Grothe, Ewald, Zwischen Geschichte
und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900-1970 (=
Ordnungssysteme, Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 16). Oldenbourg,
München 2005. 486 S. Besprochen von Bernd Rüthers.
Verfassungsgeschichte ist primär
Machtgeschichte, danach erst Gesellschafts-, Rechts-, Begriffs- und
Ideengeschichte. Die ‚Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung‘ zwischen 1900 und 1970, der das Bemühen des Autors
gilt, ist, wie das Buch schon im Vorwort andeutet und später umfangreich belegt,
nicht zuletzt eine Personengeschichte der handelnden Akteure. Für viele gilt
das in zwei Epochen, nämlich zunächst bei ihren Beiträgen zur Legitimation
neuer Machtlagen nach den Verfassungswechseln von 1919, 1933 und 1945/1949. Es
entstehen in den meisten geistes- und sozialgeschichtlichen Fächern, besonders
in der Jurisprudenz und der Geschichte spezielle „Wendeliteraturen“. In einer
zweiten Stufe werden oft dieselben Autoren und Schulen nicht selten nach einem
erneuten Verfassungsumbruch abermals bei der Rechtfertigung der zweiten neuen
Verfassungslage tätig.[1]
Verfassungsgeschichtsschreibung hat in empirischer Betrachtung ganz über-wiegend
mit der Rechtfertigung der jeweils etablierten Machtlagen, ihren „Rechtsideen“
und ihren „Systemgerechtigkeiten“ zu tun. Gerade die Verfassungsgeschichte
weist aus, dass die Begriffe „Rechtsidee“
und „Gerechtigkeit“ zwar in jeder
Epoche im Singular beschworen, aber bei systemübergreifender Betrachtung nur im
Plural richtig verstanden und eingeordnet werden können. Nach jedem
Verfassungsumbruch werden sie neu definiert.
Der Leser wird, je weiter er vordringt, an den
flotten Spruch des Rechtshistorikers Dieter Simon erinnert: „Ich kenne keine
Geschichte, ich kenne nur Geschichten.“ Es sind die Sichtweisen der Historiker,
die (vermeintliche?) Geschichte produzieren.
Der Titel spricht von der „Deutschen
Verfassungsgeschichte“. In den behandelten Zeitraum 1900-1970 fallen 24 Jahre Verfassungsgeschichte
der SBZ/DDR. Sie werden im Vorwort und in der 27 Seiten umfassenden Einführung nicht
behandelt. Der VI. Abschnitt (S. 310-406) werden nur die westdeutschen
Entwicklungen erörtert. Ist das Geschehen in Mittelostdeutschland ein vernachlässigungswürdiger
Teil unserer Geschichte? Dabei bietet gerade die DDR bis 1970 eindrucksstarke
Belege für den Eifer, die Funktionsweisen und die Wirkungen der deutschen
(Verfassungs-)Geschichtsschreibung. Leider werden in der Perspektive der westdeutschen
Historiker ihre Geschichten häufig
mit der „deutschen Geschichte“ gleichgesetzt. In den
vorliegenden Besprechungen zu dem Buch von Carsten Ruppert und Martin Kirsch,
wird die Diskrepanz zwischen dem Titel des Buches und dieser Lücke in der
Themenbehandlung nicht erwähnt. Vielleicht auch – lang geübter westdeutscher
Gewohn-heit folgend – nicht wahrgenommen?
Das Thema „Verfassungsgeschichtsschreibung“
behandelt der Verfasser vor allem an namhaften Autoren und Autorengruppen: Otto
Hintze, Fritz Hartung, der Kieler „Stoßtruppfakultät“, Ernst Rudolf Huber, Hans
Erich Feine, Hermann Heimpel, Carl Schmitt, Reinhard Höhn, Ernst Forsthoff und
Otto Brunner.
Nach einer knappen Schilderung von
„Verfassungsgeschichte und Verfassungsbegriff in der Weimarer Republik“ (S.
114-164) schildert Grothe in seinem Hauptteil (Abschnitte IV. und V., S.
165-406) die verschränkten Linien der Verfassungsge-schichtsschreibung in der
NS-Zeit und danach bis 1970. Wieder lautet dazu der Untertitel „Die deutsche (!)
Verfassungs-historiographie 1945-1970.
Dieser materialreiche, informative, insgesamt gelungene
Hauptteil regt zu einigen ergänzenden Bemerkungen an. Grothe zeigt an
zahlreichen Beispielen, dass die Verfassungsgeschichtsschreibung in dem von ihm
gewählten Zeitraum bei aller Bedeutung der begriffsgeschichtlichen
Entwicklungen (S. 11-54) vor allem eine Geschichte der agierenden Autoren und
ihrer jeweiligen individuellen und kollektiven Vorverständnisse ist, nicht
zuletzt eine Spiegelung der dramatischen Umschwünge des jeweiligen Zeitgeistes.
Die Kieler Stoßtruppfakultät, die bei den
Planern einer „neuen Rechtswissenschaft“ in den Jahren 1933-1936 eine zentrale
Rolle spielte, ist in ihrer veränderten Zusammensetzung ein generell
aussagekräftiges Beispiel für das erfolgreiche Wirken bewusst eingesetzter
Sozialisationskohorten qualifizierter, junger, völkisch-national gesinnter,
aufstrebender Dozenten bürgerlicher Abstammung (S. 174, Zitat E. R. Huber von
1980). Sie waren ganz überwiegend um die Jahrhundertwende oder kurz danach
geboren. Gemeinsam war ihnen und ihren Familien eine Reihe von prägenden
Erlebnissen: der verlorene Erste Weltkrieg („im Felde unbesiegt“), der
„Schandvertrag“ von Versailles, der Verlust des gesamten Geldvermögens in der
Inflation von 1923, die instabilen, schell wechselnden Regierungen der
zwanziger Jahre, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland, 6
Millionen Arbeitslose ohne ein ausreichendes Sozialnetz für ihre hungernden
Familien, ein hilfloser Staat, der den Straßenschlachten der Bürgerkriegsarmeen
von SA/SS und Rotfrontkämpferbund mit vielen wöchentlichen Todesopfern auf
beiden Seiten fast wehrlos gegenüber stand. Die Verfassungsfrage war längst
nicht mehr allein eine Rechtsfrage.
Von ihren Lehrstühlen in Kiel vertrieben wurden
unmittelbar nach dem Erlass des berüchtigten „Gesetzes zu Wiederherstellung
(lies: Beseitigung! B. R.) des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 die
Kollegen Hermann Kantorowicz, Gerhart Husserl, Otto Opet, Karl Rauch und Walter
Schücking. Von den zehn Lehrstuhlinhabern im Januar 1933 lehrte nach 1935
allein noch Walter Schönborn in Kiel. Der Rest war vertrieben, vorzeitig
emeritiert worden oder unter dem Eindruck der Ereignisse aus Kiel weggegangen
(von Hentig, Poetzsch-Heffter, Wedemeyer). Kiel war als erste Fakultät planmäßig
„judenfrei“ gemacht worden. Die Nachfolger der Vertriebenen wurden von dem
einflussreichen Rechtshistoriker Karl August Eckhardt speziell nach ihrer
Bereitschaft ausgewählt, dem nationalen Führerstaat vorbehaltlos zu dienen und
ihn durch eine „völkische Rechtserneuerung“ dauerhaft zu legitimieren. Sie
hießen Georg Dahm, Karl Larenz, Ernst Rudolf Huber, Karl Michaelis, Paul
Ritterbusch, Friedrich Schaffstein und Wolfgang Siebert.
Sie sollten nach K. A. Eckhardt „kämpferisch
wirken und Neues gestalten“, was sie dann auch eifrig taten. Eine erste
gemeinsame Aktion war das „Kitzberger Lager“ junger nationalsozialistischer
Dozenten im Mai 1935. Vgl. dazu den anschaulichen und begeisterten Teilnehmerbericht
von F. Wieacker in DRW 1 (1936), S. 74-80 und B. Rüthers, Entartetes Recht, 3.Aufl.
1994, S. 42-48. Feierlich erklärte gemeinsame Hauptziele bestanden darin,
zentrale, verfassungsrelevante Rechtsbegriffe „umzudenken“, wie etwa Mensch,
Rechts-fähigkeit, Rechtsperson, subjektives Recht u. a. Die Perversion der
deutschen Rechtsordnung bekam hier ihre theoretische Grundlegung. Die
Lagergemeinschaft wurde bewusst als Kampfgemeinschaft verstanden. Der
gemeinsame Kampf für die völkische Rechtserneuerung schuf eine enge
Verbundenheit, die zumal auch in der individuellen und kollektiven
Krisensituation nach dem Zusammenbruch des NS-Staates 1945 fortdauerte und
solidarische Strategien der Lagerkameraden förderte.
Den in dieser Weise kampfbereiten
Wissenschaftlern boten sich, wie Grothe nachweist, ganz ungewöhnliche
Karrierechancen. Er schildert das an anschaulichen Beispielen, zunächst der
Kieler Fakultät, etwa am Aufstieg des „Verfassungshistorikers Ernst Rudolf
Huber“ (S. 172-189).
Huber war, darauf weist der Verfasser zu Recht
hin, 1933 nicht als Verfassungshistoriker, sondern als Verfassungs-, Kirchen-
und Wirtschaftsrechtler bekannt geworden. Er wurde in Kiel auf einen „Lehrstuhl
für öffentliches Recht, Wirtschafts- und Arbeitsrecht“ berufen. Dort avancierte
er zu einem der führenden Staatsrechtslehrer des Dritten Reiches. Von im stammt
das maßgebliche Lehrbuch zum Staatsrecht des NS-Staates („Verfassung“, Hamburg
1937), das 1939 in zweiter Auflage mit dem Titel erschien „Verfassungsrecht des
Großdeutschen Reiches“. Das Buch wurde in den einschlägigen Rezensionen der
Zeitgenossen (Werner Best, Johannes Heckel u. a.) als eine gültige Darstellung
der Verfassung des Dritten Reiches von einem einheitlichen Standpunkt aus
gepriesen.
Daneben traten Hubers verfassungsgeschichtliche
Studien während der NS-Zeit eher zurück. Erst in der Zwangspause nach 1945
verlegte er den Schwerpunkt seiner Forschungen ganz in die
politisch-ideologisch eher neutral zu behandelnde Verfassungsgeschichte. Mit
dieser Strategie des Ausweichens in neutrale Forschungsfelder nach dem Zusammenbruch,
die er in mehreren persönlichen Erklärungen bestritt, stand er nicht allein.
Man denke nur an das Ausweichen von C. Schmitt nach seinem Ämterverlust 1936 in
die Verfassungsgeschichte („Leviathan“, 1938).
Ähnliche zahlreiche und plötzliche Aufstiegschancen
wie in Kiel 1933 eröffneten sich für die Privatdozenten der Zeit an allen
deutschen Juristenfakultäten. So wurde etwa Ernst Forsthoff, wie E. R. Huber
bei C. Schmitt habilitiert, Lehrstuhlnachfolger des vertriebenen Hermann Heller
in Frankfurt am Main, nachdem er zuvor den Lehrstuhl von Hans Nawiasky
vertreten hatte. Grothe schildet auch die Karrieren von Hermann Heimpel, Hans Erich
Feine, Reinhard Höhn, Otto Brunner und anderer. Sie alle waren die Nutznießer
der großen „Säuberung“ von 1933. Folgerichtig ist diese Epoche der deutschen
Rechts- und Verfassungsgeschichte nach 1945 von den „Gewinnern“ und ihren
solidarischen Kollegen lange verschwiegen und verdrängt worden.
Erst der Zusammenbruch der DDR 1989/1990 brachte
für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Bundesrepublik, der auf eine
Professorenstelle wartete, einen ähnlichen Karriereschub.
Das Verhalten der willigen Anpassung an die
ideologischen Vorgaben der Machthaber blieb auch bei zeitweiligen Anhängern des
Nationalsozialismus nicht unbeobachtet und kritiklos. Grothe zitiert eine
Bemerkung des Rechtshistorikers Fritz Hartung, der in einem Brief vom 14. 5.
1933 über Nachfolger auf den Lehrstühlen der vertriebenen jüdischen Lehrstühlen
sprach als von den „Aasgeiern arischer
Abstammung, aber jüdischer Gesinnung, die es gar nicht abwarten wollen, bis sie
sich auf die Leichen ihrer jüdischen Kollegen stürzen und ihre Lehraufträge
erben können, sondern schon jetzt sich melden und erkundigen.“ (Grothe S.
287f. mit Nachweisen) Die herbe Kritik des Zeitgenossen Hartung, der selbst zeitweilig
dem Nationalsozialismus und auch dem Antisemitismus zuneigte, erinnert daran,
dass alle Nachfolger auf den „entjudeten“ Lehrstühlen wussten, unter welchen
Umständen ihre Stellen „frei“ geworden waren.
Fritz Hartung (nicht zu verwechseln mit dem
Strafrechtler und Reichsgerichtsrat gleichen Namens) verdient als unabhängig
denkende und handelnde Persönlichkeit besondere Aufmerksamkeit. Er lehnte es
ab, sich durch einen Beitritt zu NSDAP den Nationalsozialisten „anzubiedern“.
Er fühle sich zur „Führung im Sinne des
nat.soz. Staates nicht berufen“, schrieb er am 29. 10. 1933 als Dekan an
Siegfried Kaehler. Er kritisierte die „Intrigenwirtschaft“
und ein „wüstes Klüngelwesen“, welche
die frühere Kollegialität verdrängt hätten. Seine persönliche, „unbestechliche Ehrenhaftigkeit“
wurde selbst vom ‚Reichsdozentenbundsführer‘ Schultze noch 1941 anerkannt,
obwohl er zum NS-Staat und dessen Ideologie ein zwiespältiges Verhältnis offen äußerte
und den „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaftler“
unter Paul Ritterbusch 1941 ironisch kritisierte (S. 286ff.). Grothe
erwähnt nicht die gerade insoweit bemerkenswerten Lebenserinnerungen Fritz
Hartungs unter dem Titel „Jurist unter
vier Reichen“ (Köln u. a. 1971)
Die verdienstvolle Studie des Verfassers erinnert
am Beispiel des öffentlichen Rechtes noch einmal daran, dass die deutschen
Juristenfakultäten insgesamt zwischen 1933 und 1935 etwa ein Drittel des
Lehrkörpers durch die „Säuberungsmaßnahmen“ des NS-Staates verloren. Unter
ihnen waren Gelehrte von Weltruf wie (etwa Hans Kelsen, Ernst Rabel, Otto
Kahn-Freund, Hans Nawiasky, Erich Kaufmann, Ernst Fraenkel, Hermann U.
Kantorowicz, Martin Freund, Karl Loewenstein, Otto Kirchheimer, Ernst Fraenkel,
Gerhard Leibholz, Erwin Jacobi, Martin Wolff, Heinrich Kronstein u. v. a.). Das
geschah unter dem ebenso makabren wie peinlichen Beifall nicht weniger
namhafter Kollegen, vor allem C. Schmitt und der junge Heinrich Lange, der die
Entfernung aller Juden aus den deutschen Universitäten als eine „Rettungstat zur Erhaltung des deutschen
Volksgeistes in letzter Stunde“ und als einen „Akt bitterster Notwehr“ feierte (vgl. H. Lange, DJZ 1935 406ff.,
410). Das Bewusstsein für diesen gewaltigen Kulturbruch und Substanzverlust der
deutschen Rechtswissenschaft ist bis heute selbst bei manchen Rechtshistorikern
unterentwickelt.
Augenscheinlich wird die Unfähigkeit, sich
zutreffend erinnern zu können oder zu wollen, wenn in dem Beitrag eines
Rechtshistorikers zur Geschichte der Leipziger Juristenfakultät über die Entlassungen
der Kollegen Erwin Jacobi, Konrad Engländer, Hans Apelt und Leo Rosenberg aus
ihren Ämtern in Leipzig der Satz zu lesen ist:
„Den
geringen (!) Aderlaß (!)des Jahres 1933 konnte die Fakultät durch erfolgreiche
Neuberufungen mehr als ausgleichen.“
(Bernd-Rüdiger Kern, www.uni-leipzig.de/jurafakultaet
/geschichte .htm. Der Beitrag wurde dort inzwischen gelöscht. Vgl. aber,
kaum weniger anstößig: B.-R. Kern in Redaktionsbeilage der NJW u.a. zum DJT
2000 in Leipzig, Verlag C.H.Beck 2000 S. 84f. Vgl. dazu Rüthers, JZ 2001, 181
und Kern/Rüthers, JZ 2001, 751/754).
Die Wortwahl spricht angesichts
der Vertreibung international ausgewiesener Gelehrter überwiegend aus rassischen
(im NS-Jargon „blutsbedingten“ Gründen) für sich. Die makabre These lenkt die Aufmerksamkeit
auf die Nachfolger, die den „geringen Aderlaß“ … „mehr als ausgeglichen“ haben
sollen. Darunter waren Heinrich Lange, Ernst Rudolf Huber, Georg Dahm, Fritz
Schaffstein, Franz Wieacker, Karl Michaelis, überwiegend begeisterte Teilnehmer
des erwähnten Kitzeberger Lagers nationalsozialistischer Dozenten und
engagierte Verfechter der von den Machthabern geforderten völkisch-rassischen
Rechtserneuerung.
E. R. Huber wurde bereits am
28. April 1933 als Nachfolger des renommierten Staatsrechtslehrers und Richters
am Ständigen Internationalen Gerichtshof in Den Haag
Walther Schücking an die Universität Kiel berufen.
Dieser war 3 Tage zuvor, am 25. April, wegen seines Judentums entlassen worden.
Huber avancierte neben seinem Lehrer C. Schmitt bald zum führenden
Verfassungsrechtler und Autor des maßgeblichen Lehrbuches zum „Verfassungsrecht
des Großdeutschen Reiches“ (Hamburg 1937 und 1939). Mit demselben
Eintrittsdatum wie C. Schmitt und M. Heidegger trat er am 1. Mai 1933 in die
NSDAP ein.
Ganz
auf der Linie der neuen NS-Devise „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“
verkündet Huber 1936 in der frisch „entjudeten“, von ihm 1934-1944
herausgegebenen „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“:
„Es
gibt keine persönliche, vorstaatliche und außerstaatliche Freiheit des
Einzelnen, die vom Staat zu respektieren wäre. An diese Stelle des isolierten Individuums
ist der in die Gesellschaft gliedhaft eingeordnete Volksgenosse getreten, der
von der Totalität des politischen Volkes erfaßt … ist …«
(Ernst
Rudolph Huber, ZgSt 1936, S. 438, 440; ders. Verfassungsrecht, 1. Aufl.,
Hamburg 1937, S. 213; Vgl. zur (Selbst-)Gleichschaltung der ZgSt 1933 durch den
Verleger Grothe S. 210-14)
1937 wechselte Huber nach
Leipzig, wohin auch Hans Gerber, Franz Beyerle, Friedrich Schaffstein, Eberhard
Schmidt, Franz Wieacker, Georg Dahm, Hans Thieme, Werner Weber und Wilhelm
Gallas, also überwiegend Kieler „Stoßtrupp“-Kollegen und Rechtserneuerer,
kamen. 1941 nahm er einen Ruf an die neu gegründete „Reichsuniversität“
Straßburg an. Nach dem Zusammenbruch erhielt er lange keine Stelle an einer
Universität, war aus der Staatsrechtslehrervereinigung bis 1956 ausgeschlossen und
ging 1957 wieder als Professor an die Hochschule für Sozialwissenschaften in
Wilhelmshaven-Rüstersiel, ab 1962 (!) nach Göttingen, abermals in einen Kreis
alter Kollegen aus der Kieler und Straßburger Zeit. Seinen Schwerpunkt als hoch
anerkannter Autor der deutschen Verfassungsgeschichte festigte er in den Jahren
nach 1945, als er, lange vergeblich, auf seine Reintegration in das
Universitätsleben wartete. Es entstand sein großes, international anerkanntes Werk
zur deutschen Verfassungs-geschichte (E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 8 Bände, Stuttgart, 7.700 Seiten,
1957–1991).
Den sehr unterschiedlichen „Warteschleifen“ von
NS-belasteten Verfassungshistorikern nach dem Zusammenbruch widmet Grothe den informativen
Abschnitt „Entnazifizierung und Reintegration“ an den Beispielen von Ernst
Forsthoff, Hans Erich Feine, Theodor Maunz, Ernst Rudolf Huber, Fritz Hartung,
Otto Brunner, Carl Schmitt und anderer (S. 310-406).
Die personengeschichtlichen Elemente der
deutschen Verfassungsgeschichtsschreibung, die Grothe subtil und unpolemisch
herausarbeitet, sind ein wertvoller Beitrag zu einem tieferen Verständnis der Geschichte
der Rechtswissenschaft insgesamt und ihren Risiken, wie gerade die bestehenden
Bewusstseinslücken in unserer Disziplin zeigen. Der Autor hat eine
eindrucksvolle, materialreiche Studie mit großer Quellenarbeit erstellt. Ihm gebührt,
jenseits aller genannten kritischen Hinweise, Dank und Anerkennung über die
Disziplingrenzen hinweg.
Konstanz Bernd
Rüthers
[1] Dazu näher B. Rüthers, Geschönte
Geschichten – Geschonte Biographien, Sozialisationskohorten in
Wendeliteraturen, Tübingen 2001.