Voss, Laurenz, Die Verkehrspflichten. Eine dogmatisch-historische Legitimierung (= Schriften zum bürgerlichen Recht 363). Duncker & Humblot, Berlin 2007. 250 S. Besprochen von Gerhard Köbler.

 

Die Arbeit ist die von Franz Dorn betreute, während der Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter entstandene, im Wintersemester 2006/2007 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Trier angenommene Dissertation des Verfassers. Sie gliedert sich außer in Einleitung und Gesamtergebnis in zwei Hauptteile. Dabei geht etwas überraschend die Haftung aus der Verletzung von Verkehrspflichten unter dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) dem römischen Recht voraus, obwohl bei rechtsgeschichtlichen Untersuchungen die chronologische Abfolge naheliegt.

 

In der kurzen Einleitung rechtfertigt der Verfasser seinen Aufbau im Rahmen eines knappen Überblicks über den bisherigen Meinungsstand zu den Verkehrspflichten. Gegen die Verkehrspflichten werde zum einen ins Feld geführt, sie seien nicht mit dem gesetzgeberischen Widerrechtlichkeitskonzept vereinbar, weil durch die Verkehrspflichten die Haftungsbegründung von einer besonderen Verletzung einer Verhaltenspflicht abhängig gemacht werde. Zum anderen werde der Vorwurf erhoben, das Ausmaß der heutigen Haftung für mittelbare Schäden stehe im Widerspruch zur geschichtlichen Entwicklung des Haftungsrechts, das bereits in der römischen lex Aquilia grundsätzlich nur eine Haftung für unmittelbare Schädigungshandlungen gekannt und die Zurechnung mittelbar schädigenden Verhaltens als Ausnahme behandelt habe.

 

Die Haftung aus der Verletzung von Verkehrspflichten unter dem BGB beginnt der Verfasser mit der Widerrechtlichkeit und dem Verschulden im außervertraglichen Haftungssystem des BGB. Danach stellt er die Etablierung der Verkehrspflichten in § 823 I durch die Rechtsprechung dar, die mit den Entscheidungen RGZ 52, 373 (1902) und RGZ 54, 53 (1903, Pflichten zur Verkehrssicherung) beginnt. Seitdem ist jeder, der durch die Eröffnung eines Verkehrs auf seinem Grundstück, durch die Teilnahme am Verkehr oder auf andere Weise eine Gefahrenquelle schafft, verpflichtet, diejenigen Vorkehrungen zu treffen, die zur Abwendung der daraus Dritten drohenden Gefahren notwendig sind, wobei seit 1921 die Verkehrspflicht als übergeordneter Begriff zur Verkehrssicherungspflicht behandelt wird (RGZ 102, 372).

 

In der Folge entwickelt der Verfasser einen eigenen Ansatz. Da bislang konkrete Beispiele für Fehlentscheidungen im Bereich der Verkehrspflichtenrechtsprechung nicht vorgebracht worden seien, sei die These nicht zu halten, die Verkehrspflichten seien mit der Dogmatik des § 823 I nicht zu vereinbaren und dienten zur gerechten Schadenszuweisung. Die Verkehrspflichtenrechtsprechung brauche nicht aus Gerechtigkeitsüberlegungen gerechtfertigt zu werden, weil sie sich nach Ansicht des Verfassers bereits aus der durch den Gesetzgeber vorgegebenen Dogmatik des § 823 I rechtfertige.

 

Im zweiten Teil soll nach den Worten des Verfassers der vorherrschenden Theorie von der Illegitimität der Verkehrspflichten das zweite, historische Argument entzogen werden. Dazu untersucht der Verfasser nach einer kurzen Einleitung den wirtschaftsgeschichtlichen Hintergrund der zunehmenden Bedeutung mittelbarer Schädigungshandlungen in Rom, das Unmittelbarkeitsprinzip der actio directa, die Erweiterungen durch Auslegung, die actiones utiles oder in factum für mittelbare Schädigungen und die iniuria und culpa in der lex Aquilia. Dabei gelangt er zu dem Ergebnis, dass sowohl im Hinblick auf die Behandlung mittelbarer Schädigungsfälle als auch hinsichtlich der Ausgestaltung des culpa-Prinzips durch die römischen Juristen dieses Tatbestandsmerkmal nicht notwendigerweise eine persönliche Vorwerfbarkeit des eingetretenen Schadens voraussetzte, sondern auch zur Berücksichtigung der Aspekte der Gefahrschaffung und Gefahrbeherrschung diente und den Verkehr schützte, so dass sich die axiomatische Stellung, die dem Verschuldensgrundsatz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Berufung auf das römische Haftungsrecht eingeräumt wurde, mithin aus den Quellen nicht bestätigen lasse.

 

Im Literaturverzeichnis hätte man vielleicht beispielsweise auch Coing, Floßmann oder Mitteils/Lieberich erwarten können. Insgesamt aber bietet der Verfasser eine eigenständige, anerkennenswerte Leistung. Dass in der Wirklichkeit Entwicklungen nicht nur an geschichtlichen Vorgaben ausgerichtet wurden, sondern vielfach auch Gerechtigkeitsüberlegungen des Einzelfalls von Bedeutung sein konnten, wird man freilich immer und überall hinnehmen müssen und können.

 

Innsbruck                                                                                                                  Gerhard Köbler