer, das Grundgesetz sei für den terroristischen Ernstfall nicht gerüstet. Der internationale Terrorismus unterlaufe das System des bestehenden, den realen Gefahrenlagen inadäquaten Sicherheitsverfassungsrechts.[17][17] Das Luftsicherheitsgesetz dokumentiere ein verdrängtes Problembewußtsein, weil der Gesetzgeber die Erlaubnis zur Waffeneinwirkung auf ein entführtes Zivilflugzeug nur als eine polizeiliche, nicht aber eine militärische Antwort auf die terroristische Gefahrenlage verstehen wolle. Der Terrorismus werde als ein Fall gewöhnlicher Kleinkriminalität behandelt. Das Bundesverfassungsgericht habe mit seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Luftsicherheitsgesetzes die rechtliche Asymmetrie im Kampf gegen den Terror noch verschärft. Die Gründe der Entscheidung enthalten nach Depenheuer eine Kapitulation des Staates gegenüber terroristischen Angriffen, gleichsam eine Einladung an die Terroristen, ihre Taten in Deutschland mittels unschuldiger Geiseln zu planen und fortzusetzen. Dieser ‚Staat der Menschenwürde‘ gebe sich bei de Konfrontation selber auf und das auch noch im Namen der Menschenwürde.[18][18] Für ihn ergebe sich aus der Realität der Ausnahmelage („des Ernstfalles“), dass in einer solchen Situation die Rechtsordnung teils suspendiert, teils im Kampf gegen die „Feinde des Rechts“ instrumentalisiert werde.

 

Hetzer schildert anschaulich und alarmierend zugleich den Begriff des terroristischen Feindes bei Depenheuer. Dieser,insbesondere der „islamistische Feind“, achte weder die Säkularität des Staates noch das Verbot privater Gewaltanwendung, und zwar aus religiösen Motiven, wegen des innerstaatlichen Kampfes um die religiöse Wahrheit. Daraus folge die grundsätzliche Alternative: Entweder werde dieser Feind trotzdem in der Rechtsordnung gehalten und als normaler Straftäter behandelt oder er werde – wie in den USA praktiziert – außerhalb derselben gestellt und einem speziellen Feindrecht unterworfen. Das deutsche Recht kennt zwar nach Depenheuer noch keinen „Feind“ in diesem Sinne. Aber zwischen den beiden Alternativen sei eine Konvergenz zu beobachten. Auch die USA stellten den feindlichen Terroristen nicht völlig rechtlos. In Deutschland entwickele sich subkutan unter den allgemeinen juristischen Begriffen ein spezielles Gefahrenabwehrrecht, in dem die latente Ausnahmelage normativ erkennbar werde. Staatstheoretisch sei es möglich, den Feind des Rechtsstaates durch die Rechtsordnung auch als Feind zu qualifizieren und ihn damit außerhalb des Rechts („hors-de-la-loi“) zu stellen. Verfassungstheoretisch habe dieser Feind keinen Anspruch, nach Maßgabe der Rechtsordnung behandelt zu werden: „Und er hat diesen Anspruch deswegen nicht, weil er sie bekämpft.“[19][19]

 

In diesem Ausschluss des Feindes aus dem Recht liege nach der Dialektik Depenheuers sogar eine Anerkennung seiner Würde. Der Terrorist werde so als Überzeugungstäter ernst genommen und gerade deswegen als Gefahr für die staatliche Gemeinschaft bekämpft. Für Hetzer ist die Erwähnung Guantánamos die phänomenologische Chiffre für die Rechtlosigkeit der gefangenen Feinde. Sie seien keine Rechtssubjekte mehr, sondern hätten nur noch ihr „nacktes Leben“. Die Sicherungsverwahrung in solchen Lagern ohne Rechtsschutz sei danach eine verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaatlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus. Zustimmend zitiert Depenheuer seinen Kollegen Gerd Roellecke: „Feinde bestraft man nicht. Feinde ehrt und vernichtet man.“[20][20]

 

Der Staat ‚fingiere‘ zwar den terroristischen Feind als Rechtssubjekt, erkenne seine Menschenwürde an und garantiere ihm den Schutz der Grundrechte. Aber nach Depenheuer gelte der Satz: „Den Feind rechtlich nicht als Feind zu behandeln steht im Ermessen der rechtsstaatlich verfaßten Gemeinschaft.“[21][21] Auch solche Feinde seien zwar für das geltende Recht „Rechtspersonen“. Aber die einseitige Einräumung von Rechtssubjektivität und gut gemeinter Verhältnismäßigkeit könne leicht als dekadente Schwäche interpretiert und entsprechend beantwortet werden. Deshalb sei nach Depenheuer ein verschärftes Gefahrenabwehrrecht erforderlich: Maßnahmen der präventiven Sicherungsverwahrung, die vorsorgliche Internierung potentiell gefährlicher Personenkreise sowie eine „rechtsstaatlich domestizierte“ Zulässigkeit des Folterns. Die Bereitschaft des Rechtsstaates, Menschenwürde und rechtsstaatliche Garantien auch denen zuzuerkennen, die sie mit Füßen treten, und verachten, sei ein Sicherheitsrisiko. Die künftig immer neu erforderliche Abwägung von Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsansprüchen könne auch anders ausfallen.[22][22]

 

Anschließend erläutert der Autor Hetzer aus seiner Sicht die geistesgeschichtliche Entwicklung der vorstehend geschilderten juristischen Positionen zur Abwehr des Terrorismus. Als geistigen Ahnherrn und Paten, auch Verführer zum Feindrecht und Feindstrafrecht in allen Schattierungen macht er in drei Abschnitten (X-XIII, S. 211-239) vor allem Carl Schmitt, den Starjuristen des Nationalsozialismus im Staatsrecht und der Staatsphilosophie aus. Er analysiert besonders dessen Äußerungen nach dem 30. Juni 1934[23][23], seine Lehre zur Souveränität und Ausnahmezustand[24][24] sowie seine Freund-Feind-Unterscheidung als Maßstab des „Politischen“.[25][25] 1936 hatte Schmitt für den nationalsozialistischen Rechtsstaat, den er als „gerechten Staat“ definierte, die Forderung aufgestellt, der überholte rechtsstaatliche Grundsatz „nulla poena sine lege“ müsse durch den ‚Gerechtigkeitsgrundsatz‘ „nullum crimen sine poena“ ersetzt werden. Die Schmittianer, die jetzt vermeintlich für die Selbstachtung und Selbstbehauptung des Rechtsstaates gegenüber dem Terrorismus eintreten, sollten die Leitsätze ihres Mentors dabei im Gedächtnis haben.

 

Der Autor Hetzer konnte sich bei der Rekapitulation und Analyse der Schmitt’schen Analyse auf die vorhandenen Vorarbeiten stützen. Unverkennbar macht er die geistesgeschichtlichen Wurzeln, die staatstheoretischen Dimensionen und die freiheitsrechtlichen Risiken der neueren Vorschläge zu einer weiteren Verschärfung des „Gefahren-abwehrrechts“ und der parallel dazu geforderten Erweiterung der Sicherheitspolitik deutlich.

 

Man kann vielen Einschätzungen des Autors kritisch und skeptisch gegenüber stehen. Er regt mit seinem engagiert, bisweilen polemisch geschriebenen Buch zum vertieften Nachdenken über die komplexe gegenwärtige Situation der Sicherheitspolitik in Europa und weltweit an. Einfache Lösungen der anstehenden, drängenden Probleme sind nicht sichtbar. Die Erfahrungen mit den speziellen „Feindrechten“ in zwei deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind eine bleibende Warnung vor Anleihen bei den geistigen Urhebern und Konstrukteuren der juristischen Unrechtsinstrumente jener Epochen. Speziell an ausgeklügelten Instrumenten des Feindstrafrechts hält die jüngere deutsche Rechtsgeschichte abschreckende Sammlungen von Beispielen bereit. Auch die Abstufungen der Rechtsfähigkeit und der Rechtssubjektivität im Zivilrecht und Staatsrecht („Rechtsstandschaft“), die Rassegesetzgebung, die Sonderrechtsverordnungen besser: Unrechtsverordnungen für Juden und Zigeuner, die Polenstrafrechtsverordnung u. v. a. sollten vielleicht etwas mehr Sensibilität und Wachsamkeit gegenüber allzu forschen Forderungen nach neuen Notstandsgesetzen bewirken. Dazu leistet das Buch einen beachtenswerten Beitrag.

 

Konstanz                                                                                            Bernd Rüthers



[1][1]        Zu den Gründen vgl. die Zitate bei Reinhold Michels. Otto Schily. Eine Biographie. Deutsche Verlags-Anstalt, 2001.

[2][2]             Europäische Verlagsanstalt, 2003.

[3][3]           Das Buch ist die Ergänzung zu einem von seinem Lehrer Josef Isensee herausgegebenen Band „Der Terror, der Staat und das Recht“ (Berlin 2004). Vgl. auch Otto Depenheuer, Das Bürgeropfer im Rechtsstaat, in: Ders.Deppenheuer, O., (Hrsg.), FS-Isensee Staat im Wort, Heidelberg 2007, S. 43, 50.

[4][4]              Günther Jakobs: Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 97 (1985), S. 751–785.

[5][5]  Günther Jakobs: Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht. In: HRRS 3/2004, S. 88–95.

 

[6][6]  Am 1. Januar 1945 wurde noch das „Gemeinschaftsfremdengesetz“ erlassen. Zweck des Gesetzes: Wer sich nach Persönlichkeit und Lebensführung, insbesondere wegen außergewöhnlicher Mängel des Verstandes oder des Charakters außerstande zeigt, aus eigener Kraft den Mindestanforderungen der Volksgemeinschaft zu genügen, sollte als Gemeinschaftsfremder polizeilich überwacht, sterilisiert, in Lagerhaft genommen und gegebenenfalls mit dem Tode bestraft werden können. ( N. Frei, Der Führerstaat, München 1989, S. 148). Maßgeblicher wissenschaftlicher Inspirator des Gesetzes war der Münchener Strafrechtsprofessor Dr. Edmund Mezger, nach 1945 Autor eines Standardlehrbuches zum Strafrecht der Bundesrepublik.                       
 

                

 

[7][7]  C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, zuerst in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik Bd. 58 (1927), S. 1 bis 33; Neudruck München/Leipzig 1932.,

[8][8]  C. Schmitt, 1932, S. 20; vgl. dazu B. Rüthers, Carl Schmitt als politischer Denker, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, 1/2003, 634, 66 f.

[9][9]  G. Jakobs, Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit, in: HRRS Ausgabe 8-9/2006, S. 294.

[10][10]  W. Schäuble, ZRP 2007, 210, 213; vgl. auch das Interview in DIE ZEIT, vom 19. Juli 2007, S. 4.,

[11][11]  DIE ZEIT v. 19. Juli 2007 S. 4.

[12][12]  O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Paderborn 2007.

[13][13]  O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Paderborn 2007, S. 20 ff.; Josef Isensee: „Not kennt Gebot“ in: FAZ, 21. 1. 08; ders.Depenheuer (Hrsg.), Der Terror, der Staat und das Recht, Berlin 2004; dersDepenheru,. Der Terror und der Staat, dem das Leben lieb ist, in:  ders. Depenheuer (Hrsg.), Der Terror, der Staat und das Recht, Berlin 2004, S. 83-108; Michael Pawlik, Der Terrorist will nicht resozialisiert werden, in: FAZ v. 25. Februar 2008, S, 40; Günter Jakobs, Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutverletzung, ZStW 97 (1985), S. 751-785; ders.,Jakobs,  Terroristen als Personen im Recht, ZStW 117 (2005), S. 839-851; ders.,Jakobs, Feindstrafrecht – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit, HRRS 2006, S. 239-297.

[14][14]  C. Schmitt, Politische Theologie,  München/Leipzig 1922.

[15][15]  C. Schmitt, DJZ 1934, Sp. 943 ff.

[16][16]             Zitat nach Thomas Darnstädt, Der Mann der Stunde, in: Der Spiegel 39/2008, S. 160

 

 

[17][17]  O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Paderborn 2007, S. 22 f.

[18][18]  O. Depenheuer, S. 26 f.

[19][19]  W. Hetzer S. 198 f.; O. Depenheuer, S.  60 ff.

[20][20]  O. Depenheuer, S. 64.

[21][21]  O. Depenheuer, S. 66.

[22][22]  O. Depenheuer, S. 71 f., W. Hetzer, S. 200 f.

[23][23]  C. Schmitt, DJZ 1934, Sp. 943 ff.

[24][24]  C. Schmitt, Politische Theologie, München/Leipzig 1922

[25][25]  C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, zuerst in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. 58 (1927), S. 1 bis 33; Neudruck München /Leipzig 1932.