Eicker, Steffen, Der
Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht. Die völkerrechtliche Haftung der
Bundesrepublik Deutschland für das Vorgehen des Deutschen Reiches gegen die
Herero in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1904 und ihre Durchsetzung vor einem
nationalen Gericht (= Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht
80). Lang, Frankfurt am Main (u.a.) 2009. 531 S. Besprochen von Hans-Michael
Empell.
Die Untersuchung wurde im April
2008 vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität in Marburg
als Dissertation angenommen; betreut wurde die Arbeit zunächst von Dieter
Blumenwitz, nach dessen Tod (2005) von Gilbert H. Gornig. Im Anschluss an eine
knappe Einleitung (S. 33ff.), in der das Thema vorgestellt und der Gang der
Untersuchung dargelegt wird, beginnt der Hauptteil der Arbeit, der sich in vier
Abschnitte gliedert.
Der erste Abschnitt behandelt
den „geschichtlichen Hintergrund“ (S. 37ff.). Geschildert wird der im Januar
1904 begonnene Aufstand der Herero, eines im Zentrum des heutigen Namibia
lebenden Volkes, gegen die Führung der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika.
Zu den Gründen für den Aufstand gehörten eine sich verschlechternde
wirtschaftliche und soziale Lage, die zunehmende Ausbreitung deutscher Siedler
und eine Politik der Kolonialverwaltung, die darin bestand, den Herero
Reservate zuzuweisen und dabei die Reservatsgrenzen festzulegen, ohne auf die
Bedürfnisse der Herero Rücksicht zu nehmen. Kennzeichnend für die Haltung der bei
der Aufstandsbekämpfung eingesetzten Militärs ist eine auf die Herero bezogene Äußerung
des damaligen Oberbefehlshabers der Schutztruppen in Südwestafrika, des
Generalleutnants Lothar von Trotha, vom Oktober 1904: „Ich glaube, dass die
Nation als solche vernichtet werden muss.“ (S. 67) Die Aufstandsbekämpfung wurde
mit derart brutalen Mitteln durchgeführt, dass um die 60 000 Menschen getötet
wurden. Die Herero, die überlebt hatten, wurden in, wie es schon damals hieß,
„Konzentrationslagern“ interniert, deren Zweck darin bestand, ein Reservoir von
Arbeitskräften zur Verfügung zu haben. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern
waren so schlecht, dass sich Seuchen ausbreiteten und Tausende von Herero starben.
Im Jahre 1915 brach die deutsche Herrschaft in Südwestafrika infolge des
Einmarsches südafrikanischer Truppen zusammen.
In einem zweiten Abschnitt
widmet sich der Verfasser den Bemühungen heute lebender Herero, Wiedergutmachung
von der Bundesrepublik Deutschland zu erlangen (S. 81ff.). Diese Versuche werden
seit 1990 unternommen, dem Jahr, in dem Namibia von Südafrika unabhängig wurde.
Die Bundesrepublik Deutschland erkennt eine „besondere Verantwortung“ für
Namibia an, weist jedoch Wiedergutmachungsforderungen zurück. Der „besonderen Verantwortung“,
so heißt es offiziell, werde durch die Leistung umfangreicher Entwicklungshilfe
Rechnung getragen. Die Klage des Vertreters einer Organisation der Herero beim
Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag (1998) musste daran scheitern,
dass nur Staaten als Partei vor dem IGH zugelassen sind. Die namibische
Regierung unterstützt die Forderung nach Wiedergutmachung nicht. Sie verweist
auf die bisher geleistete Entwicklungshilfe und macht zudem geltend, nicht
allein die Herero seien vom Kolonialismus betroffen gewesen.
Mit dem dritten Abschnitt
beginnt der Teil der Untersuchung, der sich auf die Frage bezieht, ob die Herero
einen Anspruch auf Wiedergutmachung gegen die Bundesrepublik Deutschland haben
(S. 97ff.). Zunächst stellt der Autor klar, dass um 1900 (anders als heute) ein
für alle Staaten verbindliches (universelles) Völkerrecht nicht bestand. Es
existierte lediglich ein europäisches Völkerrecht, das auf die Beziehungen
zwischen den „zivilisierten Nationen“ angewendet wurde, zu denen auch einige nicht-europäische
Staaten gerechnet wurden. Die Verhältnisse zwischen den Staaten des
europäischen Völkerrechts und politischen Gemeinwesen in Übersee, die keine
„zivilisierten Nationen“ bildeten, wurden durch einen völkerrechtlichen Normenkomplex
geregelt, der heute als „Völkerrecht in Übersee“ oder „überseeisches
Völkerrecht“ bezeichnet wird. Dieser Teil des Völkerrechts war nur schwach
entwickelt. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den Herero
unterstanden dem Autor zufolge dem damaligen überseeischen Völkerrecht.
Auf dieser Grundlage wendet
sich der Verfasser zunächst dem Kriegsvölkerrecht zu. Er kommt zu dem Ergebnis,
dass das Deutsche Reich gegenüber den Herero nicht an die Verträge des
Kriegsvölkerrechts, insbesondere an die Genfer Konventionen (1864 und 1906) und
die Erste Haager Landkriegsordnung (1899), gebunden war. Der Verfasser ist
ferner der Auffassung, auch ein Verstoß gegen die Normen des
gewohnheitsrechtlich begründeten ius in
bello könne nicht festgestellt werden. Einer der Gründe ist dem Autor
zufolge, dass die Herero nach dem damals geltenden Völkerrecht als
„unzivilisierte Nation“ kein Völkerrechtssubjekt waren.
Anschließend widmet sich der
Verfasser den Menschenrechtsnormen und untersucht, ob das Vorgehen des
Deutschen Reiches gegen die Herero als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, als
Missachtung der Konvention gegen Völkermord (1948) oder als Verletzung weiterer
Menschenrechtsvorschriften qualifiziert werden kann. Er stellt fest, der
Tatbestand des Völkermordes sei erfüllt, verneint jedoch eine Rückwirkung des Verbots
und anderer Menschenrechtsbestimmungen und gelangt folgerichtig zu dem
Resultat, dass Menschenrechtsnormen nicht verletzt wurden. Zusammenfassend
konstatiert der Autor: „Das Verhältnis zwischen den Herero und Deutschland war
durch weitestgehende Abwesenheit von Rechtsbeziehungen geprägt“ (S. 293). Der
Krieg gegen die Herero sei in einem „fast rechtsleeren Raum“ geführt worden (S.
293).
Auch die weitere Frage, ob die
Herero, die Verletzung völkerrechtlicher Normen einmal unterstellt, einen
Anspruch auf Wiedergutmachung gegen die Bundesrepublik Deutschland haben,
verneint der Autor. Die Bundesrepublik Deutschland sei zwar mit dem Deutschen
Reich der Zeit um 1900 identisch und daher potenzieller Gegner eines solchen
Anspruchs. Die Herero könnten aber nicht Inhaber eines Anspruchs sein. Nach geltendem
Völkerrecht stehe ein Wiedergutmachungsanspruch nicht den unmittelbar
betroffenen Opfern von Menschenrechtsverletzungen zu, sondern deren Heimatstaat.
Die Republik Namibia, die als anspruchsberechtigt allenfalls in Betracht komme,
habe eine Wiedergutmachungsforderung bisher nicht erhoben und würde sich mit dem
Prinzip von Treu und Glauben in Widerspruch setzen, wenn sie nun einen Anspruch
geltend machte.
Der vierte Abschnitt ist den
Bemühungen von Seiten der Herero gewidmet, Entschädigungszahlungen vor einem
US-amerikanischen Gericht zu erstreiten (S. 325ff.). Am 18. 9. 2001 erhoben eine
Organisation von Herero und eine Vielzahl von Einzelpersonen Klage vor dem
District Court for the District of Columbia (D.D.C.) in Washington, D.C., gegen
die Bundesrepublik Deutschland auf Zahlung von 2 Milliarden US-Dollar. Eine
solche Klage erschien als nicht von vornherein aussichtslos, weil ein
US-amerikanisches Gesetz aus dem Jahre 1789, das Alien Tort Statute, vorsieht,
dass die US-amerikanischen Bundesgerichte für Klagen zuständig sind, in denen eine
Verletzung des Völkerrechts geltend gemacht wird. Solche Klagen sind unabhängig
von der Staatsangehörigkeit der Täter und der Opfer und auch unabhängig davon
zulässig, wo die behaupteten Taten begangen wurden. Die Senatsverwaltung für
Justiz des Landes Berlin weigerte sich jedoch, die Klage förmlich zuzustellen,
und berief sich auf das Prinzip der Staatenimmunität, wonach die Staaten vor
der Gerichtsbarkeit anderer Staaten geschützt sind. Da der Justizsenator eine
vom D.D.C. gesetzte Frist für die Zustellung verstreichen ließ, nahmen die
Kläger ihre Klage am 16. 6. 2003 zurück. Weitere juristische Schritte gegen die
Bundesrepublik Deutschland wurden nicht unternommen. Der Autor gelangt aufgrund
einer umfangreichen Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Klage vor dem D.D.C. auch
aus materiell-rechtlichen Gründen keine Erfolgsaussicht hatte.
Unter der Überschrift „Entschädigung
auf politischer Basis?“ erörtert der Autor die Frage, welches die Gründe dafür
sind, dass die Bundesrepublik Deutschland, anders als etwa im Hinblick auf den
Völkermord an den europäischen Juden, Wiedergutmachungsleistungen verweigert
(S. 495ff.). In einer Schlussbetrachtung (S. 501ff.) stellt der Verfasser resümierend
fest, die Untersuchung habe deutlich gemacht, dass das geltende Völkerrecht mit
der Aufarbeitung von Kolonialunrecht überfordert ist. Der Autor wendet sich
gegen eine Aufweichung des Verbots der Rückwirkung völkerrechtlicher Normen mit
der Begründung, die Rechtssicherheit würde Schaden nehmen, und spricht sich
auch dagegen aus, das Konsensprinzip zugunsten naturrechtlicher Prinzipien
preiszugeben, weil das Völkerrecht dadurch seine Ordnungsfunktion einbüßen
würde. Den Herero bleibe nur der „politische Weg“ (S. 502). In einem Anhang (S.
505ff.) werden zwei Verträge zwischen Repräsentanten der Herero und dem Deutschen
Reich (1885) dokumentiert; ein Literaturverzeichnis schließt sich an.
Ein wichtiger Grund dafür, dass
die Bemühungen der Herero, auf völkerrechtlichem Wege Wiedergutmachung zu
erlangen, gescheitert sind, besteht darin, dass die Untaten, die gegen dieses
Volk begangen wurden, ungefähr hundert Jahre zurückliegen, während die einschlägigen
Menschenrechtsnormen, zum Beispiel das Genozidverbot, erst nach 1945 völkerrechtlich
anerkannt wurden und eine rückwirkende Anwendung dieser Vorschriften
auszuschließen ist. Die vom Verfasser untersuchte Frage ist daher nur
verständlich vor dem Hintergrund der im 20. Jahrhundert vollzogenen Entwicklung
von einem europäischen Völkerrecht, das ein zwischenstaatliches Recht war, an
dem allein „zivilisierte Nationen“ beteiligt waren, zum modernen, universellen
Völkerrecht, in dem außer Staaten auch Individuen, Nationen und andere
Kollektive, zum Beispiel ethnische Gruppen, als Rechtssubjekte anerkannt sind. Kennzeichnend
für das moderne Völkerrecht ist zudem, dass nicht mehr allein die Interessen
von Staaten und anderen Rechtssubjekten, sondern auch Interessen der
Staatengemeinschaft als Ganzer und damit das Gemeinwohl geschützt werden. Zu
den Normen, die dem Zweck dienen, Staatengemeinschaftsinteressen zu schützen, werden
das Genozidverbot und weitere, grundlegende Menschenrechtsvorschriften gerechnet.
Anerkannt ist, dass dem Gemeinwohl dienende Bestimmungen Pflichten eines jeden
Staates gegenüber der Staatengemeinschaft als ganzer begründen, deren
Einhaltung jeder andere Staat verlangen kann, und zwar unabhängig davon, ob
eigene Staatsangehörige von einer Pflichtverletzung betroffen sind (Pflichten erga omnes). So kann jeder Staat von allen
anderen Staaten verlangen, Völkermord zu unterlassen oder einzustellen. Es wird
sogar die (allerdings umstrittene) Auffassung vertreten, im Fall der Verletzung
einer solchen Norm sei jeder Staat berechtigt, Wiedergutmachung zugunsten der
Opfer zu fordern, selbst wenn diese nicht eigene Staatsangehörige sind. Hier
zeigt sich, wie weit das Völkerrecht in den letzten hundert Jahren im Sinne des
Menschenrechtsschutzes fortgeschritten ist. Es wäre nützlich gewesen, wenn der
Autor einen Überblick über diese (hier nur skizzierte) Entwicklung gegeben
hätte, um die Basis deutlich zu machen, auf der seine Untersuchung sich bewegt.
Insgesamt hat der Verfasser eine
gründliche und übersichtlich gegliederte Arbeit vorgelegt. Einen guten Beitrag
zur Orientierung bieten die häufig eingefügten „Zwischenergebnisse“. Vor allem
jedoch ist dem Autor für die Behandlung eines Themas zu danken, das von
Völkerrechtlern und in der breiteren Öffentlichkeit bisher kaum beachtet wurde.
Auch wenn das Ergebnis lautet, dass ein völkerrechtlich begründeter
Wiedergutmachungsanspruch nicht besteht, ist es doch verdienstvoll, ein blutiges,
im Bewusstsein der Herero bis heute nachwirkendes Kapitel europäischer
Kolonialgeschichte dargestellt und bewertet zu haben.
Heidelberg Hans-Michael
Empell