Geltner, Guy, The Medieval Prison: A
Social History.
Das hochgesteckte
Ziel dieser aus einer in Princeton erstellten Dissertation hervorgehenden
Studie ist, die Entstehungsgeschichte von Gefängnissen im Allgemeinen und der
Strafhaft im Besonderen unter Berücksichtigung von Gesellschaft und Kultur zu
erläutern, zugleich die Forschungslücke Italien zu schließen und die traditionelle
Art und Weise, die Geschichte der Gefängnisse darzustellen, um eine
anthropologische, stadtgeschichtliche und soziologische Perspektive zu
erweitern, und zwar auf der Basis praxisbezogener statt beschreibender Quellen,
um auf diese Weise ein lebendiges Bild mittelalterlicher Gefangenschaft zu
zeichnen. Herauskommen soll dabei ein fundiertes regionales Porträt, das
weiterführende Aussagen über die Mentalitätgeschichte der mittelalterlichen
Gesellschaft zulässt. Dies alles soll erreicht werden in fünf insgesamt circa
100 Seiten umfassenden Kapiteln. Der Rest des Bandes besteht aus drei Anhängen
(Das lateinische Verzeichnis des Gefängnisinventars von Bologna aus dem Jahr
1305; eine Auswahl im Gefängis entstandener italienischer Gedichte aus dem 14.
bis 16. Jahrhundert mit englischer Übersetzung; sowie die Rekonstruktion des
1833 zerstörten Florentiner Gefängnisses Le Stinche), den Endnoten, einer Bibliographie
und einem Index.
Die großen
Erwartungen, die durch den allgemein gehaltenen Titel und Teile der Einleitung
geweckt werden, werden nicht erfüllt. Darüber kann auch die mitunter sehr
abgehobene, abstrakte, ja zum Teil unverständliche Ausdrucksweise nicht
hinwegtäuschen. So ist zum Beispiel der geographische Rahmen nur sehr begrenzt:
allein die Gefängnisse von Venedig, Florenz, Bologna und Siena werden analysiert,
wobei zu Vergleichszwecken knapp auf Forschungsergebnisse aus England und
Frankreich und anderen Teilen Italiens eingegangen wird. Die Forschungslücke
Italien kann somit nicht ganz so groß sein, wie eingangs vom Autor behauptet.
Auch
wird nicht wirklich die Entstehungsgeschichte von Gefängnissen erläutert, sondern
höchstens die der Gefängnisbauten von Venedig, Florenz und Bologna, und dies äußerst
knapp. Der Überblick über die Baugeschichte der venezianischen Gefängnisse von circa
1173 bis in die heutige Zeit umfasst gerade mal 31 Zeilen, wovon 14 Zeilen auf
die Kernzeit des Buches (circa 1250-Ende des 14. Jahrhunderts) entfallen. Obwohl
die Gefängnisse der italienischen Stadtstaaten zu den am besten dokumentierten
gehören sollen (S. 3) und der Autor betont, dass er besonders intensive
Archivstudien betrieben hat (S. 11), verwundert es, wie dürftig die vorgelegten
Informationen und wie vage die Zeitangaben sind, was aber an den zur Verfügung
stehenden Quellen liegen kann (“prior to the late thirteenth century“, “during
the thirteenth and fourteenth centuries“, “several decades later“, S. 12; erst
ab dem 16. Jahrhundert wird es etwas präziser: “around 1540“, “in 1591“).
Neben dem
Abriss der Baugeschichte erfährt man im ersten Kapitel ebenfalls etwas über die
Verwaltungsgeschichte der Gefängnisse in Venedig, Florenz und Bologna (Zahl der
Bediensteten, ihre Aufgaben und Löhne) und über die Situation der Gefangenen
dort. Auf Siena, das nur in der Zusammenfassung dieses Kapitels erwähnt wird, soll
in Kapitel 2-5 eingegangen werden, allerdings nicht etwa weil die Quellenlage
dort besonders gut oder die Stadt besonders wichtig war, sondern schlicht und
ergreifend, um den Leser nicht durch ein weiteres Beispiel zu überfordern (S.
5). Jedoch scheint die Quellenlage für Florenz ungemein besser zu sein: dort
sind die von Gefängnisnotaren erstellten Register überliefert, auf die sich der
Autor in den folgenden Kapiteln besonders stützt, und Florenz hat als einziger
Stadtstaat Quellen, die Auskünfte über die Arbeit der Gefängnisaufsicht geben
(S. 11). Warum der Autor also Siena den Vorzug vor Florenz gab, ist nicht ohne
weiteres nachzuvollziehen.
Im
zweiten Kapitel werden dieselben Schwerpunkte wie im ersten Kapitel gesetzt,
nur dass jetzt Themen (Stadtentwicklung, Verwaltung, Finanzen und Recht) statt
Stadtstaaten (Venedig, Florenz, Bologna) im Mittelpunkt stehen und auch Quellen
aus Siena erwähnt sowie Vergleiche mit anderen Teilen Italiens (und nur ganz am
Rande Frankreich und England) gezogen werden. In diesem Abschnitt lernt man zum Beispiel, dass „the
physical typology of prisons does not necessarily correspond to the development
of practical distinctions among custodial, coercive, and punitive incarceration,
let alone to the growing employment of the latter measure“ (S. 30) - was wohl
soviel heißen soll wie ‚man kann nicht allein aus dem Vorhandensein eines
Gefängnisses auf seine Funktion als Ort von Verwahrung, Zwangs- oder Strafhaft schließen’
-, dass aber „the availability and accessibility of prison spaces operated as a
catalyst for employing coercive and punitive incarceration on a unprecedented
scale“ (S. 31). Dass das Vorhandensein von Gefängnisräumen die
Möglichkeit eröffnete, Zwangs- und Strafhaft in größerem Ausmaß zu verhängen,
scheint logisch.
In
diesem Kapitel wird nun auch auf die Entstehungsgeschichte der Strafhaft
eingegangen, über die zuvor nur ein paar Randbemerkungen fielen (S. 14, 31). Jetzt
aber wird betont, was schon bekannt war: die allgemeine Ablehnung von
Inhaftierung zum Zwecke der Bestrafung durch die Theoretiker des Mittelalters,
von der dann aber in der Praxis und in den Stadtrechten abgewichen wurde. Den
Beginn der Strafhaft (punitive incarceration) sieht der Autor, wenn ich ihn richtig
verstehe, in der Zwangshaft für arme Schuldner, die nicht zahlen konnten (im
Gegensatz zu Begüterten, die nicht zahlen wollten). Durch diese „’hopeless’
coercive incarceration“, die zeitlich unbegrenzt war, wurde die selbständige Freiheitsstrafe
(de facto punitive incarceration) - quasi durch die Hintertür – eingeführt
(vgl. S. 55: „most prison sentences were coercive arrests gone sour“, ebenso
auf S. 108), doch auch die Ersatzstrafe bei Zahlungsunfähigkeit (vgl. S. 44,
47, 49, 50, 52) ebnete den Weg für Freiheitsstrafen als „common penalty for
various offences“ (S. 50).
Im dritten
Kapitel wird das Leben der Inhaftierten von der Gefangennahme bis zur Entlassung
bzw. Beendigung der Haftzeit geschildert, wobei dies wohl die anthropologische
Perspektive sein soll, die der Autor neu in die Gefängnisgeschichtsschreibung einbringen
will. Der Leser erfährt, dass die Lebensbedingungen in den mittelalterlichen
Gefängnissen keineswegs schrecklich waren. Allerdings wird keine
Differenzierung vorgenommen. Vielmehr werden alle Bereiche eines Gefängnisses,
auch die, in denen Schwerverbrecher einsaßen, über einen Kamm geschert, was
zumindest fragwürdig ist, zumal sich die mittelalterlichen Hinweise auf
unmenschliche Lebensbedingungen („the Inferno“, „Lytle Hell“, S. 92) immer nur
auf Teilbereiche von Gefängnissen beziehen. Es wird ferner betont, dass
Gefängnisse keine „liminal spaces“ (S. 81) waren, wo „men and women lived ’on
hold’ between social separation and incorporation“, wie oft behauptet (S. 58),
da die Gebäude an zentralen Plätzen der Stadt errichtet wurden, die Gefangenen in
Kontakt mit der Außenwelt standen und die soziale Klassifizierung und soziale
Ordnung (!) trotz der Zusammenlegung der Gefangenen in ein zentrales Gefängnis durch
die Aufteilung der Insassen auf verschiedene Gefängnisblöcke gewahrt blieb (S.
81).
Das
vierte Kapitel fragt, ob mittelalterliche Gefängnisse als irdisches Fegefeuer
(earthly purgatory) verstanden werden können, in denen die Inhaftierten ihre
verdiente Strafe absitzen und die sie geläutert verlassen. Hier wird auf Texte
zurückgegriffen, die zeitlich weit auseinander liegen, von der Bibel über Märtyrerliteratur,
Texte und Gedichte des 14.-16. Jahrhunderts
bis hin zu Oscar Wilde und Norman Mailer. Die Frage wird letztlich verneint: In
„its early days, the urban prison was not a place of shame, a black flower …. to be eradicated or simply camouflaged as a downtown hotel
or office building. Rather, the prison became another public site for
celebrating or protesting against the regime, for promoting charity, and for
negotiating or challenging social order“ (S. 98-99).
Das letzte
Kapitel (Conclusion: “Marginalizing“ Institutions, Instituting Marginality)
beschäftigt sich mit dem Platz von Gefangene in der städtischen Gesellschaft
des Mittelalters und gibt zugleich eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Obwohl
kein einheitliches Muster zu erkennen ist, sind ähnliche Entwicklungen in der
Zeit zwischen 1250 und dem Ende des 14. Jahrhunderts, der “watershed period in
the history of the prison“ (S. 28), zu beobachten, die zu ähnlichen Ergebnissen
führten: Gefängnisse entstanden an zentralen Orten innerhalb der Städte und
waren Teil des städtischen Lebens; es wurden Regeln für die Bediensteten der
Gefängnisse erlassen und Gebührensätze für Gefangene festgelegt; die Strafhaft
kam auf und die Zahl der Gefängnisstrafen nahm zu; man sorgte sich zunehmend um
das Wohl der Gefangenen. Das Leben in den Gefängnisse waren nicht die ‚Hölle
auf Erden’, was unter anderem auch daran lag, dass die Inhaftierten nicht total
ausgegrenzt wurden, sondern sich innerhalb zweier Sozialsymsteme (dem
‚Gefängnissystem’ und der ‚Freien Welt’) bewegen konnten. Mittelalterliche Gefängnisse operierten “as spatial
and temporal extensions of urban life, connecting free society back to itself“ (S. 81). Da die sozialen und materiellen
Lebensbedingungen innerhalb der Gefängnisse annehmbar waren, ist es falsch, die
Geschichte der Strafe mit der Geschichte des Gefängnisses gleichzusetzen (S.
100-101).
Diese Buch enthält
einige Überraschungen, wie zum Beispiel den häufigen Bezug zu modernen
Gefängnissen. Es fragt sich, warum dies überhaupt für nötig erachtet wurde,
insbesondere da der Leser eingangs aufgefordert wird, die Informationen sofort
wieder zu vergessen, da moderne und mittelalterliche Gefängnisse nicht zu
vergleichen sind (S. xii). Dennoch wird die Situation moderner Gefängnisse
immer wieder angesprochen. Würde man diese Passagen herausstreichen, wäre der
Band noch schmaler geworden. Allerdings gewinnt man während der Lektüre den
Eindruck, dass viele Fragestellungen von den Gegebenheiten in modernen
Gefängnissen beeinflusst wurden, wie etwa die nach der Profitabilität
mittelalterlicher Gefängnisse. Zwar wird betont, dass von mittelalterlichen
Gefängnissen selten erwartet wurde, dass sie Profite abwarfen (S. 38), und
unterstrichen, dass „it would be misleading to evaluate the prison in terms of
a capitalistic endeavor“ (S. 55), gemacht wird es aber dennoch: Auf immerhin fünf
Seiten wird analysiert, warum mittelalterliche Gefängnisse nicht gewinnbringend
arbeiteten. Dies lag offenbar an der
(zunehmenden) Inhaftierung von mittellosen Schuldnern, denn „the growing
presence of poor inmates deterred wealthy merchants from getting incarcerated,
a development that, although in certain respects welcome, could have reduced
the prison’s income even further“ (S. 44). Da die Inhaftierung von
mittellosen Schuldnern wirtschaftlich unsinnig war, muss es andere Gründe dafür
gegeben haben. „Imprisonment was
accessible and applicable and provided urban magistrates with a formula to
bridge socioeconomic gaps among citizens“ (S. 47). Bleibt
allerdings zu fragen, ob dies den Richtern wohl bewusst war. Ein Beleg hierfür wird
jedenfalls nicht erbracht.
Überhaupt
ist zu konstatieren, dass der Autor sehr sparsam Belege anführt. Gelegentlich wird
behauptet, dass etwas bewiesen worden sei, ohne das dies in der Tat geschah. So ist in Kapitel 3 (S. 64) zu lesen, es sei in
Kapitel 2 demonstriert worden, dass „’debt’ served as a catchall title for a
wide variety of offenses, from gambling, to fraud, to violent assault.“ In Kapitel 2 stehen zwar Sätze, in denen Glückspiel
erwähnt wird („Fairly common were incarcerations for gambling and the illicit
bearing of arms ..“, S. 50; „ by 1415
the Florentine statutes … specified that those convicted, fined, and then
imprisoned for … grave and minor assaults, … [and ] gambling … were eligible
for charitable release, thereby disclosing the variety of offenses that could
lead … to de facto penal imprisonment“, S. 52; „ poor inmates resorted to
gambling, violence, and trickery in order to sustain themselves“, S. 52), für
einen überzeugenden Beweis halte zumindest ich diese Sätze nicht, zumal nicht
klar ist, ob die Inhaftierung in den Florentiner Statuten als Ersatzfreiheitsstrafe
oder als zusätzliche Strafe verhängt wurde.
Zudem
ist die Argumentation oftmals nicht nachzuvollziehen. Ein Beispiel: „Occupational diversity, along with a
range of preoccupations, helps to explain why, in drafting statutes, urban
magistrates were more willing to employ penal incarceration“ (S.
48). Ich jedenfalls kann hier keinen Zusammenhang erkennen.
Andere Schlussfolgerungen sind unsinnig: „as long as money kept flowing into
the city’s coffers, magistrates tended to refrain from applying incarceration
as a coercive measure“ (S. 51). Natürlich verhängten die
Richter keine Zwangshaft, wenn gezahlt wurde. „Warum sollten sie auch?“, möchte
man dem Autor entgegnen. In anderen Passagen kommt es zu Widersprüchen. Die
getrennte Unterbringung von Frauen in Gefängnissen zum Beispiel „reduced the
threat of heterosexual misconduct and violence“ (S. 64), machte die Frauen aber
„more prone to abuse“, weshalb die separaten Frauentrakte auch nur widerwillig
von den Richtern (magistrates) eingeführt wurden (S. 65), wobei allerdings die Absonderung
von Frauen erfolgte, um „the abuse of female inmates“ zu eliminieren, was aber nur
teilweise gelang (S. 66).
Die
rechtsgeschichtlichen Erkenntnisse, die sich aus diesem Band gewinnen lassen,
halten sich in Grenzen. Geltner bestätigt für einige norditalienische Städte,
was bereits bekannt war, nämlich die Bedeutung der Zeit von circa 1250 bis 1400
für das mittelalterliche Gefängniswesen. Dass Strafhaft und
Ersatzfreiheitsstrafen im 13. Jahrhundert verhängt wurden, ist ebenfalls nicht
neu. Ob Gefängnisse seit circa 1250 im großen Stil auch als „punitive institutions
for sentenced culprits“ (S. 3) genutzt wurden und Inhaftierung als
eigenständige Strafe weiter verbreitet war als bislang vermutet, wie Geltner
argumentiert, hängt allerdings davon ab, ob man Ersatzfreiheitsstrafe und Zwangshaft
für Schuldner als eigenständige Strafe deutet.
Fürth Susanne
Jenks