Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, hg. v. Mallmann,
Klaus-Michael/Angrick, Andrej (= Veröffentlichungen der Forschungsstelle
Ludwigsburg der Universität Stuttgart 14). Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
Darmstadt 2009. 368 S. Besprochen von Martin Moll.
Mit dem hier vorzustellenden, dem Andenken des
kürzlich verstorbenen Holocaust-Historikers Wolfgang Scheffler gewidmeten Band
ist eine mittlerweile als Gestapo-Trilogie bekannte Serie abgeschlossen: 1995
bzw. 2000 hatten die damals verantwortlichen Herausgeber Gerhard Paul
und Klaus-Michael Mallmann je einen Sammelband zu den Themen „Die
Gestapo – Mythos und Realität“ bzw. „Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg.
‚Heimatfront’ und besetztes Europa“ vorgelegt, dessen formale Kriterien
(Gliederung der Aufsätze in Themenblöcke, End- statt Fußnoten usw.) auch für
den abschließenden dritten Teil beibehalten wurden; lediglich im
Herausgeberteam trat Angrick an die Stelle Pauls. Entsprechend
dem chronologischen Fortschreiten der Trilogie geht es, nach den Friedensjahren
des „Dritten Reiches“ und den Jahren des Zweiten Weltkrieges, im letzten Band
im weitesten Sinn um die Schicksale von einstigen Gestapo-Angehörigen nach 1945
– eine Befassung mit der Institution Gestapo steht logischerweise nur insoweit
zur Diskussion, als mehrfach erwähnt wird, dass Gestapo und ähnliche
Institutionen wie das Reichssicherheitshauptamt und der Sicherheitsdienst (SD)
der SS durch das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zu verbrecherischen
Organisationen erklärt wurden, was diverse – durchaus erst zu erforschende –
rechtliche Rückwirkungen auf die jenen Organisationen Zugehörigen zur Folge
hatte.
Wie schon in den Vorgängerbänden, wird auch hier
der Begriff Gestapo weit gefasst, so dass durchgängig Personen bzw. Gruppen
behandelt werden, die nominell nicht der Gestapo angehörten, sondern
beispielsweise dem SD oder der Kriminalpolizei. Zwar stellte nach 1945 der
Hinweis, man habe ja gar nicht zur Gestapo ressortiert, eine beliebte und
streckenweise auch erfolgreiche Entlastungsstrategie dar, aufgrund der vor
allem während des Krieges gängigen Versetzungen, Abordnungen sowie
institutionellen Verschmelzungen der einzelnen Teile des NS-Terrorapparates
macht das hier praktizierte Vorgehen aber durchaus Sinn.
War für die ersten beiden Bände der geographische
Rahmen ihrer Studien noch durch den deutschen bzw. deutschbeherrschten
Machtbereich in Europa definiert, so hat es der Abschlussband mit den drei
Nachfolgestaaten des einstigen Großdeutschen Reiches, der BRD, der DDR und
Österreich, zu tun. Im Grunde dehnt sich der Fokus sogar noch weiter aus,
behandelt doch etwa Gerald Steinacher – seine jüngst erschienene
Monographie zum selben Thema zusammenfassend – die Flucht von
Gestapo-Angehörigen über Italien nach Übersee, in der Praxis zumeist in den
Nahen Osten sowie nach Südamerika. Da auch immer wieder das Vorgehen der Justiz
in den einst von Deutschland besetzten Ländern thematisiert wird, fällt das
Ungleichgewicht in der Behandlung der drei Nachfolgestaaten des „Dritten
Reiches“ umso mehr auf: Österreich findet lediglich in der langen Einleitung
der Herausgeber en passant Erwähnung und die DDR wird bloß in einem Beitrag
behandelt (Andrej Angrick über das Ministerium für Staatssicherheit und
die Gestapo).
Nach der Einleitung, die breit und ausführlich den
Forschungsstand bilanziert, aber auch allgemeine Fragen des Umgangs mit dem
NS-Erbe in den Nachfolgegesellschaften sowie den dortigen Wandel des
politischen Klimas zwischen 1945 und der Gegenwart anspricht, folgen insgesamt
17 im Schnitt etwa 20 Seiten lange Aufsätze, welche die Herausgeber in drei
Themenblöcken angeordnet haben, die wiederum dem Untertitel des Bandes
„Karrieren, Konflikte, Konstruktionen“ entsprechen. Diese Gliederung ist weder
glücklich noch deckt sie sich mit den gebotenen Inhalten. Überblickt man die
Beiträge als Ganzes, so verläuft die Scheidelinie anders: Zwischen jenen Gestapo-Männern
(Frauen kommen nur am Rande vor), die entweder um 1945 durch Selbstmord endeten
oder sofort in die Mühlen der Nachkriegsjustiz gerieten einerseits, und einer
zweiten Gruppe andererseits, deren Mitgliedern eine erfolgreiche
Nachkriegskarriere gelang, meist gekoppelt mit einem Untertauchen bei
Kriegsende und einer spät, wenn überhaupt, erfolgten Enttarnung, wobei eine
justizielle Ahndung ihrer Taten dann aus unterschiedlichen Gründen nur mehr ausnahmsweise
möglich war.
Befremdend ist allerdings, dass sich Vertreter
beider Schicksalsgemeinschaften in allen drei Themenblöcken finden, letztere
also keineswegs ausschließlich Karrieren bzw. Konflikte ansprechen. So findet
sich etwa David M. Minterts Fallstudie über einen geständigen und daher
auch verurteilten Täter im Abschnitt „Karrieren“. Und auch den Konstruktionen –
worunter apologetische Selbstrechtfertigungen zu verstehen sind – begegnet man
nicht nur im letzten Themenblock, sondern beispielsweise auch im ersten, wenn Stephan
Link die „Stammtisch-Geschichte“ einstiger Polizeischüler abhandelt.
Noch mehr wird der Lesefluss dadurch
beeinträchtigt, dass die drei genannten Abschnitte jeweils sowohl Fallstudien als
auch größeren Themen gewidmete Überblicke beinhalten. Dieses Vorgehen bedingt
eine Vielzahl von Überschneidungen und Wiederholungen. Insbesondere werden
gewisse, die Strafverfolgung behindernde rechtliche Rahmenbedingungen samt dem
einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit fordernden, gesellschaftlichen
Klima unzählige Male erläutert, was beim Leser zu einer gewissen Ermüdung
führt. Es hätte sich wohl angeboten, die Überblicke an den Beginn zu stellen
und die Fallstudien folgen zu lassen. Insbesondere hätte Mallmanns
Beitrag über den Täterdiskurs in Wissenschaft und Gesellschaft, platziert am Anfang
des dritten Themenblocks, viel besser an den Beginn oder an das Ende des Bandes
gepasst.
Als gemeinsamer Tenor nahezu aller Beiträge tritt
die Klage über versäumte Gelegenheiten, verschleppte Verfahren und mitunter
sogar ein dezidiertes Desinteresse der Strafverfolgungsbehörden an
Gestapo-Tätern in den Vordergrund, wenngleich mehrfach darauf verwiesen wird,
was engagierte Ermittler, die es ausnahmsweise ebenfalls gab, zustande
brachten. Diese Argumentation wird in sämtlichen Beiträgen quellennah und durch
eine breite Ausschöpfung von Ermittlungs- und Gerichtsakten belegt, am Rande
kommen auch politische Beeinflussungsversuche seitens „brauner Netzwerke“ zur
Sprache. Es fehlt dem Band allerdings an einem bilanzierenden Gesamturteil zu
der Frage, zu welchen Anteilen diese Fehlschläge nun absichtlichem Wegschauen oder
tatsächlich unüberwindlichen Hindernissen (fehlende Zeugen, eingetretene
Verjährung etc.) geschuldet waren. Die meisten Fallstudien, wenngleich nicht
alle, behandeln weitgehend unbekannte Täter aus der dritten Reihe, während die
Gestapo-Prominenz vor allem in der Einleitung angesprochen wird. Vielleicht mag
dieser Umstand zu dem insgesamt als eher gering einzustufenden Verfolgungseifer
und entsprechend bescheidenen Resultaten der Justiz beigetragen haben.
Zu den interessantesten Beiträgen des Bandes
gehören die Studien Jan Kiepes über das gesellschaftliche und
rechtspolitische Umfeld bei den Ermittlungen gegen einstige Gestapo-Angehörige
sowie der Beitrag von Jürgen Matthäus über die Sonderkommissionen der
westdeutschen Kripo, der den Blick von den Gerichten auf die im Vorfeld
tätigen, häufig übersehenen Ermittler lenkt. Ein wenig aus dem Rahmen fallend,
aber durchaus lesenswert ist der abschließende Beitrag des Mitherausgebers Angrick
über das Nachleben der Gestapo im (nicht nur deutschen, sondern internationalen)
Filmgeschäft.
Ungeachtet der oben geäußerten Einwände liegt hier
in Summe ein überaus anregender Band vor, dessen Aufsätze allesamt auf dem
neuesten Forschungsstand und einer breiten Quellenbasis beruhen. Sie beinhalten
eine Fülle weiterführender Erkenntnisse und neuer Einsichten, wenngleich die
Nachkriegsschicksale völlig unbekannter, drittrangiger Täter aus den Reihen der
Gestapo vielleicht etwas zu stark gewichtet sind.
Graz Martin Moll