Digitale Diplomatik. Neue Technologien in der historischen Arbeit mit Urkunden, hg. v. Vogeler, Georg (= Beihefte zum Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde 12). Böhlau, Köln 2009. VII, 362 S., Abb. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Dieser Sammelband ist über das eigentliche Thema und die Disziplin der Urkundenforschung im engeren Sinne hinaus von Interesse, geht es doch um die aktuelle Frage, ob und inwieweit und – falls ja – in welcher Hinsicht die Benutzung digitaler Techniken Rückwirkungen auf den Umgang mit historischen Quellen (hier: Urkunden) hat. Die Diskussion, die hier in den wesentlichen Teilen abgebildet wird, hat schon eine gewisse Tradition: Seit reichlich einem Jahrzehnt findet die Auseinandersetzung darum, ob Urkundenveröffentlichungen auf digitaler Basis erfolgen können, dürfen, ja sollen, auf breiter Grundlage statt, nachdem sie zuvor lediglich von einigen wenigen Spezialisten betrieben worden war. Was nun hier vorliegt, ist in der Mehrzahl der 27 Aufsätze gewissermaßen ein europaweiter Querschnitt durch laufende Projekte unterschiedlichsten Charakters. Der Herausgeber Georg Vogeler steuert eine souveräne Einführung in das Thema bei, die gleichzeitig einen lesenswerten Überblick über den Stand der internationalen Digitalisierungspraxis bietet („Digitale Diplomatik – Die Diplomatik auf dem Weg zur eScience?“, S. 1-12). Der Präsident der Commission Internationale de Diplomatique, der Bonner Hilfswissenschaftler Theo Kölzer, äußert wohlwollende Skepsis gegenüber voreiliger Begeisterung und macht auf das Gegengewicht zum laufenden IT-Hype aufmerksam: auf die mehr als anderthalb Jahrhunderte alte und in jeder Beziehung bewährte Editionstätigkeit vor allem deutscher und österreichischer Historiker im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica („Diplomatik, Edition und Computer“, S. 13-27). Methodisch von Interesse, weil Editionskonzepte unterschiedlicher Art gegeneinander abwägend, ist der Beitrag Jürgen Sarnowskys, einem der Pioniere EDV-gestützter Editionen („Digitale Urkundeneditionen zwischen Anspruch und Wirklichkeit“, S. 28-39). Die dann folgenden Aufsätze lassen sich nicht mehr einzeln vorstellen, sondern bestenfalls gruppieren: Der EDV-Einsatz in der Diplomatik begann mit der schlichten Retrokonversion gedruckter Editionen in pdf-Dateien oder Vergleichbares. Damit wurde der Blick in das Urkundenbuch durch den Blick auf den (heimischen) Bildschirm ersetzbar. Die zweite Stufe stellte der Ausbau dieser retrokonvertierten, ursprünglich im Druck erschienenen Veröffentlichungen durch umfangreiche Suchfunktionen und/oder durch Erweiterungen im Sinne von Aktualisierungen in Richtung auf den aktuellen Forschungsstand dar. In diesem Sinne arbeiten die dMGH (= digitale Monumenta Germaniae Historica; dazu Clemens Radl S. 101-115)), die Regesta Imperii Online (dazu Andreas Kuczera S. 84-90), das Württembergische Urkundenbuch (dazu Maria Magdalena Rückert und Nicola Wurthmann, S. 130-145) oder etwa das Svenskt Diplomatarium (dazu Claes Gejrot S. 146-154). Schließlich folgen als nächste Entwicklungsstufe virtuelle Editionen (dazu etwa Ben Burkard, S. 255-270), bei denen sich nicht zuletzt die Probleme der Dauerhaftigkeit des einmal gewonnenen Textes, seine Zitierfähigkeit, die verwendete Software und ihre „Halbwertszeit“ sowie die Speicherkonstanz stellen (dazu Paolo Buonora, S. 222-237). Solche Editionen und ergänzende Informationsquellen gehen sodann – das wäre die vierte Ausbaustufe – in Portale unterschiedlichen Zuschnitts und unterschiedlicher Zweckrichtung ein, etwa das Monasterium.net (dazu Karl Heinz (S. 70-77), mit Hilfe dessen Ende 2007 bereits mehr als 100.000 Urkunden greifbar und zum größeren Teil auch als Bilddateien sichtbar wurden.

 

Natürlich bietet ein solcher Sammelband kein geschlossenes Bild, und ebenso natürlich steht hier Gelungenes unter den Projekten neben schon altertümlich Wirkendem, aber dafür weitgehend störungsfrei und verlässlich Funktionierendem. Das gerade macht den Reiz dieser Zwischenbilanz aus. Und wenn man dann noch überlegt, wie eine solche Diskussion etwa unter Spezialisten für mittelalterliche Rechtsbücher, moderne Gesetzestexte oder literarische Texte aussähe und was von der Diskussion der Diplomatiker auf jene übertragbar wäre, wäre der Sinn dieses anregenden Sammelbandes erreicht.

 

Osnabrück                                                                                                            Thomas Vogtherr