Denfeld, Claudia, Hans Wehberg (1885-1962) - die Organisation der Staatengemeinschaft (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts 17). Nomos, Baden-Baden 2008. XI, 292 S., Ill. Besprochen von Hans-Michael Empell.
Die Untersuchung, die von der juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Sommersemester 2007 als Dissertation angenommen wurde (Wolfgang Graf Vitzthum), behandelt Leben und Werk Hans Wehbergs, eines Vertreters der pazifistischen Völkerrechtslehre, deren Ziel darin bestand (und besteht), „Frieden durch Recht“ zu schaffen. Die Untersuchung ist in fünf Teile gegliedert. Der erste Teil mit dem Titel „Hans Wehberg: Pazifist und Völkerrechtsgelehrter“ (S. 3ff.) ist im Wesentlichen dem Leben Wehbergs gewidmet. Dargestellt werden die Stationen, die er nach Studium, Promotion und Referendariat durchlaufen hat – zum Beispiel seine Tätigkeit in der „Deutschen Liga für Völkerbund“, die Herausgabe der (1899 gegründeten, heute noch bestehenden) Zeitschrift „Die Friedens-Warte“, die Veröffentlichung eines Kommentars zur Völkerbundsatzung und schließlich die Professur an der Genfer Hochschule für internationale Studien, an der Wehberg seit 1928 tätig war. Ausführlich geschildert wird der Einfluss bedeutender Weggefährten – seines akademischen Lehrers Philipp Zorn, des Mitstreiters und Förderers Walther Schücking sowie des Nobelpreisträgers Alfred H. Fried. In einem zweiten Teil (S. 63ff.) wird der „völkerrechtshistorische Rahmen“ behandelt, in dem Wehbergs Arbeit zu sehen ist: der Streit zwischen Positivismus und Naturrecht, wie er zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgetragen wurde. Die folgenden Teile, die insgesamt den umfangreichsten Abschnitt der Arbeit ausmachen, befassen sich mit Themen, die für jede pazifistische Völkerrechtslehre von zentraler Bedeutung sind. Zunächst werden im dritten Teil (S. 75ff.) das „Gewaltverbot als Grundprinzip der modernen Völkerrechtsordnung und seine Durchbrechungen“ behandelt. Ausgehend vom uneingeschränkten ius ad bellum, das im 19. Jahrhundert und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts anerkannt war, führte die Entwicklung über mehrere, nach dem Ersten Weltkrieg vertraglich vereinbarte Einschränkungen dieses Rechts, zum Beispiel durch die Völkerbundsatzung, schließlich zu dem in der UN-Charta verankerten, umfassenden Verbot der Androhung und Anwendung zwischenstaatlicher Gewalt. Im Hinblick auf jeden dieser Fortschritte nahm Wehberg eine kritische Haltung ein. Keiner dieser Fortschritte konnte dazu führen, dass Wehberg sein Ziel, eine wirksame, völkerrechtliche Ächtung des Krieges, schon erreicht sah. Im vierten Teil (S. 114ff.) wendet sich die Verfasserin der „Bedeutung der internationalen Gerichtsbarkeit für die Friedenssicherung“ zu und schildert die Entwicklung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit und der internationalen Gerichtsbarkeit von der Gründung des Haager Ständigen Schiedshofes (1899) bis zum Internationalen Gerichtshof (1945) sowie die Stellungnahmen und Forderungen Wehbergs, mit denen dieser die Entwicklung kritisch begleitet hat. Der fünfte Teil (S. 158ff.) ist dem Thema „Erhaltung des Friedens durch Zusammenschluss der Staaten in Internationalen Organisationen“ gewidmet. Die Autorin behandelt nicht nur die Bedeutung der beiden Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907), der Errichtung des Völkerbundes (1920) und der Gründung der Vereinten Nationen (1945), sondern beschreibt auch, in welcher Art und Weise Wehberg zu den einzelnen Entwicklungsschritten kritisch und mit weiterführenden Vorschlägen Stellung genommen hat. Eindrucksvoll sind seine scharfe Ablehnung des in der UN-Charta festgelegten Vetorechts der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sowie seine extensive Auslegung des Friedensbegriffs in Kap. VII der UN-Charta, die es dem UN-Sicherheitsrat ermöglichen sollte, nicht nur bei zwischenstaatlichen, bewaffneten Konflikten, sondern auch im Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen zu intervenieren. Damit hat Wehberg eine Interpretation des Begriffs der Friedensbedrohung gefordert, die erst zu Beginn der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts in die Praxis des UN-Sicherheitsrates Eingang gefunden hat. Die „Schlussbetrachtung“ (S. 209ff.) enthält eine „zusammenfassende Würdigung von Wehbergs Bibliographie“ (besser: seines publizistischen Werkes) sowie Überlegungen zum Thema „Hans Wehberg aus heutiger Sicht“. Wehberg, so stellt die Autorin fest, sei seiner Zeit weit voraus und deshalb ein Außenseiter gewesen; seine Ideen seien noch heute aktuell. Es folgen ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis (S. 217ff.), aus dem sich ergibt, dass die Verfasserin auch nicht publizierte Archivalien ausgewertet hat, sowie eine umfangreiche (wenn auch nicht Vollständigkeit beanspruchende) Bibliographie der Veröffentlichungen Wehbergs.
Einige kleinere Mängel sind zu verzeichnen. Der Untertitel „Die Organisation der Staatengemeinschaft“ ist nicht nur unklar („Organisation“ als Prozess oder als Ergebnis?), sondern gibt das Thema der Arbeit auch nicht ganz korrekt wieder. Besser wäre wohl gewesen, eine deutlichere Verknüpfung zum Haupttitel herzustellen, also etwa zu formulieren: „Vorkämpfer einer organisierten Staatengemeinschaft“ oder „Leben und Werk eines pazifistischen Völkerrechtslehrers“. Problematisch ist ferner die Gliederung des ersten Teils, der das Leben Wehbergs behandelt. Hier wird die historische Reihenfolge nicht immer durchgehalten, ganze Abschnitte (zum Beispiel über den Einfluss von Mitstreitern auf Wehberg) werden „ausgelagert“ und getrennt vom Lebenslauf behandelt. So muss der Leser in der historischen Reihenfolge vor- und zurückspringen. Problematisch ist zudem die Einordnung des Abschnitts über „Wehbergs Selbstverständnis als Völkerrechtswissenschaftler“ in diesen ersten Teil. Besser wäre wohl gewesen, den Abschnitt in den folgenden, zweiten Teil zu integrieren, der den „völkerrechtshistorischen Rahmen“ behandelt, in dem Wehbergs Werk zu sehen ist und der auch einen Abschnitt mit dem Titel „Wehberg als Repräsentant des modernen Völkerrechts“ enthält. Gelegentlich hat die Verfasserin es versäumt, gründlich zu recherchieren. So heißt es S. 8 Anm. 38: „An welcher juristischen Fakultät Wehberg promovierte und wer sein Doktorvater war, ließ sich nicht ermitteln“. Dem über das Internet zugänglichen Karlsruher Virtuellen Katalog ist zu entnehmen, dass Wehberg in Münster 1909 promoviert wurde. Aus der (leicht zugänglichen) Dissertation ergibt sich auch, dass sein Doktorvater Leo von Savigny (1863-1910) war, ein Enkel Friedrich Carl von Savignys (1779-1861). Ferner wird darin mitgeteilt, dass Wehberg die erste juristische Staatsprüfung am 21. 5. 1908 beim Oberlandesgericht Köln abgelegt hat. So hätte die Verfasserin auch ihre „Bibliographie Hans Wehbergs“ (S. 217 ff.) ergänzen können, in der die Dissertation zwar verzeichnet ist, aber nur in einer für den Buchhandel bestimmten, bei einem anderen Verlag erschienenen Ausgabe (mit einem geringfügig abweichenden Titel). Was den S. 86 genannten, 1860 geborenen, pazifistisch orientierten, Prager „Hochschullehrer“ Heinrich Rauchberg betrifft, von dem es Anm. 73 heißt, es habe nicht ermittelt werden können, wann er gestorben ist, so ist sein Todesjahr 1938, wie sich im Internet ermitteln lässt. Dort ist auch nachzulesen, dass er Statistik und Völkerrecht gelehrt und dass Franz Kafka ihn gehört hat und von ihm geprüft wurde (was freilich nicht mehr zum Thema der Arbeit gehört hätte).
Trotz derartiger kleinerer Mängel kann zusammenfassend festgestellt werden: Die Arbeit ist durchweg flüssig geschrieben und zeichnet ein klares und eindrucksvolles Bild Wehbergs und seiner Lebensleistung. Für jeden, der sich über Wehberg informieren möchte, ist die Untersuchung von großem Nutzen. Es ist ein Verdienst der Autorin, Leben und Werk eines bedeutenden Völkerrechtlers und Pazifisten umfassend und ausführlich gewürdigt zu haben, dessen Gedanken noch heute anregend und weiterführend sind.
Heidelberg Hans-Michael Empell