Georg
Friedrich Puchta. Briefe an Gustav Hugo, hg. mit einer Einleitung und einem
Nachwort von Jakobs, Horst Heinrich (= Studien zur europäischen
Rechtsgeschichte - Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische
Rechtsgeschichte Frankfurt am Main 242 = Juristische Briefwechsel des 19.
Jahrhunderts). Klostermann, Frankfurt am Main 2009. V, 316. Besprochen von
Hans-Peter Haferkamp.
I. Diese Besprechung beginnt mit einem doppelten Dank an den Herausgeber dieser Briefedition. Horst Heinrich Jakobs stellte mir 2002 die Briefe Puchtas an Hugo, die über Fritz Schulz und Werner Flume in seinen Besitz gelangt waren, in einer von ihm gefertigten Abschrift und kurzzeitig auch im Original zur Verfügung. Meine Habilitation über Puchta verdankt diesen Briefen viel. Zudem gilt es Jakobs dafür zu danken, dass er seine in der Einleitung (6ff.) und mündlich auch mir gegenüber geäußerten Zweifel überwunden und seine Abschrift der Briefe veröffentlicht hat. Die verbleibenden Mängel der Edition sind nicht zu übersehen. Sie verfügt nur über einen kaum hilfreichen Apparat. Sie ist zudem nicht frei von Lesefehlern, was einen Rückgriff auf die in Göttingen lagernden Originale im Zweifel nicht entbehrlich macht. Für Einzelheiten verweise ich auf die detaillierte Zusammenstellung der einzelnen Mängel bei Martin Avenarius[1]. Gleichwohl überwiegt bei mir die Freude des Forschers, dass die Briefe Puchtas an Hugo nun einem breiten Publikum zugänglich sind.
Der von Zensur und Demagogenverfolgung geprägte Vormärz ist eine Briefgesellschaft. Hier findet sich häufig die Offenheit, die in öffentlichen Äußerungen nur schwierig über Subtexte erschlossen werden kann. Dies gilt besonders für die Briefe Puchtas an Hugo[2]. Puchtas öffentliche Äußerungen waren stets geprägt von taktischen Erwägungen darüber, was wo und in welchem Ton gesagt werden sollte. Er dachte stets in Schulzusammenhängen und war um berufliches Fortkommen bemüht. Diese Rollen, die er sich zuschrieb, verließ er nur im privaten Bereich gegenüber Freunden, zu denen etwa Juristen wie Siegmund Zimmern, Eduard Puggé oder Adolf Rudorff gehörten. Bei aller Bewunderung für den deutlich älteren Hugo entwickelte Puchta bereits früh auch diesem gegenüber einen freien und offenen Ton, den etwa seine Briefe an Savigny kaum zeigen. Die Briefe datieren zwischen 1826 und 1844, dem Todesjahr Hugos. Sie dokumentieren den Aufstieg Puchtas vom um Aufmerksamkeit kämpfenden jungen Professor in Erlangen zum gefeierten Nachfolger Savignys in Berlin. Das Innenleben der sog. Historischen Rechtsschule zeigt sich dabei als durchaus konfliktreich. Fast alle die Gruppe konstituierenden ‚Abwehrkämpfe’ der Anhänger Savignys werden hier pointiert, teilweise überscharf von Puchta geschildert, die Auseinandersetzung mit den ‚Antiquarischen’, den ‚Praktischen’, mit Eduard Gans und den Hegelianern. Puchta breitet hier seine wissenschaftlichen Pläne aus, etwa seine Abkehr von der Rechtsgeschichte als zentralem Forschungsfeld[3]. Wissenschaftliche Kardinalfragen, etwa zur Struktur einer Rechtsgeschichte, dem Aufbau des Rechtssystems oder zur Rechtsquellenlehre werden genauso angesprochen wie Persönliches gegenüber Hugo, der Pate eines Sohnes Puchtas war. Ein wichtiges Thema bilden auch Berufungsfragen, Auszeichnungen und nicht zuletzt Neid über überhöht empfundene Bezüge von Kollegen. Der Stil der Briefe ist redseelig, teilweise emotional und polemisch. Die Lektüre sei dem Interessierten ans Herz gelegt.
II. Jakobs lobt eine Eigenart Gustav Hugos. Dieser habe in seinen Rezensionen oft „wenn ein Buch durch seine Eigenart dazu Veranlassung gibt, über den Charakter seines Verfassers etwas zu sagen“ (274) versucht. Die gleiche Verknüpfung zwischen psychologischer und inhaltlicher Deutung unternimmt nun auch Jakobs selbst, in seinem 54-seitigen „Nachwort“ über „Puchtas Charakter“ als Grundlage seiner Lehre vom Juristenrecht.
Ausgehend von der auf Puchtas frühen Tod anspielenden Frage, ob Puchta nicht etwa „was seine Arbeit betrifft, Glück gehabt [habe] abzutreten, als erreicht war, was er zu erreichen vermochte“ (252), erzählt Jakobs die Geschichte eines Scheiterns. Den Grund dieses Scheiterns sieht er in Puchtas Charakter, den er in wiederkehrenden Wendungen als eigenständig, eigenwillig, stolz, mit einer Tendenz zur Arroganz, wenn auch mit einem Talent „diese Arroganz zu moderieren“ (271 Fn. 22) bestimmt. Puchta habe Savignys 1814 vorgetragene Entwicklungsgeschichte des Rechts („erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt“[4]) mit hegelianischer Brille fehlinterpretiert: Anstelle von Savignys „erst … dann“-Lösung[5], habe er die bei Savigny historisierten Rechtsquellen auf den bei Hegel entlehnten gemeinsamen Rechtsgrund des Volksgeistes zurückgeführt. Damit habe er nicht verstanden, dass für Savigny bei ‚steigender Kultur’ die Rechtswissenschaft an die Stelle des Volkes trete. Ebenfalls auf Hegel zurück führt Jakobs einen völlig verengten Wissenschaftsbegriff bei Puchta, der Savignys ‚Herausfühlen der leitenden Grundsätze’ in ein „Hervorbringen einer formellen Einheit“ gepresst habe (259). Als Puchta 1837, im zweiten Band des Gewohnheitsrechts, seine Rechtsquellenlehre modifizierte und die Rechtswissenschaft nicht mehr dem Volksgeist unterwarf, habe er bereits früher „aufkommende Zweifel“ (263 – „nicht Manns genug, die Konsequenzen zu ziehen“, 273) endlich erhört. Indem er nun aber die vom Volksgeist emanzipierte Wissenschaft, anstatt sie „,höher zu stellen’ als die beiden völkischen Rechtsquellen“ im Rang nachordnete[6], blieb das ein „kleinliche[s] Resultat“ (287), mit dem Puchta den Angriffen Georg Beselers nichts entgegensetzen konnte. Puchtas Beseler-Rezension von 1844 löst bei Jakobs, aus „Respekt vor Puchtas Charakter“ daher auch „Erschütterung“ aus und es bleibt Puchtas „Glück …, dass der Tod ihn vor dieser Einsicht bewahrt hat“ (303).
Dem uneingeweihten Leser wird es schwer fallen, dieses Nachwort einzuordnen. Der Bezug dieses Texts zur Edition der Briefe ist eher gering. Zwar werden Briefstellen erläuternd herangezogen, doch steht insgesamt nicht die Edition im Zentrum der Erörterungen, sondern einige Schlüsseltexte Puchtas zu seiner Rechtsquellenlehre, die in wenigen Briefen nur gestreift werden. Jakobs nutzt im Kern eine einzige Briefstelle, um eine Argumentation zu stützen. Irritieren mag zudem der ganze Furor, der sich hier über Puchta ergießt. Warum sollen Rechtswissenschaftler nicht irren?
Man versteht diesen Text nur, wenn man in den Blick nimmt, dass Jakobs hier ein Thema aufnimmt, das ihn seit vielen Jahren beschäftigt[7]. Jakobs verteidigt Savigny gegen Puchta. Er tut dies, weil er der Ansicht ist, dass Savigny der Gegenwart etwas zu sagen hat, was allerdings erst gehört werden kann, wenn man Puchtas ‚Verfälschungen’ aus Savigny herausinterpretiert. Schon 1992 zog Puchtas Volksgeist Jakobs Polemik auf sich. In Rückprojektion viel späterer Denkweisen machte Jakobs aus Puchtas „nicht allein leibliche[r], sondern auch geistige[r] Verwandtschaft“[8]: „Rassismus“ und aus Überzeugungen, „welche dem Einzelnen nicht als solchem, sondern als Glied des Volkes angehören“[9] in offenbarer Anspielung an nationalsozialistische Leitsätze eine Rechtsentstehungslehre bei der „das Volk alles und der Einzelne nichts ist“ (Sozialismus[10]). Bei Jakobs rücken Hugo und jedenfalls der Savigny von 1814 philosophisch eng zusammen, der eine lediglich ‚prosaischer’, der andere ‚hochtrabender’ (275) und Puchta wird zum philosophischen Fremdkörper. Jakobs argumentiert damit gegen eine ‚objektiv-idealistische’ Deutung Savignys, wie sie vor allem Joachim Rückert vorgelegt hat[11]. Nach Jakobs verlagert Savigny 1814 die Rechtsentstehung nicht in eine zuvorliegende Substanz wie den Volksgeist, sondern überlässt der Rechtswissenschaft die Rechtsfortbildung, ohne ihre Methode auf das systematische Verfahren Puchtas zu begrenzen, ohne den Wissenschaftler im Kollektiv aufgehen zu lassen und ohne den Staat zum Urheber des Rechts zu machen. Puchtas Anbindung der Rechtswissenschaft an den „Staatswillen“ hat daher „Savignys Programm einer geschichtlichen Rechtswissenschaft zerstört“[12]. Für Jakobs ist klar, dass „die Wissenschaft der modernen Zeit dem nationalen entwachsen“ ist, sodass eine zutreffende Rechtsquellenlehre die Wissenschaft, wie Hugo es forderte, „höher zu stellen“ hat als Gewohnheits- und Gesetzesrecht (287). Savigny mahnt damit die Gegenwart, die sich „zu der geschichtlichen Rechtswissenschaft in einen Gegensatz bringt“ und sie „in das eine oder andere geistesgeschichtliche Schubfach ablegen und in die Vergangenheit abschieben muß“[13]. Gegen Puchtas Volksgeist, Staat und Nation, gilt es damit, Savignys Denken als „einzig mögliche[n] Standpunkt“ zu bewahren und die Rechtswissenschaft als unabhängige Rechtsquelle zu verteidigen. An die Stelle der idealistischen Prämisse Puchtas, dass Rechtswissenschaftler fähig seien, volksgeistgemäßes Recht zu produzieren, tritt bei Jakobs die gleichermaßen idealistische Prämisse, dass (nur) Rechtswissenschaftler in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit in der Lage seien, das Recht „ohne Absicht und Willkür“[14] fortzubilden.
Es ist an diesem Ort nicht möglich, alle Einzelaspekte zu diskutieren, die Jakobs in seiner eindringlichen Studie ausbreitet. Lediglich auf zwei Punkte seiner Interpretation möchte ich näher eingehen.
1. „Puchtas Charakter“
Wie Jakobs als einer der Ersten klar gesehen hat[15], macht Puchtas Rechtsquellenlehre mit Blick auf sein Juristenrecht eine Entwicklung durch. Während Puchta 1828 darauf beharrte, ein Juristenrecht sei nur dann Rechtsquelle, wenn es neben einer „wissenschaftlichen“ Richtigkeit auch dem „Volksgeist“ entspräche, genügte ihm seit 1837 für sein Recht der Wissenschaft die ‚wissenschaftliche Wahrheit’ eines Rechtssatzes. Da diese immer unsicher blieb, verlor sein Recht der Wissenschaft gegenüber dem früheren „Juristenrecht“ damit den Status einer vollwertigen Rechtsquelle. Auch bei den anderen bzw. vollwertigen Rechtsquellen schwächte Puchta die Bedeutung des Volksgeistes. Für Sätze, die „ihrer Natur nach etwas willkührliches haben“ kannte Puchta nun ein Juristengewohnheitsrecht, bei dem die Setzung gegenüber der Übereinstimmung mit dem Volksgeist in den Vordergrund trat. Indem er die Geltung der justinianischen Quellen nun über „Gesetzeskraft“ begründete[16], wurde auch insofern die Setzung bedeutsamer. Der Volksgeist trat innerhalb der Rechtsentstehungslehre Puchtas in den Hintergrund. Jakobs bietet in seinem Nachwort nun eine Erklärung für diesen Wandel an, die auf die in den Briefen diskutierte Rezension Hugos zu Puchtas erstem Band des Gewohnheitsrechts zurückgreift. In dieser Rezension hielt Hugo Puchta die „Bildung in der Hegelschen Schule“ vor. Nachdem sich Puchta zunächst scharf gegen diese Zuweisung verwahrt hatte (28. 1. 1829), bezeichnete er die Rezension später (20. 4. 1829) als „wohlwollend, gütig, geistreich“. Jakobs findet hier die Einsicht Puchtas in die fehlerhafte hegelianische Fundierung seiner Rechtsquellenlehre, als deren verschleppte Folge - sozusagen ein Abschütteln des Volksgeistes - er Puchtas Veränderung der Rechtsquellenlehre im Jahr 1837 interpretiert. Dahinter versteckt sich eine besondere Pointe: Psychologisch vermutet Jakobs, Puchta sei „nicht bewusst“ gewesen, „an wen er sich in seiner näheren Bestimmung des ‚gemeinsamen Bewußtseyns des Volkes“ anlehnte“ – nämlich Hegel (277). Puchta hätte damit unbewusst Hegel mit Savigny vermischt. Gegen Hugos Hinweis auf Verbindungen zwischen ihm und Hegel hatte Puchta betont, dass er genau dies keinesfalls wolle: Er warf Hugo vor, ihn mit der „Versöhnungstheorie meines Freundes Abegg, oder ähnlichen Abgeschmacktheiten“ in Kontakt gebracht zu haben (Brief vom 28. 1. 1829). Abeggs Versuch, Hegel und die Historische Rechtsschule zu versöhnen[17], kam für Puchta nicht in Betracht – gleichwohl hätte er genau das getan, indem er Savigny hegelianisierte. Die Tatsache, dass Puchta diese Einsicht gegenüber Hugo nicht erkennbar erwähnte, begründet Jakobs mit Puchtas „Unfähigkeit, coram publico oder doch wohl auch sich selbst“ seinen Irrtum einzugestehen (287). Der nachfolgende kompromisshafte Umgang mit dem Volksgeist sei „Folge seines unerhörten Stolzes“ (292) und der daraus resultierenden „Ziererei“[18] im Umgang mit eigenen Fehlern. Die nun wissentliche Weiterführung einer sich auf Savigny fehlerhaft berufenden Lehre sei psychologisch bedingt kein Betrug oder eine Fälschung durch Puchta, da „die Eitelkeit auf einen Weg führen kann, auf dem der gute (Fälschung und Betrug ausschließende) Glaube sich zu erhalten vermag“ (279). Puchtas Charakter ermöglichte eine exkulpierende Selbstsuggestion.
Jakobs interpretiert das Werk Puchtas psychologisch, nicht, wie mir attestiert, „sozusagen objektiv“ (287). Schriftliche Äußerungen in Rezensionen und Briefen lassen immer nur kleine Facetten einer Persönlichkeit sichtbar werden. Es gehört schon vor diesem Hintergrund viel Deutungssicherheit dazu, handlungsleitende ‚Persönlichkeitsprofile’ von Menschen zu erstellen, die seit über 160 Jahren tot sind. In die Gefahr des Zirkelschlusses gerät man dabei, wenn man nun diese Persönlichkeitsprofile nutzt, um Texte zu erklären, die wiederum Erklärungsgrundlage für die Persönlichkeitsprofile sind. Das Raster intelligent-stolz-blind im Besonderen bietet zudem eine gefährliche Beliebigkeit: Was man bewundert, ist Zeichen von Puchtas Intelligenz, was man ablehnt, ist falsch und resultiert aus stolzgeprägter Blindheit. Dies gilt, selbst wenn man der Ansicht ist, die Handlungslogik: ‚Eitelkeit macht blind’ sei auch fachpsychologisch hinreichend tragfähig.
In jedem Fall wird man alles erreichbare Material zu Puchtas Persönlichkeit sichten müssen, um ihn psychologisch deuten zu können. Nimmt man von Jakobs nicht verwendete Quellen in den Blick, so deutet sich ein differenzierteres Bild an. Auch Adolph Rudorff erschien Puchta mit Blick auf dessen Schriften zunächst als „verdammt vornehm und eingebildet“. Nach persönlichem Kontakt hob er dagegen Puchtas „Milde und Anmuth“ als zentrale Eigenschaften Puchtas „Geistes und Gemüths“ hervor[19]. Im Privaten galt der stark religiös geprägte Puchta als mild und freundschaftlich, keineswegs als scharf und arrogant. Diese Eigenschaft prägte vielmehr vor allem sein Auftreten gegenüber andersdenkenden Wissenschaftlern. Puchta selbst verteidigte dies mit seinem Wissenschaftsverständnis: „Für die Zulässigkeit der Polemik und zwar nach Beschaffenheit der Sache, der Polemik jeder Art spricht die unumgängliche Nothwendigkeit derselben. Denn in der That lässt sich ohne dieselbe gar keine wissenschaftliche Behandlung denken, und jede Zeit der Wissenschaft hat Streit erregt“[20]. Gerade der Umgang mit einem Gegenstand wie dem Recht, dessen Struktur sich angesichts der oft unklaren antiken Quellen und zugleich der Anbindung an den heutigen Volksgeist nach seiner Ansicht völlig sicherer Erkenntnis entzog, förderte ein Wissenschaftsverständnis, dass klare Bekenntnisse einforderte. Für Puchta waren Zeitschriften „Kampfplatz“[21], Wissenschaft also Gefecht, bei dem die Vernichtung des Gegners gesucht wurde. Möglicherweise war sein aggressives wissenschaftliches Auftreten also weniger charakterbedingt als bewusst gewählt. Zweifel sind jedenfalls angebracht.
Selbst wenn man das von Jakobs gezeichnete Charakterbild Puchtas akzeptiert, geben die von ihm herangezogenen Quellen für Jakobs weitreichende Deutungen zu wenig Substanz. Im Kern der Deutung von Jakobs steht die These, dass Puchta durch Hugos Kritik an ihm eingesehen habe, Savigny mit hegelianischer Brille fehlinterpretiert zu haben[22]. Jakobs folgert dies aus einer Briefstelle vom 20. April 1829 (111), in der Puchta seine früheren scharfen Angriffe gegen Hugo zurücknahm und eine „feierliche Abbitte“ erklärte: „Vor einigen Tagen ist mir die Recension über das G(ewohnheits)R(echt) wieder in die Hände gefallen, und ich habe sie aus Neugierde, nach dem Abschluß unseres deßfallsigen Notenwechsels wieder gelesen. Wie beschähmt fühlte ich mich, als (ich) sie nunmehr so wohlwollend, gütig, geistreich, kurz ganz so fand, als ich sie mir nur von irgendeiner Seite eine Recension meiner Schriften wünschen könnte. Ich begreife nicht, wo mein Kopf oder mein Herz gewesen seyn muss, als ich Ihnen für Ihre Güte durch so miserable Gaukeleyen dankte“. Jakobs meint: „Wir werden doch wohl nicht zu viel in diesen Sinneswandel hineinlesen, wenn wir annehmen, dass Hugos Zurechtweisung über das was ‚höher’ zu stellen sei, ihm zu denken gegeben hatte“ (277). Die Quelle trägt diese Interpretation aber nicht. Puchta fährt fort: „Verdient hätte ich, dass Sie mir nie wieder etwas gedruckt oder geschrieben über meine Arbeit sagten, und dass Sie diese Strafe nicht sofort haben eintreten lassen, ist mir ein großer Beweis der ungemeinen Guthmütigkeit, welche als Grundton Ihres Charakters ich so oft gegen Andersmeinende behauptet habe“. Der noch ganz am Anfang seiner Karriere stehende Puchta beendet einen Streit mit einem der berühmtesten Rechtswissenschaftler seiner Zeit, weil er fürchtet, dass dieser ihm seine Unterstützung entziehen könnte. Ob diese Neulektüre der Rezension Hugos mehr beinhaltet, als diese offenbar karrieretaktische Überlegung, ist dem Text nicht zu entnehmen. Auch an anderen Stellen hat Puchta nicht explizit erläutert, warum er 1837 seine Rechtsquellenlehre modifiziert hat.
Ohne einen genaueren Blick in den Kontext, in dem dieser Sinneswandel Puchtas erfolgte, bleiben also alle psychologischen Deutungen Spekulation. Nimmt man demgegenüber die Themen in den Blick, die Puchta zwischen 1828, dem Erscheinen des ersten Bandes des Gewohnheitsrechts und 1837, dem Erscheinen des zweiten Bandes, beschäftigten, so findet sich eine durchaus plausible Erklärung für die Neuausrichtung seiner Rechtsquellenlehre. Neben vielen kleinen dogmatischen und auch historischen Arbeiten beschäftigten Puchta in diesem Zeitraum im Wesentlichen zwei Fragen. Zunächst ging es 1829/30 um die Frage, wie ein System der Rechte aufzubauen sei – hier war Hugo Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Daneben ging es um die philosophische Grundlegung der Rechtswissenschaften – hier war Savigny sein Ausgangspunkt. Für beide Fragen nutzte Puchta die Münchener Philosophie Schellings. Auch Hugo gegenüber schwärmte er 1829 von diesen Vorlesungen (103). 1833 nahm er erstmals öffentlich auf sie Bezug und trat dabei für eine Annäherung der Jurisprudenz an die Philosophie ein[23]. 1837 änderte er seine Rechtsquellenlehre. 1838 begann sein Streit mit Stahl um die richtige Interpretation Schellings[24]. 1839 sprach er von einem „höchst bedeutenden Einfluß der Schelling’schen Philosophie auf die Jurisprudenz“[25]. Im gleichen Jahr schrieb er seine Rechtsphilosophie nieder[26] und verteidigte sie brieflich auch gegenüber Savigny[27]. Kern dieser Rechtsphilosophie waren die §§ 1-10 seiner Enzyklopädie von 1841, welche die Entstehung des Rechts thematisierten. Während Jakobs die von mir ‚gespielte’ „altbekannte Karte Schelling“ überhaupt nicht näher thematisiert, weil er sie „in Puchtas Arbeit auf eine diese inhaltlich bestimmende Weise“ nicht unterbringen zu können glaubt (276 Fn. 27), wird auch diese Enzyklopädie von 1841 nicht von ihm interpretiert, weil die Änderung der Rechtsquellenlehre 1837, also früher erfolgte. Dies verkennt, dass Puchta über die Rechtsentstehung seit 1829 konstant nachdachte. Vor allem werden damit aber die Quellen abgeschnitten, die einzig erklären können, wie Puchta seine Rechtsquellenlehre begründet. Das Schweigen der Quellen in dieser Frage, das Jakobs zu einer psychologisierenden Erklärung zwingt, ist insoweit von ihm selbst konstruiert. Akzeptiert man Puchtas Bekenntnisse zu Schelling und liest man seine Enzyklopädie unter Zuhilfenahme der Münchener Vorlesungen Schellings, so ergibt sich eine schlüssige Begründung für Puchtas Modifikation seiner Rechtsquellenlehre: Blickt man nicht nur auf das Gewohnheitsrecht, sondern auch auf die anderen Rechtsquellen so fällt auf, dass Puchta sie seit 1837 insgesamt von ihrem Entstehungsgrund abkoppelt[28]. Puchta behandelt das Recht als „das Entstandene selbst“, als eine positive Erscheinung und verwehrt dem Juristen den Zugriff auf den Volksgeist. Der Volksgeist bleibt Entstehungsgrund, er wird aber nun von einem Ort, an dem die Juristen als Repräsentanten des Volkes einfühlend Anteil haben können, zu einer „dunklen Werkstätte“. Genau dieser Terminus findet sich bei Schelling als Bezeichnung für den Entstehungsgrund der Mythologie. In München wies Schelling auf die Parallele zwischen Mythologie und Recht hin („Auf gleiche Weise [wie die Mythologie] werden die Gesetze vom Volk im Fortgang seines Lebens erzeugt“[29]) und führte dort seinem Hörer Puchta vor, wie man eine Philosophie der Mythologie aufbaut. Getreu diesem Leitmuster betrieb Puchta in den §§ 1-9, der „philosophische[n] Grundlage“ ‚positive Philosophie’ und untersuchte die Entstehung und Entfaltung des Rechts in der Geschichte.
In seiner Pandektendogmatik betrieb er „negative“ Jurisprudenz/Philosophie. Bei dieser behandelte er einen Gegenstand rationalisierend-vernünftig, obwohl die Vernunft „nur durch einen Sprung zum Recht“[30] komme. Negative Philosophie war immer Erklärungshypothese, niemals sicherer Erkenntnisweg: „Jene logischen Systeme werden … falsch, wenn sie das Positive ausschließen und sich selbst dafür ausgeben“[31]. Negative Philosophie war Schellings Antwort auf Hegel und zugleich der Ort, an dem sich Puchtas Disput mit Stahl entzündete. Schelling forderte vom Philosophen eine streng rational-schließende Behandlung seines Gegenstandes. Scharf trat er Stahls Deutungen entgegen, demzufolge Schelling Hegels Vernunft religiöse Einfühlung in den Gegenstand und ‚Anschauung’ als Erkenntnisweg entgegengesetzt hatte. „Ich ehre allen wahren Glauben, aber wenn man Glauben will, braucht man nicht zu philosophieren; und es ist widersinnig in die Philosophie den Glauben einzumischen; gerade darum philosophiert man, weil man mit dem bloßen Glauben sich nicht begnügen will“[32].
Um einen Gegenstand zu erkennen setzte Schelling dagegen auf „positive“ Philosophie, die den Gegenstand in seiner Geschichte nachvollzog und ihn somit ‚a posteriori’ betrachtete. Ohne Logik kein Verstehen, ohne Geschichte kein Erkennen. Es handelte sich um komplementäre Erkenntniswege, die nicht vermischt werden durften. Puchta konstruierte seine Dogmatik in der Folge mit Schellings „dupliker Rationalität“ (Siegbert Peetz), als Zusammenspiel von historisch-frei-gesetztem und zugleich systematisch-notwendig-vernünftig interpretiertem Erkenntnisgegenstand: „Die Entstehung des Rechts durch den unmittelbaren Willen der Nation und den Gesetzgeber ist eine freie; was sie hervorbringen, unterliegt im Einzelnen keiner eine bestimmte Linie vorschreibenden Nothwendigkeit (z. B. Formen bei der Eigenthumserwerbung, Fristen für die Ausübung von Rechten, Voraussetzungen der Verbindlichkeit der Verträge, Berechtigung zur Erbfolge u. s. w.). Im Ganzen besteht auch für sie eine gewisse Schranke in der vernünftigen Natur des Rechts; das Recht ist etwas Vernünftiges, in seiner Entwicklung einer logischen Nothwendigkeit Unterliegendes. Wenn z. B. der Gesetzgeber das Eigenthum als unmittelbare Herrschaft über eine Sache anerkennt, so anerkennt er damit nothwendig auch die vernünftigen Consequenzen aus dieser seiner Natur, wonach es z. B. in seiner Wirkung eine ganz andere Beschaffenheit hat, als die Obligatio, wiewohl freilich unter Umständen das Bedürfnis zu einer Abweichung von diesen Consequenzen führen kann“[33].
In doppelter Hinsicht forderte Schellings Philosophie eine Korrektur der Rechtsquellenlehre Puchtas: Wenn bloße Intuition unzulässiger Erkenntnisweg war, musste Puchta den Juristen die einfühlende Anteilnahme an den ‚praktischen Bedürfnissen’, die er 1828 noch herausgestellt hatte, nun versagen. Der Volksgeist war als „dunkle Werkstätte“ dem Zugang des Juristen verschlossen. Die Erkenntnis des Rechts war nur ‚a posteriori’ durch die Geschichte möglich. Gewohnheit und gesetzliche Setzung waren wichtigstes Erkenntnismittel. Der Wissenschaftler betrieb ‚positive’ Jurisprudenz, ohne ‚Positivist’ zu sein.
Um das nur als „Entstandenes“ sichtbare Recht zu verstehen, musste es der philosophierende Jurist zugleich rationalisieren. Die wissenschaftlich-systematische Durchdringung der vorhandenen Rechtssätze war unverzichtbar. Gleichwohl fand die solchermaßen „negative“ Jurisprudenz ihre Grenze im „Vorrang des Seins“. Die wissenschaftlich-systematische Arbeit des Juristen war bloße Erklärungshypothese. Hätte Puchta behauptet, durch Ableitungen aus dem Rechtssystem vollwirksames Recht produzieren zu können, wäre er in der Perspektive Schellings in den Kardinalfehler Hegels zurückgefallen. Puchtas „Recht der Wissenschaft“ musste den anderen Rechtsquellen untergeordnet werden.
Die Korrektur der Rechtsquellenlehre Puchtas im Jahr 1837 lässt sich vor diesem Hintergrund schlüssig als Folge einer an Schelling angelehnten Neufundierung der Rechtslehre Puchtas deuten. Ob man Puchtas Konzept für richtig hält, ob er damit den richtigen „Charakter“ (290) der Wissenschaft als Rechtsquelle erfasst hat, ist in historischer Perspektive irrelevant. Einer Spekulation über Puchtas psychologisches Innenleben bedarf es für ein Verständnis seiner Rechtslehre jedenfalls nicht.
2. Volksgeist, Savigny und Hegel
Prämisse der psychologischen Deutung Puchtas durch Jakobs ist, dass zwischen Puchta und Savigny in der Deutung der Entstehung des Rechts eine entscheidende Differenz besteht. Ohne eine solche, hängen alle von Jakobs angestellten Überlegungen zu Auswirkungen von Puchtas Charakter in der Luft.
1836 äußerte sich Savigny erstmals gegenüber Puchta über Band 1 des Gewohnheitsrechts, was Puchta als „freundliche Aeußerung über das Gewohnheitsrecht“[34] zusammenfasste. In seiner Antwort wies er auf die beabsichtigten Änderungen seiner Rechtsquellenlehre hin: „Ich hoffe, daß meine Meinung, die sich in einigen Punkten geändert oder geleutert hat, hierin auch solche getroffen hat, in welchen Sie von meinem Buche abweichen“. 1839 nahm Savigny zum zweiten Band Stellung, erneut von Puchta resümiert als: „Für Ihre freundlichen Worte über meinen 2n Band bin ich Ihnen sehr dankbar“[35]. Im System von 1840 wurden Differenzen deutlich. Savigny gab Gewohnheit und Wissenschaft mehr Raum (so auch Jakobs 296f.), ließ aber keinen Zweifel an der Notwendigkeit von einem „inneren Zusammenhang der Gesetzgebung und der Rechtswissenschaft mit dem Volksrecht“[36]. In den Vorberatungen mit Puchta zu § 52 des Systems fand sich ebenso völliger Einklang mit Blick auf den Volksgeist als Entstehungsgrund des Rechts. Savigny schrieb hier: „durch geistige Mittheilung entsteht eine Gemeinschaft des Denkens und Fühlens, wodurch Mehrere, ja Viele, zu einer wahren Einheit verbunden werden können. Diese Gemeinschaft hat ihre Bedingungen und Gränzen in der Verbindung, worin die Einzelnen durch Abstammung, räumliche Berührung, gemeinsame Schicksale vorzüglich auch durch die Sprache als Träger der Gedanken und Gefühle, zu einander stehen. Hier ist der wahre Boden für die Ausbildung jenes rechtsbildenden Grundtriebes der Vernunft. Das Volk als unsichtbares Individuum gemeinschaftlich denkend und wollend, wird zum Staat, das in den Einzelnen als unentwickelte Anlage, als unbefriedigtes Bedürfniß vorhandene Rechtsbewußtseyn wird zum positiven Recht des Volkes.“?[37]. Nimmt man etwa die in dieser Diskussion fallenden Philosopheme Bethmann-Hollwegs hinzu[38], so zeigt sich ein erstaunlicher Gleichklang in der Frage des Volksgeistes als Rechtsentstehungsgrund, und nicht Puchta von 1828, sondern Savigny von 1814 wäre in der Lesart von Jakobs ein Außenseiter. Nun wäre es freilich denkbar, dass Savigny sich Puchtas Vorstellungen in den 1830er Jahren anpasste. Es bleibt für mich aber wahrscheinlicher, dass ein derart weitgehender Unterschied in der Rechtsentstehungslehre zwischen Puchta und Savigny nie bestand. Dies würde erklären, warum zwischen beiden zu keinem Zeitpunkt ähnlich scharfe Differenzen herausgestellt wurden wie die von Jakobs gesehenen. Zudem meinte Savigny bereits 1813/14: „Recht wird, wie alles andere, was zum innern Wesen des Volkes gehört, unmerklich und durch Charakter und Geschichte des Volkes erzeugt, nicht durch Willkühr – also alles Recht Gewohnheit nicht Gesetz – spätere Entwicklung (NB. ununterbrochene Succession in allen Richtungen des geistigen Daseyns): alles kommt darauf an, wie viel von diesem Recht zum Bewußtseyn kommt, frei wird, Sprache erhält – es kann Sprache erhalten durch Juristen, oder auch durch Gesetze“[39]. Der Jurist als Sprecher des inneren Wesen des Volkes steht Puchtas Volksgeistkonzeption doch nahe. Eine „Erst … dann-Konstruktion“ mit der Folge eines vom Volk emanzipierten, autonomen Juristenstandes sehe ich hier nicht. Der von Jakobs konstruierte „um eine Volksgeistlehre amputierte[…] Savigny“[40] hat bisher wenig Zustimmung gefunden[41]. Mit Blick insbesondere auf die vielen von Joachim Rückert zusammengetragenen Argumente[42] scheint es mir weiterhin plausibler, zwischen Savigny und Puchta in dieser Frage eine denkerische Nähe zu finden, als zwischen Savigny und Hugo.
Seit längerem wird es als wahrscheinlich angesehen, dass Puchta den Terminus „Volksgeist“ von Hegel übernahm. Da Puchta sich hierzu nach bisherigem Wissen nicht äußerte und auch vor Hegel „Volksgeist“ bereits ein weit verbreiteter Modeausdruck war, wird sich die Frage nicht sicher klären lassen. Bei Puchta taucht der Terminus nicht, wie Jakobs anscheinend (S. 277: „Vorarbeiten zum ‚Gewohnheitsrecht’“) annimmt, erst im ersten Band des Gewohnheitsrechts[43] auf, sondern findet sich sprachlich erstmals in der hochpolemischen Rezension über Eduard Gans Erbrecht aus dem Jahr 1826[44], also einem Ort intensiver Auseinandersetzung mit Hegel. Was den jungen Puchta bei seinem Volksgeistbegriff mit Hegel zunächst verbindet, ist die Tendenz dem Volksgeist eine eigene dialektische Geschichte zu geben, wie sie in Puchtas Abhandlung zu den Perioden von 1823 ganz deutlich wird (zutreffend Jakobs (255ff.)). In Puchtas Werken nach 1828 wird man eine dem Periodenaufsatz von 1823 entsprechende, strenge geschichtsphilosophische Stufung freilich nicht mehr finden. 1841 sprach er mit Schelling von „Weltaltern“, die weit weniger klare Konturen hatten[45]. Eindeutig überwiegen damit die - von Jakobs durchaus gesehenen[46] - Unterschiede zwischen dem Volksgeistbegriff Puchtas und dem Hegels. Bei beiden ging es zwar im Ergebnis nicht um eine Volksrechtsapologie. Die Folgen waren aber unterschiedlich. Nicht zufällig untersuchte Hegels Meisterschüler Eduard Gans für die Rezeption des Römischen Rechts wie dieses „in Statuten der Städte, in Gesetzgebungen der Staaten“ unaufhaltsam vorgedrungen sei[47]. Demgegenüber betonte Puchta 1828 gegen Gans, es sei die Rechtswissenschaft, welche dem Gemeinen Recht seine Ausbildung gegeben habe – „Und nichts außer ihr. An die Volkssitte ist nicht zu denken, weil das Volk, in dessen Bewußtsein das römische Recht einst in Wahrheit lebte, untergegangen war … Die Wissenschaft ist also die einzige Rechtsquelle für das neuere römische Recht“[48]. Gerade in den Perspektiven, die Jakobs am Volksgeist interessieren, führt kein Weg von Puchtas Volksgeist zu Hegel. Vor allem sehe ich im Ergebnis keine Bevormundung der Rechtswissenschaft durch das ‚Volk’. Die Unsicherheit in der Erkenntnis der ‚Volksgeistgemäßheit’ eines gemeinrechtlichen Satzes war für den Juristen als ‚Repräsentanten’ 1828 zunächst Chance, nicht Bindung. In Puchtas später Rechtsquellenlehre war der Volksgeist dann nicht mehr als eine, nicht vom gesetzgebenden Staat gedachte, sondern unter dem Nationenbegriff schlummernde black box, die gerade auch der Rechtswissenschaft den entscheidenden Freiraum gewährleisten sollte. Den Schritt darüber hinaus, der Rechtswissenschaft völlige Autonomie gegenüber dem Volk in der Fortbildung des Ius Commune zu geben, ging vor allem Romeo Maurenbrecher. Die scharfe Ablehnung, die seine Lehre zeitgenössisch erfuhr, zeigte, dass ein solches Juristenrecht keine Chance auf politische Zustimmung gehabt hätte[49]. Politisch war die Tarnung der Herrschaft der Rechtswissenschaft unter dem Dach des Volksgeistes ein akzeptanzfördernder Schachzug. Eine Bevormundung der Rechtswissenschaft durch das Volk, gar „Sozialismus“ findet sich in Puchtas Rechtsdenken nicht. Jakobs Sorgen um eine freie Wissenschaft hat Puchta wohl geteilt.
Köln Hans-Peter Haferkamp
[1] Die darauf im Einzelnen eingehende Rezension des Werks durch Martin Avenarius erscheint in: Index 2009.
[2] Die Gegenbriefe Hugos an Puchta sind höchstwahrscheinlich im zweiten Weltkrieg in Berlin verbrannt.
[3]
Jakobs (269 Fn. 17) verneint die von mir herausgestellte Abwendung Puchtas im
Jahr 1827 von der Rechtsgeschichte unter Hinweis auf einige spätere
rechtshistorische Arbeiten Puchtas. Puchta betonte jedoch auch später diesen
Entschluss, so im Brief vom 23. 11. 1838 an Rudorff, abgedruckt bei Ernst
Rudorff, Aus den Tagen der Romantik,
Leipzig 1838, S. 155: „Es war eine Zeit, wo ich Talent für das eigentlich
Historische zu besitzen glaubte; davon bin ich glücklicherweise zurückgekommen.
Ich habe einen großen receptiven Sinn dafür, aber ich werde nichts darin
leisten“.
[4] Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 13 f.
[5] So Jakobs deutlich in: Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Paderborn 1992, S. 39.
[6] Jakobs meint, bei Puchta sei keine Rede davon gewesen, dass das Recht der Wissenschaft Lücken von Gesetzes- und Gewohnheitsrecht schließen solle (289 Fn. 42): Puchta, Pandekten, 3. Aufl. Leipzig 1845: „Auch das vollständigste Gewohnheits- und gesetzliche Recht wird sich gegenüber der stets neu sich erzeigenden Rechtsverhältnisse unvollständig erweisen, diese Lücken zeigt das System auf, und füllt sie aus … hier tritt die Wissenschaft als ergänzende Rechtsquelle ein, indem sie den Rechtssatz aus den Principien des bestehenden Rechts erschließt“. Zutreffend spricht Jakobs in der Fußnote dann vom nicht lückenlosen „Recht“ bei Puchta, während die benannten Rechtsquellen nach Puchta durchaus lückenhaft sind.
[7] Horst Heinrich Jakobs, Der Ursprung der geschichtlichen Rechtswissenschaft in der Abwendung Savignys von der idealistischen Philosophie, in: TRG 1989, S. 241 ff.; ders., Begründung (Fn. 5). Jakobs legt diese Bezüge im Nachwort nicht offen.
[8] Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Bd. 1, Erlangen 1828, S. 131. Die sowieso jenseits biologistischer Positionen späterer Epochen gedachte leibliche Verwandtschaft rückt bei Puchta gegenüber der geistigen Verwandtschaft so in den Hintergrund, dass viele seiner Volksgeistdefinitionen sie gar nicht aufnehmen, vgl. etwa Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. 1, Leipzig 1841, S. 15.
[9] Puchta, Gewohnheitsrecht I (Fn. 8), S. 121.
[10] Jakobs, Begründung (Fn. 5), S. 63 („kollektivistisch oder sozialistisch“).
[11] Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl v. Savigny, Ebelsbach 1984, zum streitigen Terminus „objektiver Idealismus“, ebda. S. 292ff.; zusammenfassend vor allem ders., Savignys Konzeption von Jurisprudenz und Recht, ihre Folgen und ihre Bedeutung bis heute, TRG 1993, S. 65ff.; übereinstimmend in der Sache bereits Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“, Frankfurt am Main 1979, S. 161ff., 164f.; übereinstimmend auch Marie Sandström, Die Herrschaft der Rechtswissenschaft, Lund 1989, S. 108ff.; Aldo Mazzacane( Hg.), Friedrich Carl von Savigny: Vorlesungen über juristische Methodologie, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2004, S. 35ff.; zweifelnd gegenüber seinen eigenen früheren Ansätzen, aber doch teilweise Rückert differenzierend Hans Kiefner, Deus in nobis – „Objektiver Idealismus“ bei Savigny, in: ZRG GA 112, 1993, S. 428 ff., 445 ff.
[12] Jakobs, Begründung (Fn. 5), S. 123.
[13] Jakobs, Begründung (Fn. 5), S. 371, vgl. auch 380.
[14] So nach Savigny Jakobs Begründung (Fn. 5), S. 371 u. ö.
[15] Jakobs, Begründung (Fn. 5), S. 31 ff.
[16] Jakobs lehnt diese Deutung ab, es sei „schlechterdings ausgeschlossen, dass Puchta, wo immer er von der Gesetzeskraft des römischen Rechts spricht, mit dieser den Grund für dessen Geltung hat angeben wollen“ (292). Für Puchta habe Römisches Recht weiterhin nur infolge seiner Rezeption gegolten, da er die Wissenschaft nicht mehr als vollwertige Rechtsquelle betrachtete, habe er freilich zugleich „die Rezeption unerklärbar gemacht“. Erneut findet Jakobs einen denkerischen Fehler bei Puchta, der diesem „selbst verborgen geblieben ist“ als „Folge seines unerhörten Stolzes“ (292). Georg Friedrich Puchta, Vorlesungen über das heutige Römische Recht, hier nach 6. Aufl. Leipzig 1873, S. 7: „Seine Eigenschaft als heutiges Recht hat es [sc. das römische Recht] nicht durch die Autorität eines Gesetzgebers …, sondern durch die Kraft der wissenschaftlichen Überzeugung … Seine Wirkung als heutiges Recht äußert es a) durch die Gesetzeskraft, die es in Deutschland erhalten hat und in den meisten Ländern noch besitzt … c) durch seine Bedeutung für unsere Rechtswissenschaft, unser ganzes Rechtssystem beruht auf römischen Rechtsgedanken“. S. 18: „es hat Gesetzeskraft, es gilt als ‚recipirtes Recht’, aber als gemeines, und weicht daher dem particulären Recht des Landes, der Provinz, des Orts, so weit dieses mit ihm collidirt“. Puchta löst das Problem also in einem Unterschied zwischen „Eigenschaft“ und „Wirkung“ auf. Es bleibt aber dabei, dass Puchta nach 1837 die Geltung auf ‚äußere’ Merkmale wie die Rechtsquellenlehre des Ancien Régime gründet und – anders als Savigny – ein Fortleben in der Rechtswissenschaft nicht als ausreichend erachtet, hierzu mein Beitrag: Die Bedeutung von Rezeptionsdeutungen für die Rechtsquellenlehre zwischen 1800 und 1850, in: Hans-Peter Haferkamp u. Tilman Repgen, Usus modernus pandectarum, Köln 2007, S. 28ff.
[17] Der „Schritt zur Versöhnung“ fand sich erstmals in Julius Friedrich Heinrich Abeggs Encyclopädie und Methodologie, Königsberg 1823 in der dort vorangestellten Abhandlung: Über die wissenschaftliche Darstellung des Rechts; deutlicher dann ders, System der Criminal-Rechts-Wissenschaft, Königsberg 1826, Vorrede, dort S. XIII auch das Zitat. Eine gute Einordnung der Bemühungen Abeggs in die zeitgenössische Diskussion bringt Friedrich August Biener, Über die historische Methode und ihre Anwendung auf das Criminalrecht, in: Neues Archiv des Criminalrechts 1829, S. 476ff., 477, 479, 504ff.
[18] Jakobs entnimmt dies einer Selbstbeschreibung Puchtas (253).
[19] Brief vom 20. 11. 1838 abgedruckt bei Rudorff, Aus den Tagen der Romantik (Fn. 3), S. 152 f.
[20] Georg Friedrich Puchta, Encyclopaedie als Einleitung zu Institutionen - Vorlesungen, Leipzig und Berlin 1825, S. 7.
[21] Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 3. Aufl. Leipzig 1844, S. 15 Anm. o).
[22] Dagegen, dass diese Veränderung auf Hugos Hinweis von 1828 zurückgeht, spricht jedenfalls, dass Puchta im Institutionenlehrbuch von 1829 (Puchta, Lehrbuch für Institutionen-Vorlesungen, München 1829, S. 17: „historische und nationelle Wahrheit“) , dessen Vorwort vom 15. August 1829 datierte, weiterhin die alte Rechtsquellenlehre vertrat – was Jakobs aber wohl als charakterbedingt erklären würde.
[23] Georg Friedrich Puchta, Von der historischen Schule der Juristen und ihrem Verhältnis zu der Politik, in: Bayerische Annalen Nr. 27 vom 14. 3. 1833, S. 207.
[24] Hierzu Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die ‚Begriffsjurisprudenz’, Frankfurt am Main 2004, S. 311 ff.
[25] Georg Friedrich Puchta, Rez. Romeo Maurenbrecher, De auctoritate prudentum prolusio academica, in: (Richters) Kritische Jahrbücher für deutsche Rechtswissenschaft, Bd. 6, 1839, S. 735.
[26] Vgl. Brief an Savigny vom 19. 10. 1939, der Text sei „vor wenigen Wochen niedergeschrieben“ worden.
[27] Die in der Universitätsbibliothek Marburg lagernde Diskussion zum späteren § 52 des ‚Systems’ „Die Rechtsverhältnisse (§ 52). Erste, zweite und dritte Redaktion“, Ort der Debatte, ist im Internet greifbar: http://savigny.ub.uni-marburg.de/. Daneben ist der Briefwechsel teilweise, aber nicht lesefehlerfrei abgedruckt bei Hans Kiefner, Das Rechtsverhältnis, in: Norbert Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart, München 1982, S. 149ff.; eine Auswertung habe ich vorgelegt in: Die Bedeutung der Willensfreiheit für die Historische Rechtsschule, in: Ernst-Joachim Lampe u. a. (Hgg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, Frankfurt am Main 2008, S. 196 ff.
[28] Zum Folgenden Haferkamp, Puchta (Fn. 24), S. 358ff.
[29] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie, 1837, in: Philosophie der Mythologie in drei Vorlesungsnachschriften, hg. von Klaus Vieweg/Christian Danz (jena-sophia I, 1,1,), München 1996, S. 51.
[30] Puchta, Institutionen I, 1841, S. 6.
[31] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, System der Weltalter. Münchner Vorlesung 1827/28 in einer Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hg. von Siegbert Peetz, Frankfurt am Main 1990, S. 12.
[32] Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Mythologie. Nachschrift der letzten Münchner Vorlesungen 1841, hg. von Andreas Rosner/Holger Schulten (= Schellingiana 6), Stuttgart 1996, S. 209f.
[33] Georg Friedrich Puchta, Vorlesungen über das heutige Römische Recht, 6. Aufl. hg. von Adolph Friedrich Rudorff, Bd. 1, Leipzig 1873, S. 25.
[34] UB Marburg, Ms. 838/48 vom 21. März 1836. Eigenartigerweise verwendet Jakobs diese für seine Argumentation wichtigen Quellen nicht.
[35] UB Marburg, Ms 838/60 vom 13. Februar 1839.
[36] Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 51.
[37] Savigny, Die Rechtsverhältnisse (Fn. 27), Blatt 224 S. 5 (zweite Redaktion).
[38] Hierzu Haferkamp, Willensfreiheit (Fn. 27), S. 203 ff.
[39] Einleitung zu den Pandekten 1813/14, bei Mazzacane, Methodologie (Fn. 11), S. 263.
[40] Hermann Klenner, Rez. Jakobs, Begründung (Fn. 5), in: ARSP 1993, S. 451ff.
[41] Durchweg diesbezüglich ablehnend Okko Behrends, Gustav Hugo – Der Skeptiker als Wegbereiter der vom Geist der Romantik geprägten Historischen Rechtsschule, in: ders. (Hg.), Edward Gibbon. Historische Übersicht des Römischen Rechts, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Gustav Hugo, Göttingen 1996, S. 215 Fn. 71; Rückert, Savignys Konzeption (Fn. 11), S. 75 Fn. 64; sowie die Rezensionen von Aldo Mazzacane, in: RJ 1992, S. 175 ff.; Klenner, a. a. O., S. 451 ff.; Klaus Luig, in: Ius Commune 1995, S. 356ff.; Alexander Somek, in: ZNR 1997, S. 308ff.
[42] Vgl. nur Rückert, Idealismus (Fn. 11), S. 312 ff.
[43] Entgegen der Unterstellung in Fn. 47 bei Jakobs habe ich den Volkgeist durchaus bis zu Hegel zurückverfolgt, vgl. Haferkamp, Puchta (Fn. 24), S. 183 ff.
[44] Eduard Gans: Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, Teil 1, Berlin 1824, Teil 2, Berlin 1825, in: Erlanger Jahrbücher 1, 1826, S. 14.
[45] Puchta, Institutionen I (Fn. 8), S. 99.
[46] Jakobs sieht diese Unterschiede präzise, vgl. Begründung (Fn. 5), S. 101 ff.
[47] Eduard Gans, Rezension von Savignys Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik Nro. 41-44, März 1827, ND Köln 1993, S. 335.
[48] Georg Friedrich Puchta, Über eine Rezension von Savigny’s Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter in den Berliner Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik Nro. 41-44, in: Rheinisches Museum für Jurisprudenz, Philologie, Geschichte und griechische Philosophie, Bd. 1, Bonn 1827, S. 327-336, 1827, S. 333 f.
[49] Vgl. die Zitate bei Romeo Maurenbrecher, De auctoritate prudentum prolusio academica, Bonn 1839, S. 4 (Phillips, Mittermaier, Thöl, Grefe - der dort genannte Thibaut bezog sich nicht auf Maurenbrecher); daneben die Zusammenstellung der ablehnenden Stimmen bei Bruno Urbaschek, Empirische Naturwisenschaft und Naturrecht. Der Beitrag Romeo Maurenbrechers zur Rechtslehre des 19. und 20. Jahrhunderts, Meisenheim an der Glan 1966, S. 1ff. (neben Stahl: Mohl, Beseler, Albrecht, Gerber).