Handbuch
der Grundrechte in Deutschland und Europa, hg. v. Merten, Detlef/Papier,
Hans-Jürgen. Bd. 6,2 Europäische Grundrechte II - Universelle
Menschenrechte. C. F. Müller, Heidelberg 2009. XXXI, 726 S. Besprochen von
Tilman Repgen.
Fünf
Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes des „Handbuchs der Grundrechte in
Deutschland und Europa“ (besprochen in dieser Zeitschrift von Ulrich
Eisenhardt, ZRG GA 122 [2005], S. 454-456; vgl. auch Tilman Repgen, in: http://www.forhistiur.de/zitat/0701repgen1.htm)
und drei weiteren Bänden ist hier Band VI/2 anzuzeigen, der „als Rückschau und
als Ergänzung zum ersten Halbband „europäische und nationale „Grundrechtsräume“
(Vorwort, S. V) einander gegenüberstellt und zugleich die Perspektive auf
die Universalität der Menschenrechte lenkt. Damit gibt dieser Band der Dogmatik
der europäischen Grundrechte, die in Band VI/1 behandelt werden soll,
gewissermaßen die Tiefenschärfe. Das Handbuch folgt in Ausstattung und Layout
dem Handbuch des Staatsrechts von Josef Isensee und Paul Kirchhof. Kluge
Inhaltsübersichten, praktische Orientierung über Randnoten und Marginalien
sowie nützliche Register werden mit einem optimalen Druckbild und bester
buchmacherischer Tradition verbunden. Wissenschaftliche und handwerkliche
Qualität hat der Verlag in glücklicher Weise zusammengeführt.
Das
Gesamtwerk ist auf neun Bände angelegt, deren ersten fünf die deutschen
Grundrechte betreffen. Nach Band I, der Entwicklung und Grundlagen der
Grundrechtsdogmatik behandelt, folgen in den Bänden II-V die Grundrechte in
Deutschland. Band VII schaut auf das deutschsprachige Ausland, Band VIII auf
West-, Nord- und Südeuropa und Band IX schließlich in den Osten. Band VI
verfolgt das Thema also aus einer internationalen Sicht, die wohl in ganz besonderem
Maß seit dem „vorbildhaften Grundrechtshandbuch“ (Widmung von Bd. I), dem
Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte von Ulrich Scheuner, Hans-Carl
Nipperdey und Karl August Bettermann, gewechselt hat.
Weitet
man die Perspektive auf die Grundrechte über die nationale Sicht hinaus, so
stellt sich zunächst die Frage nach der Geltungskraft der die Grundrechte
verbürgenden Normen. Bevor man die Ebene des Völkerrechts mit seinem
universalen Geltungsanspruch erreicht, ist man in Europa mit dem
Gemeinschaftsrecht konfrontiert. Der Europäischen Union fehlt die Eigenstaatlichkeit
– und dennoch reklamiert sie für sich ein Letztentscheidungsrecht. Gerade auf
dem Gebiet der Grundrechte ist, wie zuletzt die Lissabon-Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 30. 6. 2009 - 2 BvE 2/08 u. a., NJW
2009, 2267) gezeigt hat, diese Kompetenz der Europäischen Union allerdings
problematisch. Wie in einem Brennglas kann man die Problematik in der
Diskussion über das Mangold-Urteil des EuGH (EuGH vom 22. 11. 2005 – Rs.
C-144/04 – Slg. 2005, I-9981) sehen, wo der Gerichtshof unter Berufung auf ein
europäisches Grundrecht („Verbot der Altersdiskriminierung“) bestimmte Regelungen
des deutschen Sozialrechts für gemeinschaftswidrig erklärt hat (zum Ganzen:
Lüder Gerken/Volker Rieble/Günter H. Roth/Torsten Stein/Rudolf Streinz,
„Mangold“ als ausbrechender Rechtsakt, München 2009). Diese tagesaktuellen
Streitfragen der Rechtswissenschaft verdienen durchaus auch die Aufmerksamkeit
der Rechtshistoriker, da die Interpretation der Grundrechtssysteme wegen ihrer
Lebendigkeit immer wieder der historischen Standortbestimmung bedarf. Hinzu tritt
die unmittelbare Relevanz dieser Debatten für die juristische Zeitgeschichte,
ganz gleich, ob das Verfassungsrecht oder das Privatrecht angesprochen ist.
Der
Band VI/2 enthält zwei Teile: Zunächst geht es um europäische und nationale
Grundrechtsräume; der zweite Teil ist den universellen Menschenrechten
gewidmet, insbesondere in den Vereinten Nationen. Den Auftakt bildet ein
Grundsatzreferat von Dieter Grimm über die Bedeutung der nationalen
Verfassungen im vereinten Europa. Grimm geht zurück auf die Frühzeit des
Konstitutionalismus des 18. Jahrhunderts, in der die Legitimation politischer
Herrschaft aus dem Konsens des Volkes rechtliche Qualität bekam. Daraus leitet
er den Anspruch der Verfassung ab, dass jede Herrschaft exklusiv auf der Verfassung
beruhen müsse (§ 168 Rn. 3). Die Staatsgewalt sei ihrer Idee, so führt Grimm
aus, keiner höheren Instanz unterworfen. Völkerrecht sei durchweg aus dem
Willen sich selbst bindender Staaten abgeleitet worden. Erst nach dem zweiten
Weltkrieg habe sich, so liest man weiter, durch die „Entstehung supranationaler
Hoheitsgewalt die Identität von öffentlicher Gewalt und Staatsgewalt“
(Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“, § 168 Rn. 13) aufgelöst. Die
Gründung der Vereinten Nationen ist gleichsam der Wendepunkt. Nur in seltenen
Fällen ist ein Staat jedoch Hoheitsakten der Vereinten Nationen ausgesetzt. Das
ist anders mit dem Verhältnis zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten.
Während der Menschenrechtsschutz vom Europarat letztlich nicht erzwungen werden
kann, hat die Europäische Union Souveränitätsrechte der Mitgliedstaaten
teilweise übernommen. Den Mitgliedstaaten bleibt allerdings die „Kompetenz-Kompetenz“
(§ 168 Rn. 13). Es wäre einseitig, wollte man den Einfluss der Europäischen
Union auf die Mitgliedstaaten als Einbahnstraße betrachten. Zu Recht macht
Grimm auch auf die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten bei europäischen
Gesetzgebung selbst aufmerksam (Rn. 22ff.).
Für
das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationaler Verfassung ist es interessant,
dass der Konflikt anfangs ungeregelt blieb. Erst die Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs seit 1963 (Urteil vom 5. 2. 1963, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1) hat den
Vorrang des Gemeinschaftsrechts ausgesprochen und so die merkwürdige Sonderstellung
des „Staatenverbunds“ (so der Leitsatz von BVerfG,
Urteil vom 30. 6. 2009 - 2 BvE 2/08 –
Lissabon; Peter M. Huber, § 172 Rn. 2 ff., spricht von
einem „Verfassungsverbund“; Rupert
Scholz, § 170 Rn. 17
gebraucht den Begriff „kooperative Verfassungsstaatlichkeit“)
geschaffen, wonach das Gemeinschaftsrecht unmittelbar in den Mitgliedsstaaten
gilt. Das Kernargument dabei ist, dass anders nicht die Einheitlichkeit der
Union gewährleistet werden könne. Dabei beansprucht das Gemeinschaftsrecht
einen „Anwendungsvorrang“ (Rn. 31). Mit den Beobachtungen zu den
Schwierigkeiten infolge der Politik „positiver Integration“ (Rn. 34) erreicht
man endgültig das Gebiet heutiger politischer Auseinandersetzung, die gerade
auch über die Frage der Kompetenzen nationaler Verfassungsgerichte im
Verhältnis zur Europäischen Union geführt wird, schließlich beansprucht der Europäische
Gerichtshof auch für die Frage, ob der Union überhaupt eine bestimmte Kompetenz
zustehe, die Letztentscheidung (Rn. 36). Die Tendenz der Verfassungsgerichte
ist es, zwar im Prinzip einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu akzeptieren,
aber eine Überprüfung im Falle der Verletzung verfassungsrechtlicher
Grundprinzipien vorzubehalten (Rn. 42; vgl. BVerfGE 73, 339 – Solange II, zu
dieser Entscheidung auch Scholz, § 170 Rn. 8, 28-30 mit der z. B.
im Hinblick auf die Antidiskriminierungspolitik sehr nachdenkenswerten
Konkretisierung des verfassungsgerichtlichen Vorbehalts, ein Verstoß gegen den
geforderten Grundrechtsschutz liege vor, „wenn ein nationales Grundrecht in
‚offenkundiger‘ (evidenter) und ‚typischer‘ Form durch das Europäische
Gemeinschaftsrecht verdrängt oder beeinträchtigt“ werde [§ 170 Rn. 30]; ausführlich
zur Rolle des EuGH im Verhältnis zu den nationalen Gerichten Peter M. Huber, § 172). Dieses Problem ist gerade
deshalb so heikel – und dafür schärft die historische Sichtweise, wie sie Grimm
benutzt, den Blick –, weil es hier um die Erhaltung eines Kerns
nationalstaatlicher Souveränität geht. So wie sich auf dem Gebiet der
Gesetzgebung die Kompetenzen der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten
verschränkt haben, ist es auch auf der Ebene der Gerichtsbarkeit (Rn. 45). Es
ist ein wichtiges Verdienst dieses Grundsatzbeitrags von Grimm, die eigenartige
Wechselwirkung zwischen der Gemeinschaft und den souveränen Einzelstaaten aus
der Geschichte des Konstitutionalismus heraus zu beleuchten. Dass dabei die
Beweisführung für die historischen Annahmen weitgehend unbelegt bleibt, ist
allerdings ein Nachteil, der in einem Handbuch wohl vermeidbar gewesen wäre.
Immerhin wird die Darstellung der Entwicklung des europäischen
Gemeinschaftsrechts dann doch mit einigen wesentlichen Nachweisen insbesondere
aus der Rechtsprechung überzeugend untermauert.
Christoph Grabenwarter
behandelt die Tragweite der Europäischen Menschenrechtskonvention im Verhältnis
zum nationalen Verfassungsrecht (§ 169). Dem folgen drei Abhandlungen zum
Gemeinschaftsrecht: Rupert Scholz
schreibt über „Nationale und europäische Grundrechte – unter besonderer
Berücksichtigung der Europäischen Grundrechtecharta“ (§ 170; dazu auch § 185
Rn. 19ff., 25f.), Vassilios Skouris über „Nationale Grundrechte und
europäisches Gemeinschaftsrecht“ (§ 171) und schließlich – wie erwähnt – Peter M. Huber über das Verhältnis
des Europäischen Gerichtshofs zu den nationalen Gerichten. Die im Beitrag Grimms
aufgeworfenen Grundprobleme werden hier – insbesondere im Hinblick auf die
Grundrechte – vertieft. Bemerkenswert ist, dass die Grundrechtecharta, die im
wesentlichen 1999/2000 ausgearbeitet worden ist, bis zur Ratifikation des
Vertrags von Lissabon keine Rechtsnormqualität hat. Sie wurde dennoch von
Anfang an ähnlich einer vorgegebenen Rechtsidee in der Dogmatik berücksichtigt.
Vieles spricht in der Tat dafür, in den Grundrechten Rechtsprinzipien zu sehen,
die dem Zugriff auch des europäischen Gesetzgebers entzogen sind. Die Antwort
auf die Suche nach dem Geltungsgrund solcher Rechtsprinzipien bleibt jedoch
seltsam offen (Scholz, § 170 Rn. 17).
Die
Frage nach einer überpositiven Begründung der Menschenrechte steht noch stärker
im Raum, wenn es im zweiten Teil des Handbuch-Bandes um „universelle
Menschenrechte“ geht, wie sie sich im Völkerrecht entwickelt haben. Martin Nettesheim bemüht in
seinem Aufsatz über „die allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur“
(§ 173) immerhin manche historische Daten zur Skizzierung der
Entstehungsgeschichte. Er bleibt dabei in den „klassischen“ Bahnen, verwirft
die Relevanz der antiken und biblischen Tradition, da hier noch keine
„rechtliche“ Ausformung der Idee zu finden sei. Das ist mindestens für die
jüdisch-christliche Tradition sehr fragwürdig. Dasselbe gilt für die strikte
Differenzierung im Menschenbild zwischen amerikanischer Verfassung
(christliches Menschenbild) und der Aufklärungsphilosophie bei der französischen
Erklärung von 1789 (§ 173 Rn. 5). Das erscheint doch recht vordergründig, weil
die vernunftrechtlichen Vertragstheorien implizit für die Vertragsschließenden
bereits die Freiheit und Gleichheit der Parteien voraussetzen müssen, die sich
sinnvoll – auch für die Aufklärungsphilosophie – nur aus der Personalität des
Menschen begründen lassen. – Für ein historisches Erkenntnisinteresse nützlich
ist der handliche Zugriff auf die engere Entstehungsgeschichte der UN-Charta
(§ 173 Rn. 9-11) sowie die Würdigung ihrer Wirkungsgeschichte (§ 173
Rn. 24-37). – Sehr zurückhaltend bleibt Nettesheim hinsichtlich des Grundes für
eine universelle Geltung der Menschenrechte (§ 173 Rn. 66-70). Nettesheim
betont die praktisch-politischen Schwierigkeiten und konstatiert, die UN-Charta
sei noch keine Grundrechtscharta.
Christoph Vedder
beschäftigt
sich mit den allgemeinen UN-Menschenrechtspakten von 1966 (§ 174).
Interessant ist hier, dass Vedder die Inhalte für im Kern gewohnheitsrechtlich
gültig hält, so dass es auf die Ratifikation in den einzelnen Staaten nicht
ankomme (Rn. 1). Die Menschenrechtspakte sind in der Zeit des Kalten Kriegs
entstanden. Der Ostblock konnte sich nicht damit durchsetzen, politische und
wirtschaftlich-sozial-kulturelle Menschenrechte in einem einzigen Vertrag
unterzubringen (Rn. 8). So war es möglich, auch getrennte Durchsetzungsverfahren
zu entwickeln. Anders als die politischen Abwehrrechte (Menschenrechte der ersten
Generation) erlangten die Teilhaberechte (zweite Generation) erst mit dem Internationalen
Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR, BGBl. 1973
II, S. 1569, zu den Inhalten ausführlich Rn. 93ff.) positive Rechtskraft.
Die Missachtung solcher Teilhaberechte im 19. und 20. Jahrhundert hat die
ursprüngliche Freiheitsidee, wie sie in der Aufklärung formuliert worden ist,
verdunkelt. Beide Aspekte – frei und sozial – gehörten anfänglich zusammen, wie
Joachim Rückert („Frei und sozial“ als Rechtsprinzip,
Baden-Baden 2006) eindrucksvoll geschildert hat. Schon die Gewährleistung der
politischen Abwehrrechte, z. B. des Verbots der Leibeigenschaft bzw. Sklaverei,
war in ihrer politischen Umsetzung ein sehr langsamer Prozess. Zu erinnern ist
daran, dass von der entsprechenden Forderung des Sachsenspiegels (Ldr. III 42)
bis zur Verwirklichung in seinen Stammlanden fast 600 Jahre vergingen. – Auch
sonst berührt die Materie vielfach uralte Menschheitsfragen. Als Beispiel mag Art.
16 ICCPR dienen (Rn. 52), der das Recht auf Anerkennung der
Rechtspersönlichkeit eines jeden Menschen festschreibt. Die spanische
Spätscholastik hatte in besonderer Weise den Blick dafür geschärft, dass
niemand, auch nicht die Bewohner der Kolonien, ohne Rechtspersönlichkeit ist.
Solche historischen Dimensionen finden allerdings in der Abhandlung Vedders nur
ganz am Rande (z. B. Rn. 56 – Zusammenhang von Religionsfreiheit und Augsburger
Religionsfriede) und damit vielleicht doch zu selten Berücksichtigung. Sie
helfen auch nur dem Wissenden (z. B. Rn. 87 – „Minderheitenschutz ist
spätestens in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg … ein … Anliegen des
Völkerrechts geworden“). Niemand erwartet in einem Handbuch zu den Grundrechten
ausführliche historische Analysen, aber ein Hinweis auf das Problem von Flucht
und Vertreibung seit dem Ersten Weltkrieg hätte hier z. B. nicht geschadet.
Die
speziellen Konventionen zu den Rechten der Frauen und der Kinder sowie die Antidiskriminierungs-Konventionen
behandelt Wolff Heintschel von
Heinegg in einem gesonderten Abschnitt (§ 175), obgleich sie auch
schon von Vedder angesprochen worden sind. Auch hier bleiben die
sozialgeschichtlichen Hintergründe leider fast vollständig ausgeklammert. Mit
der gerade im Völkerrecht prekären Situation der Rechtsdurchsetzung beschäftigt
sich der umfangreiche Beitrag Hans-Georg
Dederers (§ 176). Zwar konstatiert Dederer, dass sich die
Wirksamkeit der Menschenrechte an ihrer Durchsetzbarkeit erweise, er berichtet
aber nicht über die faktische Seite dieser Frage, sondern über die normative,
manchmal unter Rückgriff auf praktische Beispiele (z. B. Rn. 15 – Somalia
1992). Schon dies ist viel, aber es zeigt sich auch, wieviel Arbeit noch zu leisten
ist.
Nach
Europäischer Union und Vereinten Nationen wechselt noch einmal die Perspektive
der Betrachtung der Grundrechte nunmehr zum internationalen Recht und
Völker(gewohnheits)recht. Es geht zunächst um die Mindeststandards des
Menschenrechtsschutzes (Christian
Tomuschat, § 178).
Tomuschat bringt hierzu auch einen sehr nützlichen Überblick über die
historische Entwicklung des fremdenrechtlichen Mindeststandards im Völkerrecht
seit dem 19. Jahrhundert (Rn. 5-22). Georg
Ress bearbeitet den diplomatischen Schutz (§ 179), vor allem auf der
Grundlage der Menschenrechte (Rn. 28ff.), was eine vergleichsweise neue
Entwicklung ist. In den Rn. 9-11 findet man einen (kurzen) historischen
Rückblick. Stefan Oeter behandelt die „erga omnes“-Menschenrechte,
die einen wichtigen Bestandteil des zwingenden Völkerrechts darstellen (§ 180).
Eine Entwicklungsvoraussetzung zwingenden Völkerrechts war die Verabschiedung
von der Idee, Völkerrecht sei allein freiwillige staatliche Selbstbindung,
vergleichbar mit einem freien privatrechtlichen Vertrag. Als treibende Kraft
für die heute geänderte Perspektive macht Oeter die Idee der
Staatengemeinschaft aus, die Verpflichtungen erga omnes erzeuge. Zu
diesen zählen vor allem das Folterverbot, das Verbot unmenschlicher Behandlung,
willkürlicher Tötung oder Inhaftierung. Systematische Verletzungen dieser
Verbote sind „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Zurecht erinnert Oeter
daran, dass die Vorstellung zwingenden Völkerrechts bereits bei Christian Wolff
und Emer de Vattel begegne, dann im 19. Jahrhundert von August Wilhelm Heffter
aufgenommen und im 20. Jahrhundert von Alfred Verdross und Friedrich August
Freiherr von der Heydte vertreten worden sei. Der eigentliche Wandel sei nach
1945 mit dem Menschenrechtsschutz und der UN-Charta eingetreten. In der
Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist es typisch, dass man naturrechtlichen
Begründungen überpositiven Rechts weithin misstraut. Stattdessen sucht die
Völkerrechtslehre die Zuflucht in Funktionsargumenten. Ein „geschlossenes
System der Institutionalisierung sicher ausdifferenzierender gemeinsamer
Belange der Staatengemeinschaft“ (Rn. 7) benötigt danach Regeln, die nicht
dem Belieben der Einzelstaaten unterworfen sind. Die Wiener Vertragskonvention
von 1969 hat schließlich den Durchbruch für einen Kerngehalt universalen Völkerrechts
bewirkt, wie Oeter ausführt. Ausführlich behandelt Oeter das Folterverbot als
einem besonders wichtigen Anwendungsfall des ius cogens im Völkerrecht,
dessen Brüchigkeit seit dem 11. September offenkundig geworden ist (Rn. 29ff.).
Ulrich Falk hat vor wenigen Jahren mit gutem Grund daran erinnert, dass
jenseits aller philosophischen Bedenken vor allem die historischen Erfahrungen
gegen eine Relativierung des Folterverbots sprechen (Rechtsstaatliche Folter?
Rechtshistorische Anmerkungen zu einer tickenden Bombe, in: Herausforderungen
des staatlichen Gewaltmonopols. Recht und politisch motivierte Gewalt am Ende
des 20. Jahrhunderts, hg. v. Freia Anders und Ingrid Gilcher-Holtey, Frankfurt
am Main und New York 2006, S. 90-111). Auch für Oeter ist letztlich dies im
Anschluss an Peer Gebauer (Zur Grundlage des absoluten Folterverbots, in: NVwZ
23 [2004], S. 1405-1409) die entscheidende Überlegung (Rn. 46). Die
Anfechtung des Folterverbots zeigt aber auch, dass das ius cogens im
Völkerrecht keine feste Position besitzt.
Wolff Heintschel von Heinegg erörtert die humanitären
Schutzpflichten im Krieg, wobei der Titel den weiteren Begriff „bewaffneter
Konflikt“ vorzieht, der auch den „Bürgerkrieg“ umfasst (§ 181). Der Aufsatz
greift kaum auf die historische Entwicklung des Kriegsvölkerrechts zurück,
leitet aber seine rechtlichen Überlegungen doch vor allem aus den zeitgeschichtlichen
Erfahrungen ab.
Auch
im internationalen Recht fehlen nicht die wirtschaftlichen Grundrechte. Mit
ihnen beschäftigt sich die Arbeit Ernst-Ulrich
Petersmanns (§ 182). Das Freiheitsstreben der modernen Staatenwelt
ist von Anfang an mit einer „Jagd nach Glück“, dem Streben nach Wohlfahrt verbunden.
Die Virginia Bill of Rights sprach
1776 vom „pursuit of happiness“. Das auf eine Freiheitsordnung
zielende WTO-Recht führt diese Idee letztlich fort. Ausdrücklich gründet Petersmann
seine Deutungen auf die Rechtsphilosophie Kants (Rn. 2, 3). Das WTO-Recht dient
nach Petersmann der „Verwirklichung persönlicher Freiheit“ durch die Gewährung
von Teilhabe- und Persönlichkeitsrechten. Die wirtschaftliche Freiheit und das
Eigentum der privaten Marktteilnehmer stehe, so Petersmann, im Vordergrund (Rn.
13f.).
Von
gleichermaßen historischer wie aktueller Bedeutung ist der Minderheitenschutz,
der im Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert eine
ungeheuere Bedeutung bekommen hat. Christine
Langenfeld beginnt mit
einem Rückblick auf die historische Entwicklung des universellen Minderheitenschutzes
und setzt dafür in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein (§ 183; vgl. auch den
bereits erwähnten Beitrag Vedders, § 174). Das verdeckt etwas die uralten
Wurzeln völkerrechtlichen Minderheitenschutzes. Karl-Heinz Ziegler
(Völkerrechtsgeschichte, München 2007, S. 56) hat schon auf den
römisch-persischen Friedensvertrag von 562 zwischen Justinian und Khosrau I.
hingewiesen, der durch ein Abkommen über die Rechtsstellung der Christen im
Perserreich ergänzt worden ist. Im 20. Jahrhundert stellte sich der
Minderheitenschutz vor allem als ein Problem des Schutzes ethnischer
Minderheiten dar, aber Art. 27 IPbürgR umschließt durchaus auch religiöse
Minderheiten. Langenfeld attestiert ihnen „keine nennenswerte eigene praktische
Bedeutung“ (Rn. 28). Unter einem historischen Blickwinkel wäre diese
Feststellung kaum haltbar.
Der
Beitrag von Christian Ohlers
über „Grundrechte und Internationales Privatrecht“ (§ 184) erinnert daran, dass
auch das internationale Privatrecht nicht von der Gesamtentwicklung der
Rechtsordnung abgekoppelt ist, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
den Grundrechten einen konsequenten Vorrang gegenüber allem einfachen Recht
eingeräumt hat.
Die
völkerrechtliche Perspektive bei der Betrachtung der Grundrechte lenkt den
Blick auf den Umstand, dass der Geltungsgrund der Grundrechte nicht (allein)
die nationalstaatlichen Verfassungen sein können. Versteht man die Grundrechte
als Menschenrechte – als „native rights“ –, wird schnell deutlich, dass ihre
Geltung letztlich auch nicht vom positiven Völkerrecht abhängen kann. Der
Aufsatz Oeters hat bei der Behandlung des Folterverbots die Schwierigkeiten
einer Völkerrechtsordnung gezeigt, die sich der Erläuterung überpositiven
Rechts weitgehend entzieht. Der Rückzug auf einen funktionalistischen Ansatz
mag politisch praktisch sein, befriedigt aber wissenschaftlich kaum. Im letzten
Abschnitt des Bandes setzt sich Klaus
Stern mit den Menschenrechten
als „universales Leitprinzip“ auseinander (§ 185). Für den historischen
Hintergrund der Idee der Menschenrechte verweist Stern auf seinen Überblicksartikel
zu Beginn von Band 1 des Handbuchs (2004; ausführlich zu diesem Beitrag Sterns:
Tilman Repgen, Von Summen und Rechnungsposten, in:
http://www.forhistiur.de/zitat/0701repgen1.htm). Der hier vorliegende Beitrag
widmet sich stärker der normativen Verfestigung der Menschenrechte im
Völkerrecht, die trotz aller Missachtung der Menschenrechte nach dem Ende des
Zweiten Weltkriegs eingesetzt hat. Ausführlich werden auch die regionalen
Menschenrechtssysteme, wie zum Beispiel in der Europäischen Union, behandelt.
Am Ende wechselt Stern zu einer Zukunftsperspektive, in der er die Umsetzung
der Idee der Menschenrechte in ein universal gültiges Leitprinzip als Aufgabe
des 21. Jahrhunderts bezeichnet (Rn. 48).
Das
Handbuch der Grundrechte ist nicht als ein Beitrag zur Rechtsgeschichte
konzipiert. Für die Erforschung der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts
bietet es allerdings wertvolle Zusammenfassungen. In einem großen Überblick
wird hier eine der wichtigsten Antriebskräfte der rechtlichen Entwicklung vor
allem seit dem Zweiten Weltkrieg aus der Sicht des geltenden Rechts behandelt.
Eine Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts kommt an den Grund- und Menschenrechten
nicht vorbei.
Hamburg Tilman
Repgen