Goetz, Hans-Werner, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein
im hohen Mittelalter, 2. Auflage (= Orbis medievalis 1). Akademie Verlag,
Berlin 2008. 501 S., 16 Abb. Besprochen von Christof Paulus.
In
derselben Nacht konnte der König nicht schlafen, und er ließ das Buch der
Denkwürdigkeiten, die Chronik, herbringen; daraus wurde dem König
vorgelesen. Da fand sich, daß darin geschrieben war, wie Mordechai
angezeigt hatte, daß Bigtan und Teres, die beiden Kämmerer des Königs, die die
Schwelle hüteten, danach getrachtet hatten, Hand an den König Ahasveros zu
legen (noctem illam rex duxit insomnem iussitque
adferri sibi historias et annales priorum temporum qui cum illo praesente legerentur.
ventum est ad eum locum ubi scriptum erat quomodo nuntiasset Mardocheus
insidias Bagathan et Thares eunuchorum regem Asuerum iugulare cupientium).
So heißt es im Buch Ester (hier: Schlachter 2000, Vulgata).
Was war die hochmittelalterliche Historiographie?
Dieser Leitfrage spürt Hans-Werner Goetz, Hamburger Mediävist, in seinem
umfangreichen, in zweiter Auflage um ein weiteres Vorwort und einen
Literaturanhang ergänzten und mittlerweile zum Standardwerk avancierten
Lehrbuch nach. Seine Antwort lautet: „Mittelalterliche Geschichtsschreibung
hielt in chronologischer Folge die Erinnerung an wahre, denkwürdige Taten fest“
(233). Es ist die Gegenwart der Vergangenheit, welche die Texte bestimmt.
Geschichte diente, wie Goetz pointiert zusammenfasst, nicht der
Vergangenheits-, sondern der Gegenwartsbewältigung (422). Es ist das Lernen aus
der Geschichte, wie es auch das Buch Ester oder Ciceros berühmtes Dictum von
der historia magistra vitae nahelegen.
So konnte Geschichte, der eine auctoritas innewohnte, als Argument
dienen. Der Autor zeigt dies vor allen Dingen am Schrifttum des
Investiturstreits, das auch bezüglich der Historiographie zu einer Verdichtung
führte. Im Wechsel zwischen eingehenden Fallbeispielen zu Bernold von St.
Blasien, zu Bonizo von Sutri, Helmold von Bosau oder den „Casus sancti Galli“
und systematisch-darstellerischen Passagen gelingt eine eingehende
Auseinandersetzung mit dem Wesen hochmittelalterlicher Geschichtsschreibung.
Die Historia selbst wurde nicht als ars
verstanden, doch lieferten die artes
das methodische Rüstzeug. Eng war die Geschichtsschreibung mit der Theologie
verwoben, sah schon Augustinus in der Geschichte die offenbarende Handschrift
Gottes, deren Sinnhaftigkeit von Späteren erkannt werden konnte.
Umfangreiche Textinterpretationen sind
die Stärke des Werkes. Immer wieder bedient sich der Autor komparatistischer
und begriffsgeschichtlicher Untersuchungen, um Anachronismen, wie sie oftmals
die Forschung prägten, zu vermeiden. Zwar gibt es Schlüsselautoren für den
argumentativen Faden des Buches, Honorius Augustodunensis, Hugo von St. Viktor,
Otto von Freising oder Sigebert von Gembloux, doch stellt das umsichtige
Einbeziehen zahlreicher weiterer Historiker die Darstellung auf eine methodisch
glaubwürdige Basis. Zum Teil legt Goetz seinen Ausführungen eine
mittelalterliche Gliederung zugrunde, so etwa Hugos vier
Geschichtskonstituanten Mensch, Handlung, Raum und Zeit.
Diskutiert werden die Probleme
gattungsspezifischer Einteilungsversuche ebenso wie die Möglichkeiten, die
typische historiographische Handschrift eines hochmittelalterlichen Autors zu
bestimmen, der oftmals aus einer krisenhaft empfundenen Gegenwart heraus
schrieb. Die klösterlichen Gründungslegenden werden diskutiert etwa am Beispiel
des bayerischen Benediktbeuern, wobei hier anzufügen ist, dass jüngste
archäologische Untersuchungen eine gewisse Glaubwürdigkeit der vermeintlichen pia fraus nachgewiesen haben. Eingefügt
werden praktische Übersichten, Karten und Schaubilder, so zur
Handschriftenverbreitung, zum Geschichtsbild Ottos von Freising oder zu den in
der Chronik Hermanns des Lahmen vorkommenden Orts- und Ländernamen.
Goetz gibt zu bedenken, dass sein Werk
aufgrund der Konzentration weitgehend auf die „mitteleuropäische“
Historiographie kein umfassendes Handbuch sein könne, doch ist ihm ein durch
das Register zu erschließendes Nachschlagewerk gelungen, das verlässlicher
Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen sein kann. So wäre auch einmal die
Bedeutung der „Augenschau“ bzw. der persönlichen Teilnahme als Gradmesser für
die historiographische Glaubwürdigkeit zu thematisieren, wie dies etwa schon in
der Antike Polybios äußerte und wie sich dies im Mittelalter bei Hinkmar oder
Thegan, aber auch bei Marco Polo zeigen lässt. Bruno gibt vor in seinem „Bellum
Saxonicum“ den Sachsenkrieg knapp und wahrheitsgetreu beschreiben zu
wollen. Seine Quelle: Augenzeugen.
Seehausen am Staffelsee Christof
Paulus