Ureña, Enrique M., Die Krause-Rezeption in Deutschland im 19.
Jahrhundert. Frommann-Holzboog, Stuttgart 2006. 392 S. Besprochen von Wolfgang
Forster.
Der Philosoph Karl Christian Friedrich
Krause (1781-1832) ist zu Lebzeiten weitgehend unbekannt geblieben. Seine
Philosophie wurde jedoch ab 1840 in Spanien und später in den
lateinamerikanischen Staaten (vgl. Stoetzer,
O. Carlos, Karl Christian Friedrich Krause and his influence in the Hispanic
World, 1998) äußerst wirkungsmächtig. Dort steht der „Krausismo“ für ein
liberales, aber idealistisch aufgeladenes Politikverständnis unter Betonung des
Harmoniegedankens und der Bildungsidee. Für die Verbreitung krausistischer
Vorstellungen in Pädagogik, Politik und Rechtswesen (vgl. ZRG Germ. Abt. 120
[2003]) besonders bedeutend war die 1876 von einer Gruppe von Professoren, die
durch die 1875 restaurierte spanische Monarchie entlassen worden waren, in
Madrid gegründete „Institución libre de enseñanza“. Die Vorstellung, dass es
sich beim Krausismo um eine veränderte, an die spezifischen Gegebenheiten und
Bedürfnisse Spaniens angepasste und damit verselbständigte Version von Krauses
Gedanken handele, hat seit dem 19. Jahrhundert das Bild von Krauses Einfluss
geprägt. Ureña konnte 1988 durch genauen Textvergleich den Nachweis führen,
dass ein zentraler Text („Ideal de la humanidad para la vida“, 1860) des
Begründers des Krausismo, Julian Sanz del Río (1814-1869) entgegen dessen
eigener Aussage eben keine veränderte Version der Gedanken Krauses, sondern
eine wortgetreue Übersetzung von Aufsätzen Krauses war. Der spanische Krausismo
wurde damit in eine neue Perspektive gesetzt; er muss nunmehr als Rezeption von
Krauses ureigener Philosophie betrachtet werden. Seitdem verfolgt Ureña ein in
Umfang und Detailgenauigkeit beeindruckendes Forschungsprogramm zu Krause,
seinem Umfeld und seiner Wirkungsgeschichte, das man unter das Schlagwort „Nicht nur Krausismus, sondern auch
Krausismus“ (vgl. 311) stellen könnte. Nach einer ausführlichen Biographie
(1991) sowie einer Studie zur Wirkungsgeschichte in Deutschland (2001), die
sich auf die institutionelle Rezeption
(Philosophenkongresse und der sog. Krause-Fröbelianismus) konzentrierte,
legt er nun eine inhaltlich orientierte Untersuchung vor, die sich dem Einfluss
von Krauses Ideen in Deutschland ab Krauses Tod 1832 bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts widmet.
Sie beginnt mit zwei Kapiteln zur
Rezeption in den Jahren vor und nach dem Jahren 1845/46,
in denen sich in der philosophischen Szene ein verstärktes Interesse für Krause
abzeichnete. Daran schließt sich ein Kapitel zur Rezeption Krauses in
Zeitschriften und philosophiehistorischen Lehrbüchern in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts an. Das vierte Kapitel dokumentiert das Interesse, das Krauses
Schwiegersohn Karl von Leonhardi der 1845 entstandenen Bewegung des
Deutschkatholizismus entgegen brachte, vor dem Hintergrund von Krauses
Religionsphilosophie. Kapitel V behandelt, vor allem mit Blick auf den
Nationalökonomen Albert Schäffle (1831-1903), der den Menschen, nicht die
Güter, in den Mittelpunkt der Wirtschaftslehre stellen wollte (269), die
Wirkung der durch Heinrich Ahrens und K. D. A. Röder vermittelte Krauseschen
Rechts- und Staatsphilosophie auf die deutsche Volkswirtschaftslehre im zweiten
Drittel des 19. Jahrhunderts (vgl. 230f.). Dabei wird auch das Verhältnis von
Krause und Leonhardi zum Saint-Simonismus (232-243) und Robert von Mohls
Beschäftigung mit Ahrens’ Staats- und Gesellschaftslehre (244-252) behandelt.
Für die Rechtsgeschichte ist Kapitel
VI von besonderem Interesse, da es sich mit der Rezeption Krauses im von Luise
Otto 1865 gegründeten Allgemeinen Deutschen Frauenverein (284) beschäftigt.
Krauses Gedanken zur Gleichwertigkeit der Frau (vgl. 275-282) gehören zusammen
mit seinen bemerkenswerten ökologischen Einsichten (276) zu den
interessantesten Elementen seiner praktischen Philosophie. Ihr Einfluss auf die
Frauenrechtsbewegung im 19. Jahrhundert wurde unlängst in einer
rechtshistorischen Studie untersucht (Rabe, Christine Susanne:
Gleichwertigkeit von Mann und Frau. Die Krause-Schule und die bürgerliche
Frauenbewegung im 19. Jahrhundert, 2006). Ureña sieht im Verhältnis von Luise
Ottos Frauenbewegung, den im „Allgemeinen Erziehungsverein“ organisierten
Anhängern von Friedrich Fröbels Pädagogik und den Krausisten eine
„Dreierallianz“ (286, 289, 293, 295, 303), die sich in ihren jeweiligen
Zeitschriften und gegenseitigen Kongresseinladungen widerspiegelt.
Während Krauses Werk zumeist entweder vor
der Folie des spanischen Krausismo oder im Kontext des Deutschen Idealismus
betrachtet wird, stellt Ureña hier nun den Zusammenhang mit den philosophischen
und rechtspolitischen Fragen des 19. Jahrhunderts her. Besonders zu würdigen
ist dabei die Leistung des Verfassers, aus der unübersichtlichen Menge von
posthumen Veröffentlichungen, Briefausgaben, Zeitschriften des 19. Jahrhunderts
und zahlreichen Handschriften (315f.) die Stellungnahmen Krauses und seiner
Schüler zum jeweiligen Themenkreis zusammenzuführen. Mit vorliegendem Band
seiner Krause-Trilogie ist Ureña über das Vorhaben, Krause innerhalb der
deutschen Philosophiegeschichte einen gebührenden Platz einzuräumen (311) sogar
noch hinausgegangen, indem er einen Zugang zu sozialen und politischen Fragen
des 19. Jahrhunderts bietet.
Gießen Wolfgang
Forster