Casanova, Christian, Nacht-Leben. Orte, Akteure und obrigkeitliche
Disziplinierung in Zürich, 1523-1833. Chronos, Zürich 2007. 511 S. Besprochen
von Lukas Gschwend.
Der Autor dieser
2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich angenommenen
Dissertation legt seiner Arbeit ein differenziertes theoretisches Konzept über
das Werden herrschaftlicher Strukturierung zugrunde: Ausgehend von der
Zivilisationstheorie Norbert Elias’ über den Sozialdisziplinierungsansatz
Gerhard Oestreichs und Michel Foucaults gelangt er zum Ergebnis, dass
„längerfristige Disziplinierungserfolge von äusserst vielfältigen Erfolgen
abhingen“ (S. 34). Entscheidend ist die Möglichkeit der Obrigkeit, bei der
Schaffung neuer Normierungsansprüche an bestehende und akzeptierte normative
Strukturen anknüpfen zu können. Casanova sieht seine Studie als mikrohistorisch
ausgerichteten Mosaikstein im Gesamtbild der Erforschung der Kontroll-,
Regulierungs-, Disziplinierungs- und Zuchtvorgänge im Europa der frühen Neuzeit
und Modernisierung.
Casanova stellt
anhand einer breit abgestützten Analyse abstrakter und konkreter normativer
Quellen seit der Mitte des 16. Jahrhunderts einen gesteigerten obrigkeitlichen
Regulierungsanspruch hinsichtlich der Präsenz der Stadteinwohner im
öffentlichen Raum bei Nacht fest. Der Autor analysiert gleichermassen normative
Rechtsquellen, wie Sittenmandate, Ratsbeschlüsse, Verbotbücher, Gesetze und
Verordnungen wie auch Gerichtsakten und Stadtratsprotokolle als Spiegel der
Rechtswirklichkeit. Er stellt eine „erhebliche Diskrepanz zwischen Rechtsnorm
und Rechtswirklichkeit“ fest (S. 18). Wer im 17. und 18. Jahrhundert nachts auf
Zürcher Straßen unterwegs war, brauchte dazu einen guten Grund und war
verpflichtet, eine Laterne mitzuführen, weniger zu seiner eigenen Sicherheit,
sondern um dadurch identifizierbar zu werden. Wer sich nachts auf den Straßen
aufhält, macht sich dadurch verdächtig. Nächtliches Delinquieren kommt
bisweilen vor; die Täterschaft bleibt auch am folgenden Tag oft im Dunkeln. Der
Rat will verhindern, dass sich in der Dunkelheit herrschaftsfreie Räume bilden
(S. 60). Sodann wird nächtliches Herumziehen auch aus feuerpolizeilichen
Gründen als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gesehen. Ganz im Geiste des
Absolutismus sieht sich die Zürcher Obrigkeit nicht nur als Garantin des
Rechts, sondern auch der Moral, die mit dem Recht inhaltlich und begrifflich
noch eng verschränkt war. Casanova untersucht ausführlich die Gaststätten,
Zunftstuben und Winkelwirtschaften als Orte des Nachtlebens und zeigt auf, dass
dort oft über die Maßen Alkohol konsumiert wurde, was wiederum Anlass für
Raufereien bot. Der Aufenthalt in der Schenke und das Trinken waren daher
regelmäßig Gegenstand obrigkeitlicher Regulierung. Der Autor dringt tief in die
historische Volkskunde ein, indem er auch die nächtlichen Bräuche der
Jugendlichen und der Handwerker sowie besondere Anlässe, wie Feste, Fastnacht,
Hochzeiten etc., auf deren Auswirkungen auf die Einhaltung der Nachtruhe
untersucht. Die Dunkelheit wurde angesichts der engen Wohnverhältnisse und des
engen Korsetts der Verhaltensvorschriften von Jugendlichen nicht selten als
Freiraum zur Entfaltung des persönlichen Austauschs bis hin zur Aufnahme sexueller
Beziehungen genutzt. Festanlässe, die grundsätzlich tagsüber stattzufinden
hatten, dauerten manchmal bis in die Nacht. Die erhitzten Teilnehmer neigten
mitunter zu moralischen Grenzüberschreitungen. Dies zu bekämpfen, war dem
Zürcher Rat ein vordringliches Anliegen. Die Gefahrenabwehr erfolgte einerseits
durch zahlreiche, zeitlich oft rasch aufeinander folgende Verbote in den
Mandaten, deren Wirksamkeit der Autor in Zweifel zieht. Andererseits bestand
mit den Institutionen der Nachtwache ein Instrument zur Umsetzung dieser
Normen. Allerdings erwies sich diese als überaus schwierig. Da die Nachtwache
bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Zürich weitgehend im Milizsystem
bewerkstelligt wurde, blieb die Qualität der Überwachungsleistung gering. Zu
eng waren die sozialen Bande. Der Wächter von heute war der angetrunkene
Spätheimkehrer von morgen. Casanova zeigt zahlreiche Schwächen im behördlichen
Überwachungssystem auch hinsichtlich der äußeren Sicherheit auf, etwa bei der
nächtlichen Schließung und Kontrolle der Stadttore. Die Wirklichkeit hinkte
weit hinter dem normativen Anspruch nach. Die faktische Freiheit des Einzelnen
bei der Nutzung des öffentlichen Raums bei Nacht dürfte dementsprechend viel
größer gewesen sein, als die Rechtsquellen vermuten lassen. Es stellt sich
geradezu die Frage, wieweit der Rat seine Kontrollbemühungen tatsächlich
umgesetzt sehen wollte.
Die normative
Entzauberung der Nacht und damit das Abstreifen des Schleiers des Unheimlichen
und Ungehörigen begann während der Helvetik (1798-1803). Der Autor findet die
Ursache für das veränderte Verhältnis nicht etwa in einer aufklärungsbedingten
Rationalisierung oder gar ideellen Modernisierung der nächtlichen Ordnung,
sondern vielmehr in der Tatsache häufiger Präsenz auswärtiger Truppen. Nach
1798 gehört das nächtliche Ankommen und Abmarschieren von Truppenverbänden zur
normalen Erlebniswelt im nächtlichen Zürich. Die Stadttore verlieren ihre
Funktion als scheinbare Garanten der äußeren Sicherheit, nächtliche Aktivitäten
alleine sind nicht mehr anrüchig, sondern obrigkeitlich angeordnet; die Stadt
veranlasst in Kooperation mit den Heereskommandanten Kontrollen oder deponiert
bei diesen Beschwerden über das nächtliche Treiben der Truppen. Die
Militärverantwortlichen wiederum fordern vorwiegend aus praktischen Gründen die
Beleuchtung der Stadt. Die Präsenz des Militärs bringt nächtlichen
Vergnügungshunger mit sich. Die Zürcher Bürger unterliegen zunehmend diesem
Einfluss. Feste zur Nachtzeit stoßen auf immer mehr Beliebtheit, die
Prostitution gedeiht trotz behördlichen Interventionen im Dunkeln,
feiertägliches Brauchtum nimmt zunehmend die Nacht in Beschlag, auswärtige
Handwerker und Gesellen tragen in den folgenden drei Jahrzehnten das ihre zur
Entzauberung der Nacht bei. Die dunkle Phase des Tages wird zunehmend
Bestandteil des aktiven Lebens, anerkannter Geselligkeit und Unterhaltung. Das
komplexere Wirtschaftsleben und die Arbeitsteilung führen zu einer zeitlichen
Ausdehnung der Tagesnutzung, was sich auf die Schließzeiten der Stadttore, der
Verkaufsläden, Handwerksbetriebe und Schankstuben auswirkt. Die Mobilität in
der Dunkelheit der ersten und letzten Nachtstunden wird zur notwendigen
Selbstverständlichkeit. Die Behörden versuchen die innere Sicherheit nun nicht
mehr durch Ausgeh- und Feuerverbote sicherzustellen sondern durch Fremdenkontrolle
und feuerpolizeiliche Maßnahmen, insbesondere durch die Verbesserung von
Feuerwehr und Kaminkontrollen. Die Nachtwache wird vorerst militärisch
organisiert, das althergebrachte Nachtwächterkorps bleibt bestehen, erweist
sich aber verschiedentlich als wenig tauglich, was wohl der Eroberung des
nächtlichen Raums durch die Einwohner zusätzlich Vorschub leistete. Nach 1832
übernimmt das Landjägerkorps der Kantonspolizei die Stadtbewachung. Bis 1834
erfolgt ein kontinuierlicher Ausbau der Straßenbeleuchtung in der Stadt auf
insgesamt 185 Öllaternen. Casanova erklärt diesen Ausbau einerseits mit einem
Prestigebewusstsein der Zürcher Behörden, schließlich verfügte Bern seit den
1750er Jahren über ein Strassenbeleuchtung.
Andererseits identifiziert er das Bedürfnis der Behörden, die Straßen der Stadt
in der Nacht auszuleuchten mit einem nach wie vor absolutistischen
Herrschaftsanspruch. Erst die Beleuchtung ermöglicht eine effektive Kontrolle
des Raums. Das Ringen um die nächtliche Kontrolle des öffentlichen Raums
widerspiegelt eindrücklich die Reaktion der Herrschaft auf die neue Freiheit
des Individuums. Infrastruktur und Verwaltungsstab erfahren einen Ausbau, um
die Überwachung der Einwohner zu verbessern. Casanova zeigt aber auch, wie
unzulänglich die Maßnahmen während langer Zeit blieben, da man zu dem mit dem
Ausbau verbundenen finanziellen Aufwand nur in sehr beschränktem Umfang bereit
war. Dem kann der Rezensent nur beipflichten. Nach der Schleifung der Stadtbefestigung
machte die Kriminaluntersuchung im Fall Ludwig Lessing 1835 deutlich, dass die
Zürcher Behörden weitgehend ahnungslos über das nächtliche Treiben ihrer
Einwohner im öffentlichen Raum waren. Es fehlte weitgehend an
fremdenpolizeilicher Infrastruktur, sodass niemand wusste, wie viele
ausländische Handwerker, Gesellen und Studenten sich in der Stadt aufhielten,
obschon die Zahl nach Gründung der Universität 1833 und zufolge der politischen
Verfolgungen des Vormärz' gemessen an der geringen Einwohnerzahl beachtlich
war. Auch hier stellt sich die Frage, wie umfassend der mit dem
herrschaftlichen Selbstverständnis einhergehende Kontrollanspruch der Behörden
tatsächlich war.
Casanova legt eine
hervorragend recherchierte Langzeituntersuchung über das Zürcher Nachtleben
vor. Er hat große Quellenbestände aus dem Zürcher Staats- und Stadtarchiv
sorgfältig analysiert. Die Studie ist theoretisch plausibel verankert und
überzeugt durch ihren aussagekräftigen Materialreichtum gleichermaßen wie durch
ihre narrative Struktur und sozialgeschichtliche Argumentation.
St. Gallen Lukas
Gschwend