Usus modernus pandectarum. Römisches Recht, deutsches Recht und Naturrecht in der frühen Neuzeit. Klaus Luig zum 70. Geburtstag, hg. v. Haferkamp, Hans-Peter/Repgen, Tilman (= Rechtsgeschichtliche Schriften 24). Böhlau, Köln 2007. 339 S., 10 Abb. Besprochen von Gunter Wesener.
Aus Anlass des 70. Geburtstages Klaus Luigs wurde ein Symposium zum Forschungsbereich „Usus modernus pandectarum – Römisches Recht, Deutsches Recht und Naturrecht in der frühen Neuzeit“ veranstaltet. Dreizehn Beiträge finden sich im vorliegenden Sammelband. Im Zentrum der Untersuchungen stehen Rechtsquellen und Rechtswissenschaft des 16. bis 18. Jahrhunderts, aber auch noch Ausblicke in das 19. Jahrhundert.
Barbara Dölemeyer befasst sich in ihrem Beitrag (S. 1-23) mit „Ideen für ein National-Gesetzbuch am Ende des Alten Reichs“. Johann Friedrich Reitemeier (1755-1839), der vor allem von den preußischen Gesetzgebungsarbeiten ausging, erwog die Schaffung eines „Allgemeinen deutschen Gesetzbuches“. Carl Theodor von Dalberg, seit 1787 Coadjutor des Erzbischofs von Mainz, seit 1802 Erzbischof von Mainz, plante eine Reichsreform durch eine umfassende Rechtsreform (S. 8ff.).
Hans-Peter Haferkamp behandelt „die Bedeutung von Rezeptionsdeutungen für die Rechtsquellenlehre zwischen 1800 und 1850“ (S. 25-44). Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 wurde der Geltungsgrund des römisch-gemeinen Rechts in Frage gestellt (S. 29). Puchta betrachtete die Wissenschaft als „die einzige Rechtsquelle für das neuere römische Recht“ (S. 32). Haferkamp (S. 33) hält zu Recht vor allem die Frage für entscheidend, was vom römischen Recht noch anwendbar war. Burkhard Wilhelm Leist stellte 1854 fest, dass man bei einer gewohnheitsrechtlichen Geltung des gemeinen Rechts dasselbe als einen „im einzelnen nachweisbare[n] und nachzuweisende[n] Complex von Rechtsinstituten“ betrachten müsse (S. 40). Nach Puchtas Lehre stand die Richtigkeit eines Satzes auch beim Gewohnheitsrecht über der bloßen Übung desselben (S. 41).
Norbert Horns Beitrag (S. 45-62) hat den „Utilitarismus im aufgeklärten Naturrecht von Thomasius und Wolff“ zum Gegenstand. Historische und aktuelle Aspekte werden aufgezeigt. Die Frage nach Nutzen und Glück im aufgeklärten Naturrecht hat ihre philosophische Grundlage in der seit Jeremias Bentham als Utilitarismus bekannten Ethik, die aber schon in der Philosophie von Thomas Hobbes, John Locke und David Hume zu finden ist (S. 48ff.). Bei Christian Thomasius wird das Privatrecht als „rechtlich geschützter Freiheitsraum“ gesehen (S. 52f.). Christian Wolff betrachtet das Privatrecht als Pflichtenlehre (S. 54f.); der Verfasser spricht von einer „Vertragsethik der Nutzenmaximierung“. Im Folgenden (S. 55ff.) werden die Fortwirkungen der utilitaristischen Sozialethik erörtert.
Einen instruktiven Beitrag zur Geschichte des Deutschen Privatrechts in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bietet Diethelm Klippel (S. 63-74). Der Verfasser (S. 65f.) nimmt Bezug auf die grundlegende Untersuchung Klaus Luigs aus dem Jahre 1967 über „Die Anfänge der Wissenschaft vom deutschen Privatrecht“ (in: Ius Commune 1, 1967, S.195-222)[1]. Klippel (S. 67ff.) geht zunächst auf das Werk von Johann Georg Estor (1699-1773), Professor an den Universitäten Gießen, Jena und Marburg, ein. In seinem dreibändigen Werk „Bürgerliche Rechtsgelehrsamkeit der Teutschen“ (erschienen 1757-1767) wollte Estor eine umfassende Darstellung des im Alten Reich geltenden Privatrechts geben, mit Ausnahme des römischen und des kanonischen Rechts (S. 68). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestand bereits Einigkeit darüber, dass das Ius Germanicum privatum anhand einheimischer Rechtsquellen darzustellen sei (S. 69). Das deutsche Privatrecht als Teil der Rechtsgelehrsamkeit befasste sich vor allem mit den zahlreichen partikularrechtlichen Regelungen einschließlich Reichs- und Landesgesetzen (S. 73). Allmählich begann man auch im Universitätsunterricht das heimische Recht, die Provinzialrechte, das deutsche Privatrecht zu berücksichtigen[2].
Unter dem Titel „Der Wettlauf der Okkupanten“ (S. 75–107) behandelt Rolf Knütel eine Reihe von Rechtsfällen, in denen es um das Konkurrenzproblem bei einer Okkupation geht. Er spannt einen weiten Bogen vom griechischen und römischen Recht über naturrechtliche Lösungen (ALR) bis zum „Grönländischen“ und „Amerikanischen Recht“. Hervorgehoben werden die beachtlichen Ausführungen Augustin von Leysers zur Aneignung, occupatio, im Specimen 439 seiner Meditationes ad Pandectas (S. 75ff.).
Mit „Theorie und Praxis der Rechtsquellen bei Johann Stephan Pütter“ befasst sich der Beitrag (S. 109-129) Heinz Mohnhaupts. In seiner „Juristischen Encyclopädie und Methodologie“ (2. Auflage 1767) bemühte sich Pütter um eine „Ordnung“ des Rechtsstoffs, um eine juristische Systematik (S. 113ff.). Zur Feststellung der „heutigen Teutschen Privat-Rechte“ forderte er eine Vergleichung der positiven Rechte als Erkenntnismittel im Hinblick auf die komplizierte Rechtsquellenlage in Deutschland, die durch die „Vermischung“ von römischen, kanonischen und heimischen Quellen gegeben war (S. 118f.). Pütter stellte die Frage nach „Richtschnuren des bürgerlichen Privatrechts“, wenn ein Volk ohne Gesetzbuch lebt. Er griff zurück auf die Grundsätze des Naturrechts sowie auf das Prinzip der Autonomie und die daraus entspringenden Gewohnheitsrechte (S. 124f.).
Andreas Gaill und die „Friedlosigkeit“ ist Gegenstand des Beitrages (S. 131-156) Karin Nehlsen–von Stryks. Die Studie befasst sich mit den Wirkungen der Reichsacht, die Gaill in seiner Schrift „De pace publica, et eius violatoribus, atque proscriptis sive bannitis Imperii“ (Anhang zu Gaills Practicae Observationes) behandelte.
Einen informativen Überblick über Begriff und Bedeutung des „Ius Commune“ gibt Tilman Repgen (S. 157-173).
Die Unterscheidung von „Dienstrecht und Dienste-Recht in der Frühen Neuzeit“ (S. 175-198) wird von Joachim Rückert in kritischer, problembewusster Weise erörtert.
Mit dem „Sonderrecht der Kaufleute bei Johann Marquard“ befasst sich der Beitrag (S. 199-217) Karl Otto Scherners. Von Johann Marquard (1610-1668), Bürgermeister in Lübeck, stammt ein zweibändiges Werk, der „Tractatus politico-juridicus de jure mercatorum et commerciorum singulari“ (Frankfurt 1662), einer der ersten großen Traktate zum Handelsrecht, wo dieses als ius singulare (im Gegensatz zum ius commune), als Sonderrecht eines bestimmten Personenkreises, behandelt wird (S. 202f.). Der Verfasser (S. 200ff.) zeigt, dass der Traktat der Literatur des Usus modernus zuzurechnen ist.
Gegenstand des Beitrages Jan Schröders ist die „Theorie des Gewohnheitsrechts zwischen 1850 und 1930“ (S. 219-244). Schröder erörtert zunächst die Entwicklung der „gesellschaftlichen“ Theorie von der historischen Schule zur Rechts- und Gewohnheitsrechtstheorie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (S. 221ff.), behandelt dann die Probleme, die mit der „staatlichen Rechtsauffassung“ („Gestattungstheorie“) verbunden sind (S. 233ff.) und stellt abschließend die Frage, ob im frühen 20. Jahrhundert eine Gleichsetzung von Gewohnheitsrecht und Richterrecht erfolgte. (S. 239ff.).
In seiner Studie „Corpus Iuris Civilis par coeur“ (S. 245-269) schildert Michael Stolleis anschaulich mnemotechnische Werke und Methoden des Mittelalters und der frühen Neuzeit, welche es den gelehrten Juristen und Examenskandidaten erleichtern sollten, die Gliederung des Corpus Iuris Civilis, aber auch des Corpus Iuris Canonici im Gedächtnis zu speichern. Zwischen 1450 und 1700 sollen etwa 900 Schriften zur Gedächtniskunst erschienen sein (S. 248). Bekannt sind das „Memoriale Juris Civilis Romani ...“ (Hamburg 1673), ein bebildertes Lehrbuch der Pandekten, des Lüneburger Theologen und Pädagogen Johannes Buno (1617-1697) und die erstmals 1695 in Leiden anonym erschienene „Ars Magna“, welche eine Weiterentwicklung des Lehrbuchs Bunos darstellt. Die „Ars Magna“ enthält für jeden der 432 Digestentitel einen kleinen Kupferstich von hoher Qualität. In den Bereich der ars memorativa zählen auch die friesischen Pandektenfliesen („Pandektentegels“), die einen Bildzyklus zum römischen Recht des 17. Jahrhunderts darstellen, zu den fünfzig Büchern der justinianischen Digesten (S. 250)[3]. Der Verfasser bringt weitere Beispiele mnemotechnischer Werke aus dem Bereich der Jurisprudenz (S. 250ff., mit Abbildungen).
Der „Geschichte der Gastwirtshaftung in Deutschland“ (S. 271-339) ist der Beitrag Reinhard Zimmermanns gewidmet. Ausgehend vom receptum nautarum cauponum et stabulariorum des römischen Rechts führt die Untersuchung über die Weiterentwicklung im Usus modernus (S. 280ff.) zur Gastwirtshaftung im 19. Jahrhundert (S. 291ff.) und zur Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900. Die alte Kontroverse über die Rechtsnatur der Haftung bestand fort (S. 317ff.). Der gemeinrechtlichen Lehre des späten 19. Jahrhunderts folgend wurde zunächst noch überwiegend eine vertragliche Basis der Haftung angenommen. Erst mit der Ausbildung einer Schadenshaftung außerhalb der hergebrachten Kategorien von Vertrag und Delikt[4] ging man dazu über, die Gastwirtshaftung als eine Haftung ex lege anzusehen (S. 317f. u. 339).
In ihrer Gesamtheit bieten die Beiträge einen aufschlussreichen Einblick in die Epoche des Usus modernus und des Vernunftrechts.
Graz Gunter Wesener
[1] Nun auch in: K. Luig, Römisches Recht, Naturrecht, nationales Recht (Goldbach 1998) 395*ff.
[2] Für Österreich vgl. G. Wesener, Österreichisches Privatrecht an der Universität Graz (= Geschichte der Rechtswiss. Fakultät der Universität Graz, Teil 4, Graz 2002) 5ff.
[3] Eingehend A. Bauer, Libri Pandectarum. Das römische Recht im Bild des 17. Jahrhunderts, Bd. 1 (Göttingen 2005); dazu G. Wesener, ZRG Germ. Abt. 124 (2007) 527ff.
[4] Dazu nun M. Immenhauser, Das Dogma von Vertrag und Delikt. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der zweigeteilten Haftungsordnung (Köln‑Weimar‑Wien 2006).