Die NS-Gaue - Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, hg. v. John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (= Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Sondernummer 2007, 2). München, Oldenbourg 2007. 483 S. Besprochen von Christian Neschwara.

 

Die NS-Gaue, ursprünglich als organisatorische Untergliederung der NSDAP auf Grundlage der Wahlkreiseinteilung für die Reichstagswahl konzipiert, wurden nach der Gleichschaltung der Länder während des Krieges als neue Regionalstrukturen und mittlere Ebene des Staates umgestaltet und konnten sich als quasistaatliche Mobilisierungs- und Steuerungsinstrumente profilieren.

 

Der vorliegende Sammelband veröffentlicht die Beiträge einer im Herbst 2005 vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin gemeinsam mit dem Historischen Institut Jena veranstalteten Tagung zur Erforschung von Funktionen und Wirkungsweisen der „NS-Gaue“ als dezentrale Instanzen des zentralistischen „Führerstaats“. Neben einer Bestandsaufnahme der vorliegenden Forschungen über diesen Gegenstand war es vor allem das Anliegen der Veranstalter, neue Fragestellungen und Perspektiven für künftige wissenschaftliche Arbeiten auf diesem Forschungsfeld aufzuzeigen. Obgleich die NS-Zeit zu den wohl am besten erforschten Abschnitten der neueren deutschen Geschichte gerechnet werden kann, bestehen gerade in Bezug auf regionale Funktionsbereiche und Mittelinstanzen des NS-Staates noch immer Kenntnisdefizite und damit Forschungsdesiderate.

 

Die Beiträge des vorliegenden Bandes sind drei Themenkreisen zugeordnet: „Grundfragen“, „Politikfelder“ sowie „Gauverwaltung und Gau-Porträts“.

 

Die erste Gruppe der Beiträge konzentriert sich auf Grundfragen der „Regionalität“ im NS-Staat (13-111): Sie setzen sich zum einen mit zentralen Problemstellungen der Erforschung der NS-Gaue auseinander (Thomas Schaarschmid) und befassen sich mit der Entwicklung von neuen politischen Strukturen innerhalb der NS-Gaue aus der Kombination der überkommenen Landes- und Provinzialverwaltungen mit Gauparteiinstanzen und anderen regionalen Gliederungen parteinaher Organisationen der NSDAP (Jürgen John). Sie nehmen weiters die innerhalb der NS-Gaue sich formierenden horizontal und vertikal wirkenden persönlichen Netzwerke der Träger des NS-Regimes ins Blickfeld (Bernhard Gotto) und gehen der Frage nach der Bedeutung dieser neuen regionalen Ausprägungen für das Funktionieren des NS-Staates nach (Rüdiger Hachtmann).

 

Der anschließende Block von Beiträgen beschäftigt sich exemplarisch mit konkreten Politikfeldern in einzelnen ausgewählten NS-Gauen (105-198), nämlich einerseits mit Aspekten der „Rassenpolitik und Euthanasie“ als bevölkerungspolitischem Ordnungsinstrument in den Ostgauen (Ingo Haar), insbesondere in der Extremsituation des sich verschärfenden Luftkrieges in Deutschland seit 1942 (Winfried Süß). Trotz der Ähnlichkeit der beiden Themenstellungen lassen sich keine generalisierenden Aussagen über die Rolle von Gauleitern und Gauverwaltungen gewinnen, zu unterschiedlich sind die untersuchten Regionen und die in den betroffenen NS-Gauen bestehenden Verwaltungsstrukturen und politischen Verhältnisse. Das andere untersuchte Politikfeld erfasst „Wissenschaft, Bildung, Kultur“. Die sperrige Thematik wird von den einzelnen Autoren auf unterschiedliche Weise behandelt. Aus dem Blickpunkt der NS-Kulturarbeit im so genannten Altreich, erweisen sich die Gaue als Instrumente ideologischer Intergration der Bevölkerung, wodurch sie sich auch als regionale Kulturräume profilieren (Martina Steber); anders präsentiert sich dagegen die Situation im Bereich des Schulwesens (Jürgen Finger) bzw. der Hochschulpolitik (Michael Grüttner), wo durch „Verreichlichung“ der Kompetenzen bereits Mitte der 1930er Jahre eine starke Nivellierung von regionalen Spezifika zu verzeichnen ist, so dass sich der Einfluss der Gauverwaltung bzw. von einzelnen Gauleitern im Wesentlichen auf Fragen der Personalpolitik reduziert.

 

Der dritte Themenkreis schließlich erfasst Fragen der strukturellen, funktionellen und personellen Konstruktion der „Gauverwaltung“ im Allgemeinen (199-233) in Bezug auf administrative Aspekte der Gaue als Verwaltungseinheiten (Armin Nolzen), die sich zunächst stark von einander unterschieden und erst nach erfolgter Ausdifferenzierung von Gauämtern und der Profilierung von ,Gaucliquen´ als Träger staatlicher Aufgaben an Bedeutung gewinnen konnten, vor allem in der Ausnahmesituation des Krieges; das Beispiel des Amtes der Gauwirtschaftsberater (Gerhard Kratsch) veranschaulicht den Beitrag der Gaubürokratie zum Funktionieren des NS-Systems während des Krieges, etwa durch die Mobilisierung von Arbeitskräften. Die anschließenden exemplarischen „Gau-Porträts“ präsentieren einerseits bestimmte auf dem Gebiet des so genannten ,Altreichs´ (234-363) eingerichtete NS-Gaue, Süd-Hannover-Braunschweig, Osthannover und Weser-Ems (Detlef Schmiechen-Ackermann), Bayern (Walter Ziegler), Brandenburg (Wolfgang Rose), Pommern (Kyra T. Inachin), Westfalen (Wolfgang Stelbrink), Köln-Aachen (Thomas Müller), Rheinpfalz, Saarpfalz, Westmark (Wolfgang Freund) und Oberschlesien (Ryszard Kczmarek), sowie andererseits einzelne in den annektierten Gebieten (364–405), in Österreich (Martin Moll: Steiermark; Ernst Hanisch: Salzburg; Michael Wedekind: Tirol-Vorarlberg) bzw. in Polen eingerichteten (Dieter Pohl: Danzig-Westpreußen und Wartheland) Reichsgaue. Die einzelnen Darstellungen geben ein reichlich divergentes Bild wieder, nicht nur im Vergleich zwischen „Altreich“ und Annexions-Gebieten, sie hinterlassen einen verwirrenden Eindruck über Wesen und Funktionen der NS-Regionalität sowie der Tragweite ihrer Wirkung auf das NS-Regime auch innerhalb dieser beiden Gau-Kategorien.

 

Kommentare (Michael Ruck, Willi Oberkrome und Michael Kißener sowie Magnus Brechtgen) fassen die Ergebnisse der Beiträge zu den drei Themenkreisen instruktiv zusammen und stellen auch konkrete Anforderungen für die künftige Forschung zu den „NS-Gauen als regionale Mittelinstanzen“ fest. Der vorliegende Band bietet jedenfalls eine beeindruckende Leistungsschau der bisherigen Forschungsliteratur, sie ist im Anhang gleichsam als vorläufige Wissensbilanz zusammengestellt (415-455).

 

Wien                                                   Christian Neschwara