Dilcher, Gerhard, Normen zwischen Oralität und Schriftkultur - Studien zum mittelalterlichen Rechtsbegriff und zum langobardischen Recht, hg. v. Kannowski, Bernd/Lepsius, Susanne/Schulze, Reiner. Böhlau, Köln 2008. 389 S. Besprochen von Arno Buschmann.
Die in diesem auch typographisch ansprechend ausgestatteten Band versammelten Studien Gerhard Dilchers betreffen eine Frage, die in den letzten Jahrzehnten namentlich durch Karl Kroeschell und seine Schüler, aber auch durch Gerhard Dilcher selbst, in das Zentrum der rechtsgeschichtlichen Forschung gerückt ist, nämlich die Frage nach dem Wesen des mittelalterlichen Rechts, oder wie es auch ausgedrückt wird, nach dem mittelalterlichen Rechtsbegriff. Jahrzehnte, um nicht zu sagen: Jahrhunderte wurde diese Frage mit den Kategorien des jeweils geltenden Rechts zu beantworten versucht oder die Antwort gar, wie in den Jahren 1933 bis 1945, mit Elementen germanophiler Ideologie vermengt. Erst seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat sich hier ein Wandel eingestellt und sind neue Gesichtspunkte in die Diskussion eingebracht worden, die diese Frage und die Antwort auf sie in einem neuen Licht erscheinen lassen. Dilchers Studien dokumentieren diesen Wandel und tragen mit ihren Fragestellungen und Antworten dazu bei, den Weg zu einem neuen Verständnis des mittelalterlichen Rechts zu weisen.
Die Herausgeber haben die Sammlung der Studien in zwei Abschnitte eingeteilt, einen ersten, der die bisher an verstreuten Orten publizierten Arbeiten zum mittelalterlichen Rechtsbegriff enthält, und einen zweiten, der die Untersuchungen speziell zum langobardischen Recht vereinigt. Von diesen Arbeiten können im Folgenden freilich nur einige wenige besprochen werden.
Von den im ersten Teil abgedruckten Arbeiten sei hier als erste die Studie mit dem Titel „Leges - Gentes - Regna“ herausgegriffen, die sich in einem zusammenfassenden Überblick mit der Rolle der normativen Traditionen bei den germanischen Völkerschaften als Grundlage für die Ausbildung der mittelalterlichen Rechtskultur beschäftigt. Dilcher referiert zunächst den derzeitigen Forschungsstand, der durch wachsende Zweifel am überlieferten Bild vom germanischen Recht gekennzeichnet ist, und skizziert danach die neuen methodischen Ansätze von Rechtshistorikern und Historikern, durch Einbeziehung der Forschungsergebnisse benachbarter Wissenschaften, namentlich von Ethnosoziologie und Philologie, zu einem neuen Bild des germanischen Rechts zu gelangen. Er hebt hervor, dass zu den wichtigsten Resultaten dieser neuen Forschungsansätze die Erkenntnis von der gentilen Vergesellschaftung als Grundlage der normativen Ordnungen bei den germanischen Völkern anzusehen ist, bei deren Erfassung vor allem die Denkansätze der Ethnologie wesentliche Hilfestellung geleistet haben. Tatsächlich sind die „gentes“ der Spätantike und des frühen Mittelalters die bestimmenden Faktoren der Rechtsbildung bei den germanischen Völkern, wofür es so zahlreiche Belege in den Quellen gibt, dass man sich eigentlich wundern muß, warum diese Erkenntnis erst so spät Eingang in die Forschung gefunden hat und es erst einer ideologiekritischen Analyse der traditionellen Rechtsgeschichte bedurfte, um dieser Erkenntnis Bahn zu brechen. Auf der anderen Seite wird man aber bei der Rekonstruktion des Rechtsverständnisses dieser Zeit sowohl den Einfluss des späten römischen Rechts wie der Kirche als Trägerin der Schriftkultur mindestens ab dem Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung des überlieferten Rechts nicht außer acht lassen dürfen, so dass sich für die Forschung die schwierige Aufgabe stellt - worauf Dilcher zu Recht hinweist -, aus diesem Geflecht der Traditionen die genuine Normentradition der einzelnen germanischen Völker als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung des Rechts in diesen Völkern, aber auch im Mittelalter herauszufiltern. Das viel zitierte Übersetzungsproblem bei der Auswertung der lateinischen Quellen ist hierbei nur die äußere Schale des Problems, dessen eigentlicher Kern m. E. in der Schwierigkeit der Ermittlung der Substanz der von der römischen Rechtskultur qualitativ verschiedenen genuinen Rechtsvorstellungen der germanischen Völker zu sehen ist.
Die zweite Studie, auf die hier eingegangen werden soll, beschäftigt sich ebenfalls mit einer zentralen Frage bei der Erforschung des mittelalterlichen Rechts, nämlich der Frage nach der methodisch zutreffenden Erfassung der Rechtsgewohnheit als konstitutives Element des mittelalterlichen Rechts. Mit Recht weist Dilcher darauf hin, dass sich auch hier die Forschung bisher stets des begrifflichen Instrumentariums des jeweils geltenden Rechts bedient hat, um Wesen und Funktion der mittelalterlichen Rechtsgewohnheit zu erklären. Erneut ergeben sich für Dilcher neue Forschungsansätze durch die Einbeziehung von Resultaten der Ethnosoziologie, Anthropologie sowie der modernen mediävistischen Mentalitäts- und Ritualitätsforschung, die ihn zu der Feststellung führen, dass die mittelalterliche Rechtsgewohnheit nicht durch den Gegensatz von Oralität und Literalität gekennzeichnet ist, sondern durch eine qualitative Verschiedenheit des zugrunde liegenden Rechtsbewusstseins. In der Tat ist die Rechtsgewohnheit des Mittelalters, und hierin ist Dilcher nachdrücklich beizupflichten, ein substantiell anderes Rechtsphänomen als das Gewohnheitsrecht in der von der Gesetzgebung dominierten Rechtsordnung der Neuzeit und vor allem der Gegenwart. Die Rechtsgewohnheit ist für das Mittelalter die eigentliche Quelle des Rechts, die aus dem Bewusstsein der Gesellschaft gespeist wird, auf dieser beruht und von dieser bestimmt ist, und zwar auch dann noch, wenn sie schriftlich fixiert oder in Gestalt eines Gesetzes zusätzlich mit autoritativer Legitimation versehen wird. Jede rechtsgeschichtliche Darstellung der mittelalterlichen Rechts müsste daher im Grunde mit der Schilderung der Rechtsgewohnheit als dem konstitutiven Element des mittelalterlichen Rechts beginnen und nicht wie üblich mit der Aufzählung der schriftlichen Rechtsquellen oder gar von Gesetzgebungsakten.
Als letzte Studie des ersten Teiles soll hier noch die Abhandlung über den mittelalterlichen Kaisergedanken als Rechtslegitimation besprochen werden, die sich mit der legitimatorischen Wirkung der mittelalterlichen Kaiseridee als Fundament für die Anerkennung und Durchsetzung kaiserlicher Rechtsvorstellungen befasst. Dilcher vertritt in ihr die These, dass vom Frühmittelalter bis in den Anfang der Stauferzeit der spätantike Topos vom Herrscher als dem Erneuerer des überlieferten Rechts maßgebend für die Legitimation herrscherlicher Rechtssetzungsakte war, der erst unter Friedrich Barbarossa und Friedrich II. von Hohenstaufen von der durch die Idee von der Renovatio Imperii erzeugten Vorstellung vom Kaiser als Gesetzgeber und einem eigenen Kaiserrecht abgelöst wurde. Dilcher meint, dass diese Veränderung wesentlich auf den Einfluss der Rechtsschule von Bologna zurückzuführen sei, die den Umbruch der überlieferten mittelalterlichen Rechtsordnung eingeleitet und dem verschriftlichten Recht Bahn gebrochen habe. Auf diese Weise sei die Brücke vom Recht als oraler Ausdruck der Vergesellschaftung gentiler Verbände zu einem rationalen und verschriftlichten Recht mit herrschaftlicher Legitimation geschlagen worden, dessen Entstehung vor allem durch eine vom Papst und Kirche ausgehenden „Revolution“ des Rechts befördert worden sei. Ob diese letztere These, die neuerdings vor allem von kanonistischer Seite mit Nachdruck vertreten wird, begründet ist, muss allerdings mit einem Fragezeichen versehen werden. Die Vorstellung von einem rationalen und verschriftlichten Recht mit herrschaftlicher Legitimation ist römischen, nicht kirchlichen Ursprungs und die Wandlung von der Oralität zur Literalität des Rechts ist Folge der Renaissance des römischen Rechts, nicht der päpstlichen Revolution des Rechts, falls es eine solche überhaupt gegeben hat.
Von den Arbeiten im zweiten Teil der Sammlung, von denen hier ähnlich wie beim ersten Teil nur einige wenige ausgewählt werden können, sei zunächst die Studie über die Gesetzgebung als Rechtserneuerung in den Leges erwähnt, in der Dilcher dem Topos der renovatio legis als Legitimationsinstrument der königlichen oder herzoglichen Gesetzgebung, vor allem im langobardischen Recht, aber auch in den übrigen Volksrechten, seine besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Dilcher meint, dass dieser der antiken Tradition entlehnte Topos den germanischen Herrschern dazu gedient habe, das Gefüge ihrer Herrschaft mit Hilfe des Rechts zu straffen und zu stärken, ohne allerdings die Rechtsvorstellungen des Adels und der übrigen dominanten Bevölkerungsschichten zu negieren oder gar zu übergehen. Was Dilcher hier andeutet, ist der Umstand, dass sich die germanischen Herrscher schon im Frühmittelalter römischer Rechtsvorstellungen bedienten, um ihre Herrschaft zu organisieren und zu festigen, was freilich schon früher gelegentlich erwähnt worden ist, ohne dass dies jedoch in allen Einzelheiten und allen seinen Facetten umfassend untersucht worden wäre.
Als zweite Arbeit sei die Abhandlung über Fehde und Unrechtsausgleich im langobardischen Recht erwähnt, in der Dilcher darauf hinweist, dass das langobardische Königtum zwar die überlieferten Formen der Fehde und Buße respektiert habe, doch gerade bei der Fehde nach der Konsolidisierung der langobardischen Herrschaft immer mehr dazu übergegangen sei, die Fehde zurückzudrängen, den Schutz des Friedens in eigener Machtvollkommenheit zu gewährleisten und durch die Androhung von Todesstrafen zu sichern, auch wenn über den Umfang dieses königlichen Schutzes im Einzelnen noch vieles unklar sei. Ob hier eine Einwirkung römischer Rechtsvorstellungen festgestellt werden kann, in denen die Fehde als Mittel der Rechtsdurchsetzung bekanntlich keinen Platz hatte, wird von Dilcher offen gelassen und wird wohl noch eingehender weiterer Untersuchung bedürfen. Nicht auszuschließen ist allerdings, dass die langobardischen Herrscher durch die Berührung mit dem römischen Recht Rechtsvorstellungen entwickelt haben, die sich mehr und mehr von den überlieferten Formen der Fehde entfernten und den römischen annäherten, nicht zuletzt weil die Fehde in ihrer überlieferten Form eine ständige Bedrohung für die Organisation der Königsherrschaft darstellten.
Insgesamt enthalten Dilchers Studien eine Fülle von Anregungen, neuen methodischen Aspekten und Erkenntnissen, von denen zu hoffen steht, dass sie in künftigen Gesamtdarstellungen der mittelalterlichen Rechtsgeschichte Berücksichtigung finden, damit das Bild des mittelalterlichen Rechts, das sich vielfach noch immer im Rahmen der überlieferten, von der pandektistischen Doktrin bestimmten Kategorien bewegt, einer längst überfälligen Revision unterzogen wird. Die Rekonstruktion der mittelalterlichen Rechtsverhältnisse ist ein schwieriges Unterfangen, bei dem der heutige Betrachter sich einer ständigen Kontrolle seines eigenen methodischen Instrumentariums unterwerfen muss, um nicht in alte und überholte Vorstellungen zu verfallen. Gerhard Dilcher hat mit den vorliegenden Studien Wege gewiesen, wie man zu neuen Erkenntnissen vordringen kann, die geeignet sind, ein zutreffenderes Bild von der mittelalterlichen Rechtswelt zu entwerfen, als dies bisher geschehen ist.
Salzburg Arno Buschmann