Vogl, Stefan, Soziale Gesetzgebungspolitik, freie Rechtsfindung und soziologische Rechtswissenschaft bei Eugen Ehrlich (= Fundamenta juridica 46). Nomos, Baden-Baden 2003. 396 S. Besprochen von Gerhard Köbler.
Die Arbeit ist die in der Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts von Sten Gagnér angeregte, von Joachim Rückert betreute, im Wintersemester 2001/2002 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Frankfurt am Main angenommene Dissertation des Verfassers. Der Herausgeber wurde durch einen Kollegen auf ein Interesse eines Strafrechtstheoretikers an der Untersuchung aufmerksam gemacht, so dass er ein Besprechungsexemplar erwarb, obwohl der Verlag das Werk als vergriffen meldete. Da das Interesse des Interessierten bislang keine Frucht getragen hat, muss der Herausgeber die Studie mit einigen Sätzen selbst anzeigen.
Der Verfasser geht von der Vorstellung aus, dass Freirechtslehre und Rechtssoziologie bis heute der Politisierung bzw. Soziologisierung des Rechts verdächtigt werden. Deswegen untersucht er diesen oft pauschal geäußerten Vorwurf im Lichte der konkreten politischen und rechtspolitischen Positionen Eugen Ehrlichs. Auf dieser Grundlage will er Ehrlichs Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion im Spannungsfeld von juristischer Dogmatik und soziologischer Theorie aufzeigen.
In seiner Einleitung beginnt der Verfasser mit der in Franz Wieacker beispielhaft personifizierten Skepsis der Rechtswissenschaft gegenüber Ehrlich. Danach schildert er innerhalb seines theoretischen Bezugsrahmens Forschungsstand, Problembereiche, Quellenlage und Methode. Ziemlich ausführlich stellt er Ehrlichs Leben vor dem Hintergrund zeitgenössischer Politik mit dem Ergebnis dreier werkrelevanter Lebensabschnitte dar.
Danach verfolgt er Ehrlichs Werk im Spiegel der zeitgenössischen Kritik. Dabei unterscheidet er Wiener Zeit (1881-1896), Czernowitzer Zeit (1896-1914) und Kriegs- und Nachkriegszeit (1914-1922). Im Ergebnis stellt er zweifelhafte Erkenntnisfortschritte und unnötige Stagnation fest.
Es folgt ein systematischer Werküberblick von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik über Rechtspolitik, Rechtsdogmatik und juristische Methodenlehre bis zu Rechtstheorie und Rechtswissenschaft, wobei im Ergebnis Anhaltspunkte für Politisierung bzw. Soziologisierung ermittelt werden. Bei der politischen Standortbestimmung an Hand der sozialen Frage sieht der Verfasser Ehrlich als Vertreter linksbürgerlicher Kultur. Die gesetzgebungspolitische Standortbestimmung führt zu sozialer Gesetzgebungspolitik als marktwirtschaftlichem Steuerungsinstrument.
Hinsichtlich der Richterbindung in Ehrlichs Freirechtslehre ordnet der Verfasser die Freirechtslehre als kombinierte Rechtsanwendungs- und Rechtsschöpfungsmethode auf der Grundlage von Eigentumsfreiheit und Vertragsfreiheit ein. In Vertiefung dieser Bestimmung sieht er auf rechtspolitischer Ebene eine sozialpolitische Einschränkung der Freiheit, auf rechtsdogmatischer Ebene eine affirmative Instrumentalisierung und auf rechtswissenschaftlicher Ebene einen fiktiven Charakter. Dementsprechend ermittelt ereinen spezifisch juristischen Gehalt der Eigentums- und Vertragsfreiheit jenseits von bloßer Politik und Faktizität.
Zusammenfassend erkennt er Ehrlich als weder unpolitisch noch politisch naiv, als weder konservativ noch liberal noch deutschnational, sondern als linksbürgerlich. Gesetzgebungspolitisch ist Ehrlich weder rückständig noch gesetzgebungsfeindlich, sondern auf der Suche nach wissenschaftlicher Fundierung. Insgesamt kommt die sorgfältige, abwägende, die Ehrlichforschung vielfach bereichernde Untersuchung zu dem Schluss, dass Ehrlichs soziologische Rechtswissenschaft die Jurisprudenz nicht auf dogmatischer Ebene, wohl aber auf theoretische Ebene ersetzen sollte.
Innsbruck Gerhard Köbler