Bretschneider, Falk, Gefangene Gesellschaft. Eine Geschichte der Einsperrung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 15). UVK, Konstanz 2008. XXI, 614 S. Besprochen von Heinz Müller-Dietz.

 

Die voluminöse sozial- und kulturgeschichtliche Monographie stellt die überarbeitete Fassung einer Untersuchung dar, die von der Ecole des hautes études en sciences sociales Paris und der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Dresden als Dissertation angenommen worden ist. Sie fußt auf eingehenden Quellenstudien, die Falk Bretschneider in einer ganzen Reihe von Archiven (namentlich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv Dresden sowie in den Staatsarchiven Leipzig und Chemnitz) unternommen hat. Die Arbeit hat zwar - nach ihrem Untertitel - „nur“ die verschiedenen Formen des Freiheitsentzugs zum Gegenstand, wie sie im Sachsen des 18. und 19. Jahrhunderts stattgefunden hat, greift aber dank ihrer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem einschlägigen Forschungsstand und ihrer Einbettung in die damalige europäische, namentlich deutsche, französische und englische, Entwicklung inhaltlich weit darüber hinaus. Insofern beschränkt sich die Studie keineswegs auf eine Entfaltung des engeren Themas, sondern ist vielmehr ungeachtet aller Probleme der Quellenforschung gerade darauf angelegt, durch eine Verknüpfung aktueller sozial- und kulturhistorischer Ansätze einen wegweisenden Beitrag zur Geschichte der modernen Freiheitsstrafe schlechthin zu leisten. Das kommt namentlich in dem auf Anhieb befremdlich erscheinenden Titel „Gefangene Gesellschaft“ zum Ausdruck. Dessen Bedeutung erschließt sich dem Leser jedoch alsbald aus dem Vorwort Jacques Revels und Bretschneiders eigener Einleitung, aber auch der Zusammenfassung der Leitlinien seiner sozialgeschichtlichen Untersuchung, die er durch die Quellenanalysen bestätigt findet. Die der Studie zugrunde liegenden Thesen hat Bretschneider, der ja bereits durch weiterführende Arbeiten auf diesem Gebiet hervorgetreten ist, auf verschiedenen Tagungen zur Diskussion gestellt.

 

Einen grundsätzlichen Einstieg in Konzept und Inhalt der Studie vermittelt schon das Vorwort Jacques Revels (S. XIII-XXI), dessen kulturhistorisches Werk - ebenso wie dasjenige anderer, etwa Gerd Schwerhoffs - bei der Entstehung Pate gestanden hat. Revel skizziert zunächst den Wandel der Geschichts- und Sozialwissenschaften seit ca. 1970, der sich in der Nutzung von Quellen des Polizei- und Justizapparats, der Berücksichtigung sozio-ökonomischer Verteilungen, demographischer Variablen und kultureller Indikatoren widergespiegelt hat, um mehr Licht in das Dunkel gesellschaftlicher Umgangsweisen mit Devianz in der Vergangenheit zu bringen. Dabei verweist er vor allem auf die exemplarische, einflussreiche Rolle, die Erving Goffmans und Michel Foucaults Studien (insbesondere „Asyle“ und „Überwachen und Strafen“) in der Forschung gespielt haben (und zum Teil immer noch spielen) - die aber freilich, namentlich was Foucaults Werk betrifft, von Missverständnissen und Überzeichnungen mitnichten frei gewesen ist. Sie haben das systemtheoretische Interesse auf die Gefängnissen immanenten Machtstrukturen gelenkt, für die verschiedentlich Jeremy Benthams „Panoptikon“ Modell totaler Überwachung der Inhaftierten als Anschauungsunterricht gedient hat.

 

Doch sind erst in Korrektur und Weiterentwicklung dieser Konzepte die sozialen Beziehungen zwischen den Institutionen und deren Akteuren (Gefangene und Personal) sowie ihrem jeweiligen Handeln ins Blickfeld getreten. Paradigmatisch für diesen Perspektivenwechsel erscheint Revel Bretschneiders Studie. Ihm zufolge sei deutlich geworden, dass das Gefängnis in seiner historischen Entwicklung trotz unbezweifelbarer Machtasymmetrie nicht als geschlossenes System von Zwängen begriffen werden kann, wie es zeitweilig (etwa in der Rezeption Foucaults) geschehen ist. Demnach figuriert es eher als eine komplexe, heterogene Erfahrungswelt, in der Staat und Amtsträger immer wieder in praktischer Erprobung von Konzepten auf der (vergeblichen) Suche nach einer bestmöglichen Gestaltung des Freiheitsentzugs im Sinne normativer Vorgaben und in der die Akteure bestrebt gewesen sind, sich mit den bestehenden Bedingungen des Machtgefälles und sozialer Ungleichheit dem Eigeninteresse entsprechend zu arrangieren. In dieser Sichtweise hat der Freiheitsentzug, wie er sich in Sachsen im Untersuchungszeitraum entwickelt hat, gleichsam eine Art „Laboratorium“ verkörpert, das indes mitnichten als eine Ausnahme, ein Sonderfall etwa im Vergleich mit den damaligen Einrichtungen in Preußen, Frankreich und England, verstanden werden könne.

 

Bretschneider hat sein umfangreiches Werk in fünf Teile gegliedert, an die sich eine gedrängte Zusammenfassung seines Konzepts, seiner geschichtlichen Befunde und deren Interpretation anschließt (S. 523-540). Im ersten Teil legt er die theoretischen Prämissen und die Perspektiven seiner Studie dar (S. 1-30). Ebenso stellt er hier den aktuellen Forschungsstand vor und setzt sich mit der Aussagekraft der von ihm verwendeten gedruckten und ungedruckten Quellen auseinander (S. 31-42).

 

Schon hier wird deutlich, dass der heutige Begriff des „Strafvollzugs“ zumindest den Frühformen freiheitsentziehender Anstalten jener Zeit nicht entspricht (weshalb der Verfasser denn auch die „Geschichte der Einsperrung“ als Fokus seines Werkes begreift). Hervorgegangen aus den geschichtlichen Modellen des Klosters und des Hospitals haben die damaligen Einrichtungen, in denen Menschen untergebracht waren, multifunktionalen Charakter gehabt. Zwar dienten sie zugleich der „Einsperrung“ devianter Personen - wie z. B. von Dieben und Sexualdelinquenten -, aber eben auch der Versorgung und Pflege von Armen, Alten und psychisch gestörten Personen. Häufig befanden sich unter den Untergebrachten auch Kinder. Erst allmählich schälten sich in mehr oder minder langwierigen geschichtlichen Abläufen jene Institutionen heraus, die vornehmlich oder gar ausschließlich der Vollstreckung von Freiheitsstrafen dienten.

 

Dem Verfasser geht es bei der thematischen Eingrenzung seiner Studie auf die einschlägige Entwicklung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert erklärtermaßen darum, an einem überschaubaren Flächenstaat des Alten Reiches die in der sozialgeschichtlichen Forschung nach wie vor virulente These von der Entstehung des modernen Gefängnisses um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auf den Prüfstand zu stellen. Auf der Grundlage einer Einbettung seines Gegenstandes in den internationalen Forschungsstand strebt er eine grundsätzliche Neuorientierung in methodischer wie inhaltlicher Hinsicht an. Dem dient ein Überblick über die verschiedenen Abschnitte und unterschiedlichen Schwerpunkte der Strafvollzugsgeschichtsschreibung.

 

Bretschneider entnimmt - vereinfacht ausgedrückt - dem neueren Verlauf dieser Forschung drei herausragende, markante Phasen. Zunächst erblickt sie in der allmählichen - freilich keineswegs uneingeschränkten - Ablösung vom Lebens- und Körperstrafen durch Freiheitsstrafen einen fortschreitenden Humanisierungsprozess im gesellschaftlichen und staatlichen Umgang mit deviantem Verhalten (z. B. Robert von Hippel, Eberhard Schmidt). Dieser Sichtweise tritt namentlich im Zuge der 68er-Bewegung eine grundsätzliche, auch geschichtlich aufgeladene Kritik am Strafvollzug entgegen, die diesen als institutionell geronnenen Ausdruck staatlicher Repression und Disziplinierung charakterisiert. Zu dieser Perspektive haben dem Verfasser zufolge namentlich die bereits erwähnten sozialwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Konzepte Goffmans vom Gefängnis als „totaler Institution“ und Foucaults Deutung der Institution als „Disziplinargesellschaft“ beigetragen. Beide Sichtweisen haben die weitere sozialgeschichtliche Forschung denn auch nachhaltig beeinflusst.

 

Für Bretschneider halten diese Konzepte zwar durchaus sinnvolle Topoi bereit, die sich sozialhistorisch fruchtbar machen lassen. Er begreift sie jedoch als Verkürzungen und Vereinfachungen einer weit komplexeren sozialen Wirklichkeit. Zwei Defizite haften demnach dem Disziplinierungskonzept an: Strukturen bringen kein Handeln hervor. Menschen sind es, die Strukturen schaffen. In diesem Sinne erweist sich für Bretschneider „Strukturierende Aktivität“ als Leitkategorie wissenschaftlicher Analyse. Die soziale Wirklichkeit ist für ihn durch multipolare Handlungsverknüpfungen und dynamische Kräftefelder gekennzeichnet. An die Stelle eines vorrangig macht- und herrschaftsbezogenen Ansatzes müsse dementsprechend ein handlungsorientierter treten. Ausübung von Macht ist für ihn an soziale Prozesse der Auseinandersetzung sowie an Strategien und Praktiken der Akteure gebunden. Sie „erstarrt nie in festen Strukturen, sondern sie wird permanent neu verteilt“ - was auch für die Disziplinierung gelte (S. 19). Institutionen kreierten keineswegs nur Zwänge; vielmehr eröffneten sie auch neue Handlungschancen und Wahlmöglichkeiten. Freilich gelte es dabei nach den jeweiligen sozialen Aufgaben von Institutionen zu differenzieren. So sei das Leben in freiheitsentziehenden Einrichtungen durchaus auch durch Machtgefälle und soziale Ungleichheit, Zwang und Leid gekennzeichnet, erschöpfe sich aber darin nicht. Im Schlüsselbegriff der „Institutionalität“ fasst Bretschneider Existenz und Wirken von Institutionen zusammen: Er bringe „ein mit der Fiktion von Geltung und Dauer aufgeladenes Ergebnis sozialer und diskursiver Stabilisierungsleistungen“ zum Ausdruck. Darin manifestiere sich der Doppelcharakter von Institutionen, die Ordnungsleistungen erbrächten und zugleich Ordnungskonzeptionen symbolisierten (S. 25).

 

Die veränderte Perspektive veranschaulichen dem Verfasser zufolge vor allem sozialgeschichtliche Studien, die den Blick nicht mehr allein auf die an normativen Vorgaben orientierten und von entsprechendem administrativem Selbstverständnis getragenen Institutionen, sondern auch und gerade auf das Alltagshandeln der „kleinen Leute“ innerhalb dieser Strukturen und der in ihnen ablaufenden Prozesse richten. In das reale Bild einer vielfältigen Wirklichkeit, die durch unterschiedliche staatliche und gesellschaftliche Normen, durch zwar überwiegend normkonformes, aber eben auch eigenständiges, nicht nur bloß abweichendes Verhalten gestaltet - oder zumindest mitgestaltet - wird, will die plane Vorstellung einer streng hierarchischen, von oben durchgängig reglementierten, von Macht und Zwang diktierten „geschlossenen“ „Disziplinargesellschaft“ schwerlich passen. Was aber insoweit für die Gesellschaft „draußen“ insgesamt gilt, trifft - so Bretschneider - auch auf die „kleine Welt“ des Gefängnisses zu. Eine solche Parallelisierung biete sich um so mehr an, als die vielfach vorherrschende Vorstellung vom institutionell von der Gesellschaft völlig abgeschotteten Gefängnis sozialgeschichtlicher Grundlage entbehre. So wenig nach den Befunden eine strenge Scheidelinie zwischen Insassen und Personal existiere - die ja beide oft demselben sozialen Milieu entstammten -, so wenig könne von einer hermetischen Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt die Rede sein. Vielmehr entnimmt der Verfasser seinem Quellenmaterial etliche Belege, die eine lokal freilich unterschiedliche Porosität und Durchlässigkeit des Gefängnisses dokumentierten.

 

Hieraus resultieren denn auch die Leitlinien der Studie. In diesem Sinne werden Strafanstalten nicht als „Außenräume der Gesellschaft“ begriffen, sondern vielmehr „als Bestandteil und Spiegel dessen, was die Gesellschaft ausmacht“ (S. 29). Im Handeln der Akteure äußern sich unterschiedliche Interessen, Werte und Orientierungen. Es ist durch soziale Ungleichheit, Konflikte und Unordnung gekennzeichnet. Drei grundsätzliche Topoi bestimmen den Gedankengang: Zum einen wird Einsperrung als ein Phänomen vorgestellt, das während eines längeren geschichtlichen Prozesses, beeinflusst nicht nur durch philosophische Konzeptionen der Aufklärung, sondern vor allem orientiert an obrigkeitlichen Norm- und Ordnungsvorstellungen („gute Policey“) und Handlungsweisen der Untertanen verschiedene Funktionen wahrnimmt und Gestalten aufweist. Richtungweisend erscheinen Bretschneider dabei jene Vorgänge, denen hinsichtlich der Entstehung der modernen Freiheitsstrafe besondere Bedeutung zukommt: Sie äußern sich darin, dass bereits die frühmoderne Strafpraxis in beachtlichem Umfange freiheitsentziehende Sanktionen kannte und dass Armut und Krankheit entscheidend zur Gründung des Zuchthauses beitrugen. Zum anderen stellt sich für Bretschneider die Frage, wie die am obrigkeitlichen Regelkanon orientierte Disziplin realiter durchgesetzt, in welcher Weise und in welchem Maße unterschiedliche Interessen, Bedürfnisse und Handlungsmöglichkeiten von außen auf normkonformes oder normabweichendes Verhalten einwirken. In diesem Kontext richtet er namentlich den Blick auf die inneren Zusammenhänge, in denen die Institution Gefängnis mit den jeweiligen Auseinandersetzungen über normative und funktionale Vorgaben in den Kräftefeldern von Staat und Gesellschaft steht. Schließlich ist es Bretschneider im Lichte seines Konzepts um die Aufhellung und Analyse der alltäglichen Disziplinierungspraxis zu tun, in der sich einmal mehr unterschiedliche Machtansprüche und ungleich verteilte materielle und symbolische Ressourcen, Menschen trennende und verbindende Elemente, aber auch Konflikte und Zwang artikulieren.

 

Bretschschneider hat vor allem deshalb Sachsen als Objekt ausgewählt, weil es einen exemplarischen Mittelstaat des Alten Reiches verkörpert hat, der im Untersuchungszeitraum nur relativ geringe territoriale Veränderungen erfahren hat. Dafür haben auch eine günstige Quellenlage sowie eine reiche regionale Forschung zur damaligen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung, namentlich zur Armut, Armutsbekämpfung und Sozialpolitik, gesprochen. So hat der Verfasser eine Fülle gedruckter und ungedruckter Quellen vor allem in sächsischen und brandenburgischen Archiven - insbesondere in Form von Verwaltungsakten und Insassenregistern sächsischer Zuchthäuser - aufspüren können. Freilich sieht er sich, was die Auswertung und Interpretation amtlicher, namentlich ungedruckter Quellen (z. B. von Anordnungen, Befehlen, Berichten, Gutachten) anlangt, den bekannten Problemen begrenzter Aussagekraft konfrontiert. Allerdings fanden sich Selbstzeugnisse von Insassen, die über das subjektive Erleben Betroffener im Sinne einer „Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung“ hätten Auskunft geben können (S. 42), eher selten. Soweit welche vorhanden waren (z. B. von Karl May), hat es sich überwiegend um Autobiographien gehandelt, deren Autoren meist der bürgerlichen Sphäre entstammten. Dass über die Geschichte des sächsischen Strafvollzugs bis dato lediglich Einzelstudien, aber kaum vertiefende Arbeiten vorgelegen haben, hat fraglos einen weiteren Anreiz für die Untersuchung bedeutet.

 

In den folgenden Teilen der Studie entfaltet und konkretisiert Bretschneider sein ebenso vielfältiges wie umfangreiches Forschungsprogramm, dessen Befunde er in der gedrängten Zusammenfassung am Schluss gleichsam auf den Begriff bringt. Einmal mehr wird hier deutlich, „dass die Institutionen der Einsperrung keine Außenräume der Gesellschaft, sondern in der Gesellschaft selbst verankert waren, d. h. in ihr vorhandene und verhandelte Normen, Interessen, Identitäten, aber auch Ungleichheiten und Konflikte widerspiegelten und reproduzierten“ (S. 523). Der über längere Zeiträume sich hinziehende Transformationsprozess policeyrechtlicher Unterbringung und strafrechtlicher Sanktionsformen und die in den Anstalten stattfindenden sozialen Abläufe lassen sich dem Verfasser zufolge in drei große, ihrerseits überaus vielschichtige Themenkomplexe auffächern. Den ersten charakterisiert die knappe Formel: „Am Anfang war der Bettler, am Ende das Gefängnis“ (S. 523). Der zweite Themenkomplex hat die verschiedenen Ansätze und differenzierten sozialen Prozesse zum Gegenstand, in denen sich die unter heterogenen Machtverhältnissen und Interessenlagen vollziehende, meist gelingende, aber zuweilen doch unterlaufene Disziplinierung der Insassen manifestierte (S. 529ff.). Der dritte Themenkomplex gilt der Rekonstruktion administrativer Bestrebungen um Stabilisierung und Rechtfertigung der Institution und des eigenen Handelns vor dem Hintergrund sich verändernder normativer Vorgaben und gesellschaftlicher Erwartungen (was in der Formel „Doing prison“ anschaulich wird) (S. 535ff.). Als Resümee seiner Untersuchung hält Bretschneider fest, in den sächsischen Zuchthäusern und Strafanstalten habe „unter den spezifischen Bedingungen eines institutionellen Ordnungsarrangements soziales Miteinander“ stattgefunden. „Hier wurde Macht behauptet und bestritten, Herrschaft ausgeübt und bezweifelt, diszipliniert und eigensinnig gelebt - hier geschah ‚gefangene Gesellschaft’.“ (S. 540)

 

Im zweiten Teil beschreibt der Verfasser die sozioökonomische Verfassung der von vielfacher Armut geprägten kursächsischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts und die darauf reagierende staatliche Praxis, die ihren Vorstellungen von „guter Policey“ (Ordnung und Fürsorge) durch Gründung der landesherrlichen Zucht- und Armenhäuser zu Waldheim (1716) und Torgau (1730) Geltung zu verschaffen suchte (S. 43-167). Das Zuchthaus sollte Ordnung in einer „ordnungslosen Welt“ schaffen (S. 70). „Eigenraum“, „Eigenzeit“ und Überwachung bildeten seine Charakteristika. Es diente der Unterbringung eines überaus heterogenen Personenkreises von (unverschuldet) Armen, Alten, aber auch Bettlern, Vaganten, psychisch Kranken („Rasenden“), „ungeratenen Töchtern“ und Kriminellen (vor allem Eigentums- und Sexualdelinquenten). „Das Waldheimer Zuchthaus etwa war eine Kombination aus Armenhaus, Hospital, Waisenhaus, Erziehungs-, Korrektions- und Strafanstalt.“ (S. 128) Dieser aus heutiger Sicht befremdlich wirkenden Multifunktionalität lag zweierlei zugrunde: der christliche Gedanke der Arbeitspflicht, wonach der Mensch im Interesse seines Seelenheils in jeder Lebenslage tätig werden müsse, und das „gemeinsame Haus“ als der für die Frühe Neuzeit verbindliche soziale Ordnungsrahmen. Anhand der Quellen kann der Verfasser die Insassen nach dem Zweck der Einweisung, nach sozialer Schicht, Geschlecht und vorgesehenen Aufenthaltszeiten kategorisieren.

 

Als Ordnungsprinzip des „gemeinsamen Hauses“ sollte Arbeit fungieren (S. 128ff.). Sie sollte - nicht zuletzt im Zeitablauf - wechselnden Zwecken Rechnung tragen, etwa wirtschaftspolitische, fiskalische Funktionen erfüllen oder die Insassen - im Sinne der Verhaltenssteuerung - an regelmäßige, den Lebensunterhalt sichernde Beschäftigung gewöhnen. Der Anspruch strikter Ordnung wurde im Zuchthaus beileibe nicht immer eingelöst „Eigensinniges Verhalten, Defizite der Raumstruktur und die gegenseitigen Abhängigkeiten und Interdependenzen von Insassen und Anstaltspersonal, kurz: eine unordentliche Praxis störten immer wieder die in den obrigkeitlichen Entwürfen einer Welt der Ordnung aufgestellten Muster.“ (S. 147) Die Institution erwies sich nach außen als durchlässig (S. 148ff.), das Personal - aus verschiedenen Gründen - als „Achillesferse“ (S. 151ff.). Es gab „Frei-Räume“ für Insassen wie für das Personal (S. 157ff.). Auch fehlte es nicht an Beschwerden von Angehörigen über unzureichende Haftbedingungen. Dass im Zuchthaus Waldheim - nicht zuletzt wegen der dort vorherrschenden Verhältnisse - zeitweilig hohe Todesraten zu verzeichnen waren, bereitete auch der Verwaltung schon wegen des Rufes der Anstalt Probleme (S. 161ff.).

 

Im dritten Teil treten erneut die Verflechtungen und Wechselbeziehungen des Zuchthauses mit den Entwicklungen in Staat und Gesellschaft, aber auch die Binnenstruktur der Institution und das Erleben in Haft ins Blickfeld (S. 169-270). Der siebenjährige Krieg zog aufgrund der Zerrüttung der Staatsfinanzen und der wirtschaftlichen Verarmung der Bevölkerung auch die sächsischen Anstalten in Mitleidenschaft. Zwar nahm man nach dem Krieg alsbald den Wiederaufbau in Angriff, um die Staatsverwaltung zu sanieren und gesellschaftlichen Wohlstand herbeizuführen (S. 170ff.). Doch gerieten die freiheitsentziehenden Einrichtungen nach 1763 infolge des Anstiegs der Insassenzahlen, unzulänglicher Dotierung und Nahrungsmittelmangels in die Krise (S. 173ff.). Zur Entlastung wurden Ausbauten und Neubauten geplant, begegneten jedoch finanziellen Schwierigkeiten und Standortproblemen. In diesem Kontext spielten nicht zuletzt Fragen der inneren, namentlich architektonischen, Ausgestaltung, des „Eigenraums“, eine wesentliche Rolle (S. 182ff.).

 

Immerhin kam es zur Errichtung neuer Zucht- Arbeitshäuser in Torgau (1772) und Zwickau (1775) (S. 176ff.). Staatlich geförderte Manufakturen belebten die sächsische Wirtschaft. Dementsprechend hielten auch Spinnereien in den Anstalten ihren Einzug (S. 188ff.); im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts verfügten alle Einrichtungen - neben anderen Arbeiten (wie etwa Holzraspeln, Bretterschneiden sowie in der Haus- und Landwirtschaft) - über solche Beschäftigungsmöglichkeiten. Freilich gelang es trotz entsprechender Bemühungen nicht, die Arbeitsabläufe rentabel zu gestalten (S. 193ff.). Dem standen namentlich organisatorische Hindernisse, insbesondere die Multifunktionalität der Einrichtung (S. 199), im Wege - obschon mit zunehmender Verweltlichung des Arbeitsbegriffs finanzielle Leistungsanreize gesetzt wurden (S. 205 f.). Damit scheiterten auch alle Pläne, die Anstalten mit dem Arbeitsertrag der Insassen zu finanzieren (S. 197).

 

Ein wiederkehrendes Problem gipfelte - ungeachtet aller Unzulänglichkeiten der Unterbringung und Behandlung - in der keineswegs in polemischer Absicht aufgeworfenen Frage, ob es den Insassen eines Zuchthauses nicht zu gut gehe (S. 200ff.). Anlass dazu gaben zum einen die ärmlichen Lebensbedingungen der vielfach von Not und Elend heimgesuchten unteren Volksschichten und die - nicht selten dadurch genährte - Befürchtung, dass Freiheitsstrafen ihren Abschreckungscharakter verlieren könnten. Zumal die Prügelstrafe keineswegs nur im Zuchthaus - etwa in Gestalt des berüchtigten „Willkomm und Abschied“ und bei Disziplinarvergehen - gängige Praxis, sondern auch - dem frühmodernen Sozialmodell entsprechend - gesellschaftlich anerkannt und (z. B. Soldaten, Kindern, Schülern, Knechten und Gesellen gegenüber) üblich war (S. 203). Gleichwohl konnte wegen der Haftbedingungen schwerlich die Rede davon sein, dass die Inhaftierung von den Insassen als „Wohltat“ empfunden wurde (S. 204).

 

Die sächsischen Anstalten waren dank ihres multifunktionalen Charakters nicht zuletzt Ausdruck der Verzahnung von Policeyrecht und Strafrecht. Die Vermischung von Wohlfahrtspflege, „guter Ordnung“ und Kriminalrecht spiegelten die verschiedenen Insassenkategorien wider (S. 208ff.). Dabei trug die Policeygesetzgebung entscheidend zur Ausbildung eines differenzierten Sanktionensystems bei. Die Zuchthausstrafe figurierte wegen der Zwangsarbeit sowie „Willkomm und Abschied“ zunächst als Leibesstrafe (S. 211) Dazu zählte auch die Festungsbaustrafe, die in öffentlicher Zwangsarbeit in militärischen Festungsanlagen bestand (S. 212ff.). Die öffentlichen Zwangsarbeitsstrafen stellten in Form der „poena extraordinaria“ eine gewichtige Neuerung im Sanktionensystem der frühen Neuzeit dar (S. 221). Erst um 1800 wurden die öffentliche Strafarbeit sowie die Gefängnis- und Zuchthausstrafen unter dem Obergriff „Freiheitsstrafen“ zusammengefasst. Einen Unterfall bildete auch die relativ wenig praktizierte Festungsstrafe, die für straffällig gewordene oder in Ungnade gefallene Angehörige der höheren Stände vorgesehen war und in kurfürstlichen Burgen und Festungen vollzogen wurde (S. 215ff.). Sie unterschied sich in ihrer praktischen Ausgestaltung jedoch wesentlich von den übrigen Freiheitsstrafen.

 

Die Entwicklung der Strafsanktionen wurde nicht zuletzt durch Strafrechtsreformen im Gefolge der Aufklärung vorangetrieben und beeinflusst (S. 227ff.). Freilich strebten die maßgeblichen Strafrechtsphilosophen primär nicht eine „Humanisierung des Strafens, sondern eine Steigerung seiner Effizienz“ an, die vor allem Abschreckung zum Ziele hatte (S. 228). Dabei spielten nicht zuletzt - etwa was die Beschäftigung von Insassen anlangt - ökonomische, insbesondere fiskalische Gesichtspunkte eine Rolle. Im Zuge religiös inspirierter Reformvorstellungen kritisierte z. B. Heinrich Balthasar Wagnitz nicht nur (im Gefolge John Howards) den desolaten Zustand vieler Anstalten - wovon er allerdings die sächsischen ausnahm -, sondern trat auch unter dem Vorzeichen der moralischen Besserung für die Gestaltung des Zuchthauses als „Erziehungsinstitution“ ein (S. 234ff.). Darüber, wie die Haft im Zuchthaus erlebt wurde, gibt ein die Leiden und Selbstbehauptung veranschaulichender autobiographischer Bericht eines wegen Blasphemie zu vierjährigem Freiheitsentzug Verurteilten Auskunft (S. 253-270).

 

Der vierte Teil der Studie gilt der allmählichen Entstehung der Strafanstalt (S. 271-402). Dieser Prozess wird durch eine wachsende Ausdifferenzierung sächsischer Anstalten, die den verschiedenen Zwecken der Unterbringung (etwa von Waisen, Kranken, Bettlern und Straftätern) dienen sollte, eingeleitet. Er mündete in „die Auflösung des ‚gemeinsamen Hauses’“ (S. 271ff.). Dazu trug einmal mehr die Kritik am vermeintlichen „Wohlergehen“ der Zuchthausgefangenen bei (S. 279ff.). Überschattet war die Entwicklung um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert freilich durch unterschiedliche Konzepte, die teils die Abschreckung, teils die Besserung von Straftätern als Aufgabe des Zuchthauses favorisierten - und damit auch die Frage nach der Besserungsfähigkeit aufwarfen (S. 283ff.). Negativ auf die Entwicklung wirkten sich in der Folgezeit die napoleonischen Kriege und verlorenen Schlachten (1806 und 1813) sowie die Landesteilung aus (S. 289ff.). Die Festungsbaustrafe wurde abgeschafft (S. 293ff.). Für eine durchgreifende Gefängnisreform fehlte das Geld; auch bedurfte es neuer Überlegungen für die Ausgestaltung verschiedener Anstalten (S. 295ff.). „Abschreckung durch Arbeit“ kristallisierte sich als dominierendes Ziel für Zuchthausgefangene heraus, nachdem Züchtigungen und physisches Leiden sich als untaugliche Mittel erwiesen hatten (S. 298ff.). 1824 fand die englische Erfindung der Tretmühle Eingang in Zwickau und Dresden, trug sie doch dem Arbeitsmangel Rechnung und ließ sie sich doch besonders abschreckend gestalten (S. 304).

 

Zwischen 1800 und 1822 sanken die Insassenzahlen der sächsischen Zucht- und Arbeitshäuser, um dann danach schwankende Werte aufzuweisen. Über die Insassenstruktur (vor allem über soziale Schichtung, Geschlecht und, Einlieferungsgründe) des Waldheimer Zuchthauses in der Zeit von 1807 bis 1810 informieren Einlieferungsverzeichnisse (S. 308). Danach waren Krankheiten und Eigentumsdelikte die wichtigsten Gründe für eine Einweisung. „95 % der als Arme eingelieferten Insassen waren aus Krankheitsgründen in die Anstalt gekommen“. 80 % der Züchtlinge verbüßten Strafen wegen Eigentumsdelikten; in der Hauptsache rekrutierten sie sich aus jungen Dieben (S. 312). Gewaltdelikte waren mit sechs % deutlich in der Minderzahl. Die Feier zum 100-jährigen Bestehen Waldheims veranlasste den damaligen Hausarzt zu einer Dokumentation der Insassenentwicklung in diesem Zeitraum. Sie weist für beide Geschlechter ein deutliches Überwiegen von Krankheit und Eigentumskriminalität als Einlieferungsgründe aus (S. 319).

 

Das Zuchthaus wurde schon seiner Insassen wegen um 1800 in der Gesellschaft weitgehend kritisch beurteilt (S. 320ff.). Es figurierte vielfach als subkulturelle Gegenwelt, als eine zur Nachahmung reizende „Schule des Verbrechens“. Bretschneider hat sich anhand der verfügbaren Quellen - die insoweit fast ausschließlich aus Verwaltungsakten bestehen - darum bemüht, ein Bild vom Innenleben zu gewinnen und zu vermitteln. Es sind im Wesentlichen administrativ dokumentierte Normverletzungen (wie z. B. Schwangerschaften, Fluchtfälle, Durchstechereien, Vergewaltigungen, Diebstähle, Unterschlagungen, Schlägereien, Widersetzlichkeiten bis hin zu Aufständen) und andere Vorgänge (wie z. B. Suizide, Fehlverhalten von Zuchtmeistern) sowie Strukturdefizite der Anstalt (etwa räumlicher Art oder Überforderungen des Personals), auf die sich die Rekonstruktion gestützt hat.

 

Schon in räumlicher Hinsicht boten die sächsischen Zuchthäuser jener Zeit vielfältige Nischen für unerlaubte Kontakte (zwischen den Geschlechtern - bis hin zum Geschlechtsverkehr) - in die auch Angehörige des Personals (z. B. Dienstmägde) involviert sein konnten - und Gelegenheiten für verbotene Geschäfte (S. 325ff.). Solche Verhaltensweisen spiegelten vielfach Abhängigkeiten und soziale Ungleichheit wider (S. 333ff.). Sexualbeziehungen wie materielle Transaktionen waren Ausdruck der in den Anstalten herrschenden Verflechtungen, die sich keineswegs nur auf Insassen beschränkten, sondern auch das Hauspersonal einbezogen. „Zuchthäuser waren belebte Markplätze des Austauschs.“ (S. 341). „Dass Hausverwalter zur Verhinderung von Fluchten und zur Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin in den Anstalten auf die Dienste von Insassen zurückgriffen, ist auch ein Hinweis auf die Insuffizienz des Anstaltspersonals, das sich in vielerlei Hinsicht als ein schwaches Scharnier von Herrschaft erwies.“ (S. 345) Oft waren Zuchtmeister - die ja in der Hierarchie der Anstalt den Züchtlingen am nächsten standen - aufgrund schlechter Gesundheit und fortgeschrittenen Alters den Anforderungen nicht gewachsen (S. 350). Dass trotz dieser Defizite - die letztlich in einer „unzureichenden Überwachung“ gipfelten (S. 357) - überhaupt von Ordnung in den damaligen Anstalten gesprochen wurde, wird man zumindest mit Vorbehalten versehen müssen (S. 358ff.). In Grenzen mögen gewisse Arrangements mit dem Personal und Angst vor Bestrafungen zu einem Wohlverhalten von Insassen beigetragen haben (S. 359). Statistiken über Fluchtfälle zeigen, in welchem Maße sich Gefangene der Strafvollstreckung zu entziehen suchten (S. 362ff.). Ebenso ist an „Gewalt gegen sich selbst und Gewalt gegen andere“ - in Form von Selbstmorden, Widersetzlichkeiten und Aufständen - abzulesen, dass Insassen die Haft nicht länger ertragen mochten oder konnten (S. 377ff.). Wenn auch vorher Anzeichen für Rebellionen in den Quellen nicht zu finden waren, so dokumentieren diese immerhin drei Aufstände in den Jahren 1787, 1804 und 1825 (S. 386; zur Revolte von 1825 in Zwickau, der eine Petition der Gefangenen vorausgegangen war, S. 390-402).

 

Im fünften und letzten Teil befasst sich Bretschneider mit den Auswirkungen staatlicher Reformen im Vormärz und den Rückschlägen der Reaktionszeit nach 1848 sowie den Ansätzen zur „Verwissenschaftlichung“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die weitere Entwicklung des Strafvollzugs (S. 403-521). Die Reformphase war durch Widersprüche zwischen liberalem Strafrechtsideen und ständischem Abschreckungsdenken gekennzeichnet. Charakteristisch dafür war etwa das sächsische Kriminalgesetzbuch von 1838. Zwar schaffte es die körperliche Züchtigung als eigenständige Strafe ab, behielt sie aber als Disziplinarmittel in den Anstalten bei (S. 406). Die Freiheitsstrafen bestanden nunmehr in der entehrenden, mit schwerer Arbeit verbundenen Zuchthausstrafe, der nicht entehrenden, mit strenger Arbeit verknüpften Arbeitshausstrafe und der Gefängnisstrafe, die sich in bloßem Freiheitsentzug erschöpfte (S. 408).

 

In der liberalen Presse - die weitgehend die Idee der Besserung favorisierte - wurde der zeitgenössische Strafvollzug unter freilich verschiedenen Vorzeichen und keineswegs immer kenntnisreich kritisiert (S. 408ff.). Für Reformen im Sinne des Besserungsgedankens setzte sich seit 1831 namentlich Minister Lindenau ein (S. 412ff.). Er trug auch zur Gründung eines sächsischen Straffälligenhilfevereins im Jahre 1836 bei, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, Strafentlassene - nicht zuletzt zum Schutz der Allgemeinheit (vor dem Rückfall) - dem verhängnisvollen „Kreislauf von Verbrechen und Strafe“ zu entreißen. In dieser christlich-philanthropischen Sicht des Kriminellen, die für das liberale Bürgertum charakteristisch war, paarten sich humanitäre Absichten und gesellschaftliche Sicherheitsinteressen (S. 415).

 

Auch in Sachsen hielt natürlich der internationale Streit über das „richtige“ Gefängnissystem Einzug (S. 418ff.). Zwar kam das System strenger Einzelhaft nicht nur dem tradierten Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft entgegen und fand auch in etlichen in- und ausländischen Reformbestrebungen seinen Niederschlag. Doch hielt sich das Königreich in der Auseinandersetzung um die Haftsysteme - wie andere Staaten des Deutschen Bundes - zurück. Zu der verschiedentlich favorisierten Einführung der Einzelhaft konnte es sich aus verschiedenen, nicht zuletzt fiskalischen Gründen nicht entschließen. Der vielfältige wissenschaftliche und vollzugspraktische Diskurs mündete in Sachsen in eine Art „Mischsystem“ (S. 427).

 

Ohnehin trat in der weiteren Entwicklung die Frage nach dem Behandlungskonzept an die Stelle des weitgehend festgefahrenen Systemstreits (S. 427). Dabei spielte auch das „Problem einer Trennung der Anstaltsinsassen nach moralischen Kriterien“ (S. 429) - nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der „Ansteckungsgefahr“ für jüngere Inhaftierte (S. 432) - eine gewichtige Rolle. Wie schon früher kennzeichneten Strafschärfungen für Zuchthausgefangene den Vollzug. Sie setzten - etwa in Gestalt überaus harter Disziplinarstrafen (z. B. Prügelstrafen, Dunkelarrest, Kurz- und Krummschließen mit Ketten), stigmatisierender Kleidung und schwerer Arbeit - vor allem am Körper des Verurteilten an (S. 434ff.). Das mochte vorherrschenden religiösen und liberalen Vorstellungen zuwiderlaufen. Doch spiegelte sich darin zugleich die offene Verachtung der sozialen Unterschicht (S. 440). Im Bürgertum des Vormärz hatte neben dem „Mitgefühl für den gestrauchelten Mitbürger“ auch „die Angst vor einer Durchbrechung der sozialen Ordnung“ ihren Platz (S. 441). Mit dem Mittel körperlicher Gewalt suchten die Anstalten in vielfältiger Weise die Insassen zu disziplinieren (S. 442ff.). Das namentlich von Lindenau verfolgte Ziel, die sächsischen Zucht- und Arbeitshäuser - auch im Interesse einer Humanisierung - in Besserungsanstalten umzuwandeln, wurde letztlich nicht erreicht (S. 451ff.).

 

Die Reaktionszeit, die nach dem Scheitern der Märzrevolution einsetzte, charakterisierte zum einen die Verfolgung und Inhaftierung bürgerlicher Demokraten und Linksliberaler (S. 455ff.), zum anderen die Schaffung eines reaktionären Strafgesetzbuchs (1855), das nunmehr wiedererwachte Tendenzen der Überwachung und Repression zum Ausdruck brachte (S. 458ff.). Strafschärfungen wurden in die Hand der Anstalten gelegt. Bestrebungen, die immer wieder kritisierte Prügelstrafe abzuschaffen, blieben erfolglos. Autobiographische Werke von Hermann Theodor Oelckers (1860) und Karl August Röckel (1865), die wegen ihrer demokratischen Aktivitäten in Waldheim inhaftiert waren, vermitteln kritische Einblicke in die damaligen Anstaltsverhältnisse; sie spiegeln freilich angesichts der bildungsbürgerlichen Orientierung ihrer Verfasser keineswegs das Erleben der Insassenmehrheit wider (S. 464ff., 471ff.).

 

Bemühungen um „Verwissenschaftlichung“ des Strafvollzugs trugen dazu bei, dass an Reformgedanken der Jahrhundertwende, die sich die soziale Eingliederung des Straffälligen zum Ziele gesetzt hatten, wieder angeknüpft werden konnte. „Wichtigstes Kennzeichen der Änderungen, die die institutionelle Praxis des Strafens in der post-revolutionären Ära erleben sollte, war ein Einsickern medizinisch grundierter Behandlungskonzepte in den Strafvollzug.“ (S. 491) Eugène d’Alinge etwa - seit 1850 Direktor des Männerarbeitshauses Zwickau - führte dort 1855 den Stufenstrafvollzug ein. „Klinisches Wissen“, das namentlich dem „Seelenleben“ der Gefangenen galt und darum zu deren Beobachtung anhalten sollte, fand Eingang in die institutionelle Praxis. Es gebar freilich nicht zuletzt „sozialpädagogische Allmachtsträume“, die in der Wirklichkeit des Anstaltslebens rasch an ihre Grenzen stoßen sollten. „D’Alinges Idee einer ‚Gefängnis-Klinik’ gehörte in jene lange Liste von Phantasien totaler Sozialplanung durch Wissen, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat.“ (S. 505) Subjektive, freilich literarisch stilisierte Zeugnisse vom Hafterleben in Zwickau (1865-1869) (und auch im Zuchthaus Waldheim von 1870-1874) hat Karl May in seiner 1916 postum veröffentlichten Autobiographie „Ich“ geliefert (S. 515ff.). Bretschneider merkt hierzu abschließend an: „Der individualisierende, auf Seelenlenkung und wissenschaftlich-rationale Behandlung der Insassen abzielende Besserungsstrafvollzug eines d’Alinge jedenfalls ging zumindest dem Waldheimer Aufsichtspersonal ganz offensichtlich ab.“ (S. 521)

 

Es ist ein überaus vielfältiges und weitläufiges geschichtliches Panorama, das der Verfasser von der Entstehung und Entwicklung freiheitsentziehender Einrichtungen in Sachsen entwirft. Die Strukturen dieser Institutionen und die Prozesse, die in ihnen stattfinden, werden - soweit es die Quellenlage zulässt - in ebenso differenzierter wie detaillierter Weise rekonstruiert, mit Daten belegt und interpretiert. Davon zeugt auch ein umfangreicher Anhang (S. 541-614). Er wartet mit einer ganzen Reihe von Übersichten, Grafiken und Bildtafeln, einem Quellennachweis der Abbildungen, einem Verzeichnis von Grafik und Tabellen im Text sowie einem Quellenverzeichnis und einer - umfassenden - Bibliographie der zeitgenössischen Literatur und der Sekundärliteratur (ab 1871) auf.

 

Die Problematik des vom Verfasser zugrunde gelegten Ansatzes liegt offensichtlich darin, dass es komplexer und komplizierter erscheint als die vergleichsweise einfacheren Konzepte Goffmans und Foucaults. Die Konzepte der „totalen Institution“ und der „Disziplinargesellschaft“ vermitteln relativ leicht nachvollziehbare Bilder von den Strukturen des Gefängnisses und den in ihm ablaufenden sozialen Prozessen. Das mag auch zu ihrer eindrucksvollen Rezeptionsgeschichte beigetragen haben. Demgegenüber erweist sich das von Bretschneider entworfene Bild der „gefangenen Gesellschaft“ als ungleich differenzierter und auf Anhieb nicht in gleicher Weise überschaubar. Es verlangt dem Betrachter ungeachtet asymmetrischer Machtverhältnisse ein deutlich stärkeres Verständnis für soziale Differenzierungen und Wechselbeziehungen hinsichtlich der Ausübung von Zwang und Herrschaft und des Verhaltens der Akteure - des Personals wie der Insassen - ab. Indessen sprechen die vom Verfasser herangezogenen Erkenntnisse vom sozialen Zusammenleben, wie sie von der neueren Forschung entwickelt worden sind, dafür, dass seine Sichtweise sich durch größere Wirklichkeitsnähe auszeichnet, der Gefängnisgesellschaft jener Epochen genauere Konturen verleiht.

 

Natürlich bleiben auch in diesem Forschungsansatz Leerstellen. Sie haben freilich ihre Ursache vor allem in den bekannten Problemen historischer Rekonstruktion - etwa in der Unvollständigkeit und begrenzten Aussagekraft geschichtlicher Quellen. Noch am ehesten ist aus gedruckten Unterlagen und amtlichen Akten etwas über Zustände - nicht zuletzt Missstände - und Entwicklungen in den Einrichtungen zu erfahren. Solchen Dokumenten liegen indessen vielfach administrative Fragestellungen, Schwerpunktsetzungen und vor allem Selbstinterpretationen zugrunde, die - wie Bretschneider denn auch näher darlegt - die Wirklichkeit keineswegs objektiv wiedergegeben, sondern verschiedentlich verzerrt haben. Selbst mehr oder minder sorgfältig geführte Statistiken - die von ihm in reicher Zahl ausgewertet wurden - können schon wegen ihrer Beschränkung auf bestimmte Themen in ihrem Aussagewert begrenzt sein. Von Autobiographien und anderen Dokumenten - wie z. B. Briefen - abgesehen liegen insgesamt nur wenige Selbstzeugnisse von Insassen vor. Dementsprechend dominieren im Quellenmaterial weitgehend offizielle (Selbst-)Darstellungen, die natürlich weitgehend auf normative Vorgaben und amtliche Erwartungen zugeschnitten sind. Das alles schmälert zwar die Datenbasis, beeinträchtigt jedoch beileibe nicht den methodischen Ansatz des Verfassers und seine ebenso subtile wie profunde Interpretation der geschichtlichen Befunde.

 

Saarbrücken                                                               Heinz Müller-Dietz