Hartmann, Christian/Hürter, Johannes/Lieb, Peter/Pohl, Dieter, Der deutsche Krieg im Osten 1941-1944. Facetten einer Grenzüberschreitung (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 76). Oldenbourg, München 2009. IX, 404 S. Besprochen von Werner Augustinovic.
Als im Jahr 1995 die „Urversion“ der Ausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit der ihr vorgeworfenen Pauschalverurteilung der Angehörigen der ehemaligen deutschen Wehrmacht die Emotionen hochgehen ließ, sah sich das renommierte Münchener Institut für Zeitgeschichte als die erste Adresse der deutschen Geschichtsforschung für die jüngere Vergangenheit zur fachlichen Stellungnahme aufgefordert. Die Bemühungen mündeten in ein umfangreiches Forschungsprojekt über die Funktion der Wehrmacht während der nationalsozialistischen Diktatur unter Einschluss ihrer Sozialgeschichte, dessen Ergebnisse sich in fünf großen Monographien, über 50 Einzelstudien und zahlreichen Kolloquien manifestieren.
Das vorliegende Sammelwerk, das insgesamt neun Beiträge – allesamt bereits andernorts publiziert – in einem Band vereinigt, soll den Abschluss dieses Programms bilden. Sechs der Aufsätze wurden zwischen 2000 und 2004 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte erstveröffentlicht; bei den drei weiteren handelt es sich um eine Arbeit aus einem Sammelwerk zur nationalsozialistischen Lagerpolitik (2000), einen Beitrag aus der Festschrift für Winfried Baumgart (2003) und um die Übersetzung einer Darstellung aus dem Französischen (2006). Zwei Studien (Lieb: „Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941/42“ und Hartmann: „Massensterben oder Massenvernichtung? Sowjetische Kriegsgefangene im ‚Unternehmen Barbarossa’. Aus dem Tagebuch eines deutschen Lagerkommandanten“) wurden unter dem Titel „Nachbemerkung 2009“ kurze, jeweils etwa eineinhalbseitige Aktualisierungen angefügt. Bis auf Peter Lieb, der an der Militärakademie Sandhurst in Großbritannien lehrt und einen Aufsatz beisteuert, sind alle Autoren wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte: Christian Hartmann (3 Beiträge, darunter einer in Koproduktion mit Jürgen Zarusky), Johannes Hürter (3 Beiträge) und Dieter Pohl (2 Beiträge). Der Umfang der Aufsätze schwankt zwischen einem Minimum von 20 Seiten (Pohl: „Die deutsche Militärbesatzung und die Eskalation der Gewalt in der Sowjetunion“) und Maximalwerten um die 70 Druckseiten (Hartmann: „Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht? Überlegungen zur Struktur des deutschen Ostheeres“ und Hürter: „’Es herrschen Sitten und Gebräuche, genauso wie im 30-jährigen Krieg’. Das erste Jahr des deutsch-sowjetischen Krieges in Dokumenten des Generals Gotthard Heinrici“, dessen Beitrag jedoch mehr als zur Hälfte aus einer reinen Edition besteht). Die quellenkritische Abhandlung von Hartmann und Zarusky über „Stalins ‚Fackelmänner-Befehl’ vom November 1941. Ein verfälschtes Dokument“ fällt ob ihrer Kürze von nur sechs Textseiten gänzlich aus dem Rahmen der übrigen Beiträge.
Die zitierten Überschriften der Aufsätze – zu nennen sind noch „Die Wehrmacht vor Leningrad. Krieg und Besatzungspolitik der 18. Armee im Herbst und Winter 1941/42“ (Hürter), „Schauplatz Ukraine. Der Massenmord an den Juden im Militärverwaltungsgebiet und im Reichskommissariat 1941-1943“ (Pohl) und „Nachrichten aus dem ‚Zweiten Krimkrieg’ (1941/42). Werner Otto von Hentig als Vertreter des Auswärtigen Amts bei der 11. Armee“ (Hürter) – lassen das thematische Spektrum deutlich werden, das abzudecken sich der Band bemüht. Neben grundsätzlichen Überlegungen und bestimmten Tatorten (Ukraine, Leningrad) stehen häufig Zeitzeugen und Entscheidungsträger verschiedener Ebenen (Generaloberst Gotthard Heinrici als Korps- und Armeeführer; Oberst Carl von Andrian als Regimentskommandeur; Oberstleutnant Johannes Gutschmidt als Kommandant von Kriegsgefangenenlagern; Gesandter Werner Otto von Hentig als Vertreter des Auswärtigen Amts) und deren Aufzeichnungen im Mittelpunkt des Interesses, wobei stets die Fragen nach ihrer persönlichen Prägung, ihren Beobachtungen oder ihrem Verhaltensspielraum in der konkreten historischen Situation gestellt werden. Durch die genaue Prüfung überlieferter, zu einem großen Teil von der Forschung bisher jedoch noch zu wenig beachteter Unterlagen sollen unreflektierte Pauschalurteile vermieden und durch gesicherte und vertiefte Erkenntnisse ersetzt werden.
Der erste Aufsatz fungiert dabei als Wegweiser und als theoretischer Rahmen für den gesamten Band; in dieses Koordinatensystem werden alle folgenden Beiträge gleichsam als Illustrationen und erweiterte Belege eingefügt, weshalb er hier näher vorgestellt werden soll. Christian Hartmann bemüht sich, die Komplexität der Faktoren, die eine seriöse Beantwortung der Kardinalfrage „Verbrecherischer Krieg – verbrecherische Wehrmacht?“ mit Bezug auf den einzelnen Soldaten als Verantwortungsträger erst ermöglichen, herauszuarbeiten, wobei aus seiner Danksagung (S. 71, Anm. 421) zu ersehen ist, dass er hier für alle Autoren des Bandes spricht.
„Waren es viele oder waren es wenige?“ (S. 5), die sich an der Ostfront an Kriegs- oder NS-Verbrechen beteiligt haben, fragt er mit Blick auf zwei völlig unterschiedliche Einschätzungen Hannes Heers (60-80 Prozent) und Rolf-Dieter Müllers (unter 5 Prozent). Die Dominanz des Militärischen, wie sie schon in der Funktionsaufteilung der Wehrmacht mit einem Verhältnis von 85 % Kampftruppen zu 15% Versorgungstruppen (bei der US-Army lag dieses Verhältnis bei 57% zu 43%!) zum Ausdruck kommt, habe dazu geführt, dass die Masse der Soldaten (1943: 2,4 von 2,5 Millionen Mann) in vorderster Front oder frontnah eingesetzt war, aber nur ein verschwindend geringer Teil (100.000 Mann) die riesigen Räume der sogenannten Rückwärtigen Heeresgebiete zu sichern hatte. In diesem Hinterland vollzogen sich jedoch zumindest vier große Verbrechenskomplexe: die zum größten Teil die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft ziehende Partisanenbekämpfung, die systematische Unterversorgung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die rassistische Mordpolitik des SS- und Polizeiapparats und die im krassen Widerspruch zur Haager Landkriegsordnung jedes angemessene Verhältnis außer Acht lassende Ausbeutung der besetzten Gebiete. Militärische und nichtmilitärische Organisationen waren arbeitsteilig für diese Taten verantwortlich, wobei Hartmann die institutionelle Verantwortung „der“ Wehrmacht wie auch die persönliche Verantwortung ihrer Angehörigen für jeden Bereich exemplarisch penibel nachprüft und so zu differenzierten Urteilen gelangt. Für die Judenvernichtung bilanziert er beispielsweise wenig überraschend: „Ohne die funktionale Mitwirkung der Wehrmacht wäre der Völkermord im Osten niemals in dieser Form möglich gewesen. Viele Soldaten haben diese Entwicklung hingenommen, manche haben sie auch dezidiert gebilligt. Doch waren die meisten dieser Soldaten – wenn überhaupt – nicht mehr als Zeugen des Holocaust. Die Zahl der Komplizen scheint dagegen sehr klein geblieben zu sein, noch kleiner aber die der Täter selbst“ (S. 35).
Doch auch der Front, wo die personelle Fluktuation in den Verbänden besonders groß war und die ohnehin geringe Lebenserwartung der eingesetzten Soldaten von Jahr zu Jahr stetig abnahm, kann Hartmann vier zusätzliche Verbrechensfelder zurechnen: die Exekution des Kommissarbefehls – er ordnete die verfahrenslose Liquidierung der politischen Kader der Roten Armee nach Gefangennahme an; den Kriegsgerichtsbarkeitserlass Barbarossa – ein Rahmenbefehl, der die sowjetische Zivilbevölkerung der ordentlichen Kriegsgerichtsbarkeit entzog, sie damit der Willkür der Truppe auslieferte und der zugleich den Verfolgungszwang für Straftaten von Wehrmachtsangehörigen gegen diese Bevölkerung aufhob; verbrecherische Kriegsführung, wie sie durch die genozidal motivierte Aushungerung Leningrads praktiziert wurde, ein Vorgehen, das auch für Moskau und Stalingrad geplant war, aber durch den Fortgang des Kriegsgeschehens obsolet wurde; und schließlich die Zwangsdeportationen und Devastationen, Maßnahmen der während des deutschen Rückzuges praktizierten Strategie der „Verbrannten Erde“. Auch hier urteilt der Verfasser differenziert: Während „die meisten deutschen Soldaten das Deportationsprogramm“ (das ja die eigene Absetzbewegung nur verzögerte und dadurch die Gefahr, selbst vom Feind überrollt zu werden, erhöhte; W. A.) „ohne jede Begeisterung“ hinnahmen, hätten sich hingegen „sehr viel mehr Frontsoldaten an den groß angelegten Zerstörungs- und Ausplünderungsmaßnahmen beteiligt“. Neben einer „allgemeinen Untergangsstimmung“ sei in dieser Phase jedenfalls zu berücksichtigen, dass es für viele „auch gar keine andere Möglichkeit [gab], um das eigene Überleben irgendwie zu sichern“. (S. 60f.)
Dass die Schuld der Institution Wehrmacht insgesamt groß gewesen sei, sei - nicht zuletzt durch die Fülle an Belegen, die im Zug der alliierten Nachkriegsprozesse aufgeführt wurden - lange hinreichend bekannt; zentral sei jetzt aber die Frage, in welchem Ausmaß auch ihre Angehörigen schuldig geworden seien. Christian Hartmann plädiert – eine alte Forderung des Militärhistorikers Bernd Wegner aufgreifend – für eine quantifizierende Methode, um die Dimensionen der Problematik einigermaßen richtig ausloten und zu verlässlichen Aussagen gelangen zu können. Denn noch könne man erst ziemlich vage konstatieren: „Dass der Anteil an wirklich kriminellen Tätern im Ostheer verhältnismäßig gering war, lässt sich doch mit ziemlicher Sicherheit feststellen. Anders verhält es sich, wenn es um absolute Zahlen geht. Angenommen, die geschätzte Täterquote von 5 Prozent würde zutreffen, dann hieße das, dass bei einer Gesamtzahl von vermutlich 10 Millionen Soldaten, die an der Ostfront eingesetzt waren, immerhin eine halbe Million gegen Recht und Sitte verstoßen hätten. Das sind nicht wenige. Zu bedenken ist ferner, dass ihre Verbrechen in ihrem institutionellen wie in ihrem persönlichen Umfeld weite Kreise gezogen haben. Vor allem aber haben diese verhältnismäßig wenigen Täter viel bewirkt; auch das ist ein Strukturmerkmal dieses Krieges, dieser Armee und dieses politischen Systems. Trotzdem: Im gesamten Ostheer befanden sie sich eindeutig in der Minderheit.“ (S. 68)
So vermittelt der gefällige Band, der jedem Abschnitt auch jeweils eine passende Fotografie voranstellt, einen kompetenten Einblick in grundlegende Aspekte des wissenschaftlichen Diskurses um Position und Verantwortung der Wehrmacht und vor allem ihrer Angehörigen unter den Rahmenbedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft und Ideologie. Die Auswahl der Autoren garantiert die für die Arbeit des Instituts für Zeitgeschichte typische, akribisch an den Quellen orientierte und trotzdem auch einem größeren Interessentenkreis verständliche Darstellung, die hier bei genauer Durchsicht unter gelegentlichen Sorgfaltsmängeln leidet, die wohl dem Verlag anzulasten sind. Mancher Leser wird, davon unbeeindruckt, durch die Lektüre auf den Geschmack kommen und sich nun auch an Christian Hartmanns umfangreichere Studie „Wehrmacht im Ostkrieg“ heranwagen.
Kapfenberg Werner Augustinovic