Geyer, Stefan, Den Code civil „richtiger“ auslegen. Der zweite Zivilsenat des Reichsgerichts und das französische Zivilrecht (= Rechtsprechung. Materialien und Studien 29). Klostermann, Frankfurt am Main 2008. XVIII, 378 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Der zweite Zivilsenat des Reichsgerichts war u. a. zuständig für die Zivilsachen aus den OLG-Bezirken Köln, Colmar, Karlsruhe und Zweibrücken sowie aus dem LG-Bezirk Mainz (Rheinhessen) und hatte damit zu entscheiden über Revisionen, in denen es um die Anwendung des Code civil ging. Überwiegend wird im Anschluss an die Monographie von D. Schumacher, Das Rheinische Recht in der Gerichtspraxis des 19. Jahrhunderts (1969) die deutsche Judikatur zum Code civil dahin gekennzeichnet, diese habe „das Recht des Code civil an gemeines deutsches Recht, insbesondere an das römische, zumindest im Ergebnis angepasst und damit die deutsche Rechtswissenschaft vorangetrieben“ (Geyer, S. 4). Insbesondere die Judikatur des Reichsgerichts, so Schulte/Nölke/Strack, Rheinisches Recht, in: R. Schulze, Rheinisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte (1998, S. 31) habe sich von der französischen Judikatur entfernt, „indem sie ihre Ergebnisse in Übereinstimmung mit dem gemeinen Recht brachte“. Dies lässt sich, so Geyer, für die Judikatur des genannten Senats des Reichsgerichts nicht feststellen. Die diskursanalytisch ausgerichteten Untersuchungen belegen nach Geyer vielmehr, dass sich der Senat grundsätzlich an der französischen Literatur und Praxis angelehnt und in diesem Zusammenhang großen Wert auf den Willen des Gesetzgebers gelegt habe, wie bereits die häufige Heranziehung der Materialien zum Code civil zeigten. Im ersten Teil seiner Arbeit untersucht Geyer die Annäherung der Reichsgerichts-Judikatur an französische Auslegungstraditionen. In einem ersten Abschnitt geht es um die Orientierung am Willen des Gesetzgebers als eines wohl zentralen Legitimationselements. Die leitenden Kriterien für die Richtigkeit der Auslegung zeigen nach Geyer weder „eindeutig ,pandektistische’ noch ,exegetische’ Züge. Sie gehörten vielmehr zu einer Legitimationsstruktur, die von deutschen und französischen Autoren übereinstimmend als ,logische Auslegung’ bezeichnet wurde“ (S. 64). Hinsichtlich der Bezugnahme auf das römische Recht „an sich“ ließ sich nach Geyer „nicht auf eine Angleichung an gemeines Recht und nicht einmal auf eine besonders deutsche Anwendung des Code civil schließen“ (S. 104). Eine bewusste Umformung und Anpassung des Code civil an gemeines Recht sei mit den verwandten Legitimationsstrukturen nicht erreicht worden. Im nächsten Kapitel stellt Geyer einen Gleichlauf zwischen rheinisch-französischer und französischer Rechtsprechung fest am Beispiel der Bejahung einer Drittberechtigung bei Lebensversicherungen. Für die Übernahme der französischen Judikatur hinsichtlich des Unterhalts bei Getrenntleben der Ehegatten waren nach Geyer Ähnlichkeiten in der Eheauffassung mit maßgebend.

 

Im zweiten Teil: „Abweichungen von der französischen Auslegungstradition“ (S. 179ff.) geht es zunächst um extern bedingte Abweichungen. Hinsichtlich des Markenschutzes lehnte das Reichsgericht Ansprüche aus Art. 1382f. C.c. entsprechend der von der französischen Judikatur entwickelten concurrence déloyale ab, da es das Markenrecht des Reiches als speziell ansah. Ferner lehnte das Reichsgericht bei Fabrik- und Arbeitsunfällen anders als 1896 der Kassationshof in der sog. Teffaine-Entscheidung (S. 186) eine Umkehr der Beweislast ab. Hier boten die Gewerbeordnung, das Unfallversicherungsgesetz und das Reichshaftpflichtgesetz hinreichend Schutz. Die Heranziehung des Art. 1384 C.c. für die Haftung des Staates für die durch ein Verschulden seiner Beamten verursachten Schäden, und zwar auch noch nach 1900 (vgl. Nachschlagewerk des Reichsgerichts, Preuß. Recht, Ke Anhang; Bibliothek des BGH) in breiterem Umfang als in Frankreich beruhte darauf, dass dort über Staatshaftungsansprüche weitgehend der Conseil d’État entschied. – Schwierigkeiten bereitet die Frage, worauf die intern bedingten Abweichungen von der französischen Rechtsprechung im Einzelnen beruhen. Ausführlich befasst sich Geyer mit der französischen Judikatur, die einer durch ein Heiratsversprechen verführten Frau Schadensersatzansprüche aus Art. 1382 C.c. auch hinsichtlich des Unterhalts ihrer unehelichen Kinder gewährte. Die französische Judikatur wie auch überwiegend die Rechtslehre sahen hierin keine Umgehung des Art. 340 C.c., der grundsätzlich eine gerichtliche „recherche de la paternité“ ausschloss. Demgegenüber wies der 2. Zivilsenat alle von der französischen Praxis entwickelten Rechtsbehelfe zugunsten der unehelichen Mutter und dessen Kinder zurück. Zunächst lehnte es die Klagbarkeit von Zahlungsversprechen zugunsten unehelicher Kinder mit der Begründung ab, es handele sich um nicht einklagbare natürliche Verbindlichkeiten. 1892 stellte der Senat fest, dass bei betrüglicher Verleitung die Untersuchung der Vaterschaft dem Richter untersagt sei und dass Art. 340 C.c. eine allgemeine Bedeutung habe, „welche nicht lediglich … auf die Feststellung des Paternitätsverhältnisses zwischen Vater und Kind beschränkt werden darf, sondern überall anzuwenden ist, wo in einem Civilprozesse die Untersuchung der Vaterschaft in Frage kommt“ (RGZ 30, 313). Welche Erwägungen insbesondere die letztere Entscheidung veranlasst haben, lässt sich auch nach Geyer nicht mehr mit Sicherheit feststellen. Vor dem Hintergrund einer „immerhin plausibel zu vermutenden Sexualmoral und der Eindrücke gesellschaftlicher Verhältnisse“ erscheine es, so Geyer, „sehr wahrscheinlich, dass eine gewisse Zustimmung zu napoleonischen Regelungsvorstellungen die Rechtsprechung getragen habe, jedenfalls soweit es darum ging, Anstößiges aus Prozessen fern zu halten“ (S. 339). Da es sich bei dem Rechtsstreit um eine „Abenteurerin“ (S. 338f.) gehandelt haben dürfte, liegt auch die Annahme nicht fern, dass man insoweit eine ähnliche Lösung bevorzugte, die der bereits im 1. BGB-Entwurf enthaltenen Einrede des Mehrverkehrs (vgl. § 1717 BGB a. F.) nahe stand. Dass man die Versagung der Klagbarkeit von Ansprüchen aus natürlichen Verbindlichkeiten als Ausdruck eines liberalen Rechtsverständnisses verstehen kann (Schutz der individuellen Rechtssphäre), ist möglich, aber nicht sicher. Insgesamt handelt es sich bei den intern bedingten Abweichungen, und zwar auch wohl hinsichtlich der von Geyer nicht weiter thematisierten Versagung des Ersatzes des dommage moral nicht um eine „vorgreifliche Übereinstimmung“ noch um eine Ausrichtung am Pandektenrecht, sondern vielleicht um eine „möglichst reine Auslegung des Code civil“ (S. 345) unter Berücksichtigung der „spezifisch deutschen Rechtswirklichkeit“ (S. 345). In keinem Fall ließ sich ein „juristischer Nationalismus“ (S. 352) feststellen.

 

Grundlage der Untersuchungen Geyers sind die in RGZ, im „Rheinischen Archiv“ und in der von Puchelt herausgegebenen „Zeitschrift für französisches Zivilrecht“ ermittelten etwa 970 zwischen 1879 und 1900 ergangenen Entscheidungen des 2. Zivilsenats des RG zum französisch-rheinischen Zivilrecht. Die Einbeziehung des unveröffentlichten Quellenmaterials aus der vollständigen Sammlung der Erkenntnisse des Reichsgerichts (erhalten in der Bibliothek des BGH) hätte den Rahmen der vorliegenden Untersuchungen gesprengt. Entscheidungen des II. Zivilsenats, die nach dem Inkrafttreten des BGB zum Code civil ergangen sind, sind grundsätzlich nicht berücksichtigt; der Senat hat hier die französischrechtliche Linie teilweise sogar für die Auslegung des BGB verwandt (vgl. Schubert, in: B.-R. Kern/A. Schmidt-Recla, 125 Jahre Reichsgericht, Berlin 2006, S. 145ff.). Im Gegensatz zur bisherigen rechtshistorischen Literatur hat Geyer für die zu behandelnden Rechtsmaterien die französische Judikatur und Literatur in größerem Umfang als bisher dargestellt (bes. für die mit Art. 340 C.c. zusammenhängenden Fragen und für die Staatshaftung). Mit herangezogen hat Geyer erstmals in breiterem Umfang zur Erhellung der Argumentationsstruktur die Schlussvorträge der französischen Staatsanwaltschaft beim Kassationsgerichtshof (procureur u. avocat général; vgl. hierzu auch Schubert, in: B. Dölemeyer/H. Mohnhaupt/A. Somma, Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, S. 133). Als wohl nicht entscheidend für die Ergebnisse der Untersuchungen hat sich die gegenüber dem französischen Recht erheblich abweichende Urteilsform des II. Zivilsenats herausgestellt. Eine biographische oder politische Deutung der RG-Entscheidungen wird zu Recht abgelehnt, was allerdings nicht ausgeschlossen hätte, auf die Richter des 2. Zivilsenats etwas näher einzugehen. Der Band wird abgeschlossen mit einem Personen- und Sachregister (in diesem Zusammenhang auch Einbeziehung eines Paragraphenregisters) und einem Nachweis der Literatur und Entscheidungszitate in den RG-Urteilen. Es fehlt allerdings ein chronologischer Nachweis der behandelten RG- und Kassationsurteile.

 

Insgesamt hat Geyer für die von ihm berücksichtigten Rechtsgebiete plausibel herausgearbeitet, dass der 2. Zivilsenat keine „Eindeutschung“ des französischen Rechts vorgenommen und auch nicht unter Berufung auf die deutsche Rechtswissenschaft „eigenständige Thesen auf der Grundlage des Code civil“ aufgestellt habe (S. 14). Aufgabe weiterer Arbeiten wird es sein, die Untersuchungen Geyers für die von ihm nicht behandelten Rechtsgebiete – z. B. steht eine umfassendere Untersuchung der Urteile zum Deliktsrecht (Art. 1382 ff. C.c.) noch aus – möglichst unter Heranziehung auch unveröffentlichter Entscheidungen fortzuführen. Auch eine umfangreichere Untersuchung der Judikatur der rheinischen Obergerichte, insbesondere des Appellationsgerichtshofs zu Köln, fehlt noch. Mit den Untersuchungen Geyers liegt ein Grundlagenwerk zum französischen Zivilrecht in Deutschland des 19. Jahrhunderts und zur Geschichte des frühen Reichsgerichts vor, dessen Fragestellungen die deutsche und europäische Rechtsgeschichte noch weiter beschäftigen werden.

 

Kiel

Werner Schubert