Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa, hg. v. Engels, Jens Ivo/Fahrmeir, Andreas/Nützenadel, Alexander (= Historische Zeitschrift, Beiheft 48). Oldenbourg, München 2009. VI, 307 S. Besprochen von Martin Moll.

 

Regelmäßige Zeitungsleser in Mitteleuropa müssen zwangsläufig den Eindruck gewinnen, in einem ständig von Korruptionsskandalen erschütterten Land zu leben. Dabei wird so getan, als ob dies im Vergleich mit der „guten alten Zeit“ ein neuartiges Phänomen sei, insbesondere deswegen, weil Korruption heute nicht nur in der hohen Politik gang und gäbe zu sein, sondern längst auch die Großwirtschaft erfasst zu haben scheint. Der hier vorzustellende Sammelband, der auf eine Mitte 2006 am Zentrum für Europäische Studien der Universität Köln veranstaltete Tagung zurückgeht, rückt derlei schiefe Urteile nachhaltig zurecht, indem er das Scheinwerferlicht auf Korruption und verwandte Erscheinungen als historische Konstante richtet.

 

Was aber ist bzw. war Korruption und wie wandelte sich das Verständnis von ihr im Lauf der Jahrhunderte? Mit dieser nicht eben einfach zu beantwortenden Frage schlagen sich – neben der die Forschungslage bilanzierenden Einleitung der Herausgeber – gleich drei Beiträge des ersten Abschnitts herum, der mit „Methodik und Theorie“ überschrieben ist. Ihre Verfasser (Werner Plumpe, Karsten Fischer und Andreas Fahrmeir) sind sich darin einig, dass es sich um ein Thema der (europäischen) Neuzeit handelt. Für die Antike und das Mittelalter sei es sogar irreführend, von Korruption zu sprechen, da Ämterkauf, das Beschenken von Beamten etc. derart selbstverständlich gewesen seien, dass den Zeitgenossen jegliches Unrechtsbewusstsein gefehlt habe. Typisch für Korruption sei nämlich, dass den Akteuren (Gebern wie Nehmern) das Illegale oder wenigstens moralisch Anstößige ihres Tuns mehr oder minder klar sei und dass es für Regelverstöße theoretisch und/oder praktisch Sanktionen gebe, was wiederum eine zumindest ansatzweise Trennung von privater und öffentlicher Sphäre voraussetze.

 

Unter den zahllosen kursierenden Definitionen entscheiden sich nahezu alle Autoren dieses Bandes explizit für jene, die Korruption als Missbrauch eines öffentlichen Amtes zu privaten Zwecken versteht. Dies ist nicht eben beeindruckend für (mit Einschluss der Einleitung) vier analytisch-komparatistische Beiträge, die wohl den Gang der (nicht nur historischen) Forschung in die entferntesten Verästelungen hinein verfolgen, dabei jedoch zahlreiche Überschneidungen und Wiederholungen aufweisen.

 

Auf den restlichen zwei Dritteln des Bandes folgen drei weitere Großkapitel mit insgesamt acht Aufsätzen, die in die Blöcke „Frühe Neuzeit“, „Neuzeit“ und „Zeitgeschichte“ unterteilt sind. Hillard von Thiessen untersucht vergleichend zwei sogenannte Günstlingsminister in Spanien und England des frühen 17. Jahrhunderts sowie die gegen die beiden erhobenen Bereicherungsvorwürfe, die letztlich zu ihrem Sturz führten – zugleich ein früher Beleg für das wache Bewusstsein der Zeitgenossen, wenn auch deutlich wird, dass es den Kritikern nicht nur um Moral ging; Neid und Missgunst spielten hier wie anderswo eine wichtige, jedoch schwer einzuschätzende Rolle. Im zweiten Beitrag des Abschnitts zur Frühen Neuzeit analysiert Alexander Nützenadel unter dem sprechenden Titel „Serenissima corrupta“ das Klientelwesen in der späten venezianischen Adelsrepublik. Er verweist darauf, dass Korruption im heutigen Verständnis nicht leicht von traditionellen Politikpraktiken wie der quasi-Vererbung gewisser Ämter innerhalb bestimmter Familien Venedigs abzugrenzen sei.

 

Der Neuzeit-Block beginnt mit einem Längsschnittbeitrag des Mitherausgebers Jens Ivo Engels über die notorischen Korruptionsdebatten in Frankreich vom 18. Jahrhundert bis zur Dritten Republik (1789-1940). Hatte die lebhafte Kritik an korrupten Zuständen noch erheblich zum Sturz des Ancien Régime beigetragen, so wurde sie in den folgenden anderthalb Jahrhunderten, die der Aufsatz behandelt, gleichsam zu einem Dauerphänomen, über das zwar der eine oder andere Minister stürzte, ohne dass dies zu einer nachhaltigen Veränderung führte. Anders im edwardianischen Großbritannien (1901-1910), für das Frank Bösch sehr anschaulich den auf Reformen drängenden und diese auch durchsetzenden Einfluss der öffentlichen Meinung herausarbeitet. Diese griff Missstände auf, die nur zum kleineren Teil im Mutterland, überwiegend jedoch in den Kolonien angesiedelt waren, und zwang die Regierungen zum Handeln. Das dem Beitrag als Überschrift vorangestellte Motto „In Defence of the Taxpayers“ verweist auf das – durch Korruption gefährdete – allgemeine Wohl, ein zentraler Gegenbegriff für jegliche Korruptionsdebatte, die sich stets am Ideal des perfekten Staatswesens orientierte.

 

Etwas aus dem Rahmen fällt ein weiterer Neuzeit-Beitrag: Susanne Schattenberg untersucht Patronage in der russischen Provinzverwaltung des 19. Jahrhunderts. Sie befasst sich allerdings, wie auch der von ihr gewählte Titel „Die Ehre der Beamten“ ausweist, mit dem allgemeinen Verständnis des Ehrbegriffs, für den Unbestechlichkeit, verglichen mit Loyalität gegenüber dem Patron, nebensächlich gewesen zu sein scheint.

 

Den Abschnitt Zeitgeschichte eröffnet Frank Bajohr mit einer knappen Skizze zur Korruption in der NS-Zeit. Was vor 20 oder mehr Jahren als innovativ hätte gelten können, muss heute – nicht zuletzt dank der Forschungen Bajohrs selbst – als weithin bekannt bezeichnet werden: Entgegen seiner Selbstdarstellung, für die das Anprangern der angeblich „verlotterten“ Zustände der Weimarer Republik, kontrastiert mit der ebenso angeblichen Sauberkeit des Führerstaates, eine zentrale Rolle spielte, war der NS-Staat geradezu ein Sumpf an Korruption. Der Beitrag fasst im Wesentlichen ältere Arbeiten des Verfassers zusammen, Neues erfährt der hiermit vertraute Leser nicht.

 

Anregend sind hingegen die weitgehend Neuland erschließenden letzten Beiträge: André Steiner stellt „Überlegungen zur Korruption im Staatssozialismus“ der DDR an, ein weiterer Staat, in dem es laut Selbstdefinition Derartiges gar nicht geben durfte. Zuletzt widmet sich Axel T. Paul den Phänomenen von Klientelismus, Kolonialismus und Kleptokratie im Afrika der postkolonialen Epoche. Er unterstreicht, dass Korruption auf dem schwarzen Kontinent nur teilweise ein europäisches Erbe darstellt. Nicht weniger bedeutsam sind vorkoloniale Formen von und Motive für Korruption, welche die den Erdteil nur schwach durchdringende europäische Herrschaft überlebten und heute lebendiger sind denn je.

 

In Summe vermittelt der sorgfältig redigierte, multidisziplinär angelegte Sammelband ein Panorama unterschiedlicher Varianten von Korruption als historisches Phänomen, das in Form von Fallstudien überwiegend im europäischen Kontext ab der Frühen Neuzeit analysiert wird. Immerhin ist ein Teil der Beiträge an Vergleichen interessiert und diese komparative Perspektive wird insbesondere im ersten, theoretischen Teil ausgebreitet – mitunter etwas zu ausführlich, weshalb das Ensemble der Aufsätze theorielastig wirkt und mancherlei Wiederholungen aufweist. Dieser Umstand tut der beruhigenden Wirkung des Bandes auf die gegenwärtige Debatte jedoch keinen Abbruch: Unter bestimmten Bedingungen und in gewissen Grenzen – dieses Argument zieht sich wie ein roter Faden durch alle Texte – kann Korruption samt ihren Vettern durchaus systemstabilisierend wirken. Eine interessante These, die Beachtung verdient.

 

 

Graz                                                                                       Martin Moll