Tyerman,
Christopher, God’s War. A new History of the
Crusades. The Belknap Press of
Im Vorwort zum dritten Band seiner
Geschichte der Kreuzzüge hat Stephen Runciman den Rezensenten ins Stammbuch
geschrieben: „Es ist abwegig und unangebracht, wenn Kritiker sich darüber
beklagen, dass der Autor nicht das Buch geschrieben hat, welches sie geschrieben
hätten, wenn sie sich mit dem Stoff befaßt hätten“ (zitiert nach der kongenialen
deutschen Übersetzung von Peter de Mendelssohn). Mit Recht, denn es ist
unrealistisch zu erwarten, dass die Darstellung und Analysierung sämtlicher
Aspekte von den politischen Hintergründen, den militärischen Gesichtspunkten
und komplizierten diplomatischen Verflechtungen über die gesellschaftlichen,
ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten bis hin zu den
kirchengeschichtlichen und theologischen Voraussetzungen einer Bewegung, die
das gesamte Abendland vom Hilfegesuch Kaiser Alexios’ I. bis zur Einnahme
Konstantinopels durch die Osmanen, dazu noch die Nachzeichnung der Entwicklung
der Kreuzfahrerstaaten und der Ritterorden - und all dies unter
Berücksichtigung der abend-, der morgenländischen und der griechischen
Sichtweise! - von einem einzelnen Forscher auch nur annähernd bewältigt werden
könnte. Andererseits zeigt natürlich die Leidenschaftlichkeit, mit der die
Diskussion geführt wird, sowohl die dauerhafte Aktualität des Themas sowie ein
stets lebendiges, über die Grenzen der Fachwelt hinaus reichendes Interesse,
als auch die schiere Unerschöpflichkeit des Sujets.
Anders als Runciman, der in seinem
Meisterwerk, an dem immer noch alle Publikationen zur Geschichte der Kreuzzüge
gemessen werden, den byzantinischen Blickwinkel bevorzugt hat, betont nun
einführend Christopher Tyerman, sich auf die westeuropäische Perspektive
beschränken zu wollen. Augenscheinlich angestrebt wird folglich ein
„lateinisches“ Pendant zu Runcimans „griechischem“ Œuvre, indessen eine
fachlich kompetente, nüchtern-sachliche Betrachtung, die von den orientalischen
Quellen ausgehen würde, weiterhin Desiderat bleibt.
Der ausgewiesene britische Spezialist der
angelsächsischen Kreuzzugsforschung verficht dabei in der Debatte über eine
Auslegung dieser historischen Bewegung, in der sich die sogenannten
Traditionalisten, die den Peregrinatio-Gedanken mit seiner
Konzentrierung auf Jerusalem als reales und geistiges Ziel für grundlegend
erachten, und die sogenannten Pluralisten gegenüberstehen, die sämtliche
päpstlich autorisierte oder initiierte armierte Unternehmungen als Kreuzzüge
und in diesen, pointiert formuliert, ein gegen innere und äußere Feinde
eingesetztes Instrument päpstlicher Machtpolitik sehen, eine dritte Position:
Auf letzterer Interpretation aufbauend und sie weiterentwickelnd, vermutet
Tyerman den Ursprung des Kreuzzugsgedankens zum einen in der militant säkularen
Mentalität und wachsenden Religiosität der frühmittelalterlichen Kriegeraristokratie
und zum anderen in der monastischen Radikalität der kirchlichen
Reformbewegungen des 10. und 11. Jahrhunderts (so ausführlich in seiner 1988
erschienenen ersten umfangreichen Monographie „England and the crusades.
1095-1588“, S. 3). Die aus dieser Grundhaltung erwachsenen Expeditionen
beschreibt er nämlich als ein heterogenes, vielfältige und zum Teil kontroverse
Ziele verfolgendes Phänomen. Explizit ausgeführt hat der Verfasser seine
Theorien dann zehn Jahre später unter dem Titel „The Invention of Crusades“ und
resümiert deshalb verständlicherweise diese in der hier vorliegenden
Gesamtschau nur.
Seine thesengemäß auch die Kämpfe gegen
die Albigenser, die spanische Reconquista sowie die Feldzüge gegen die Wenden
umfassende Darstellung beginnt der Verfasser mit einem kurzen Überblick über
die Geschichte des europäischen Mittelmeerraumes, des Investiturstreites und
des Reformpapsttums als den beiden entscheidenden Faktoren, außerhalb derer die
Kreuzzüge „nicht zu verstehen seien“ (S. 7). Es folgen eine knappe Skizzierung
der theologischen Grundlagen unter Einstreuung einiger allerdings aus dem
Kontext gerissener Bibelzitate, die zur Illustrierung der Debatte um die
Begriffe des bellum iustum und des bellum sacrum gedacht waren,
und der noch kürzer ausfallende Versuch einer Definition des islamischen
Dschihad. Wie in der gesamten bisherigen Kreuzzugsforschung misslingt auch hier
das Aufgreifen einer Thematik, welche die Methodologie der Geschichtsforschung
übersteigt und besser der Feder des exegetisch, kirchenhistorisch und
-rechtlich geschulten Theologen bzw. des ausgewiesenen Islamforschers
anvertraut bleiben sollte.
Die eigentliche Abhandlung entspricht in
Gliederung (Schilderung der einzelnen Kreuzzüge in chronologischer Reihenfolge,
jedoch unter besonderer Herausstreichung ihres Bußcharakters) und
Betrachtungsgegenständen (neben den einzelnen Unternehmungen Aufstieg,
Verteidigung und Niedergang der Kreuzfahrerstaaten) der herkömmlichen
Vorgehensweise, von der sie auch die Gepflogenheit übernimmt, sich am
eingehendsten mit den 1097 bis 1099 durchgeführten armierten peregrinationes
zu beschäftigen und alle nach dem Fall von Akkon organisierten
Militärexpeditionen nur noch zu streifen. Müßig wäre es zu erwähnen, dass
Tyerman gründlich und sachkundig die abendländische Historiographie
ausgeschöpft hat, doch ist zu betonen, dass des weiteren
wenig bekanntes Urkundenmaterial hinzugezogen wurde.
Vielleicht in bewusster Abgrenzung von
Runcimans leidenschaftlicher, zuweilen gar polemischer Narration ist auf
längere Quellenzitate verzichtet worden. Indes: die in nüchternerem und dennoch
angenehmem Stil gehaltene Darstellung ist gleichfalls nicht frei von
überzogenen Urteilen, so wenn die Sachsenkriege Karls des Großen als „Genozid“
gewertet (S. 37), Guibert von Nogent als „Vornehmtuer, Müttersöhnchen, in
seinem Amt als Abt versagender Fabulist“ (S. 243) sowie Niketas Choniates und
Nikolaus Mesarites als „zwei der hysterischsten griechischen Augenzeugenı
(S. 553) abqualifiziert werden. Zu unausgewogen ist zudem die Bewertung der
päpstlichen Politik wie auch des Kampfes gegen die Albigenser, nicht
hinreichend fundiert die Einschätzung der Katharerlehre als fließende Grenze
zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie. Einerseits wird vorschnell Froissarts
Berichten die Glaubwürdigkeit abgesprochen, andererseits kritiklos die Liste
der Bernard de Casenac angelasteten Greueltaten übernommen und, methodologisch
gravierender, die Bedeutung des Chançon d’Antioche, der Estoire des
Engleis (beide werden [S. 246] als zwar packende, doch historisch praktisch
wertlose „Abenteuergeschichten“ abgetan) und anderer zeitgenössischer Werke
dieser Quellengattung als unschätzbare Nachrichtenlieferanten für die Militär-,
Gesellschafts- und Kulturgeschichte verkannt.
Offensichtlich ist der von Tyerman
anvisierte Leserkreis nicht unbedingt die Fachwelt und auch nicht ein Publikum,
das über den angelsächsischen Kreis hinausreichen würde. Dies zeigt der
Umstand, dass bei der Anführung historiographischer Zeugnisse nur dann auf die
lateinische bzw. griechische oder altfranzösische Edition verwiesen wird, wenn
keine englische Übersetzungsausgabe vorliegt und in das Schrifttumsverzeichnis
nur sehr wenige fremdsprachliche Titel Eingang gefunden haben. Auch ist der
Bogen, der von der Reconquista zur frankistischen Ideologie (S. 673) und von
den Wendenkriegen zur nationalsozialistischen Propaganda (S. 689) geschlagen
wird, da keine historisch abgesicherte Erläuterung folgt, eher effekthascherisch
als begründet zu nennen. Gleiches gilt generell für die gelegentlich
anklingenden neuzeitlichen Reminiszenzen: Wenn Tyerman den (im übrigen
authentisch nicht zweifelsfrei überlieferten) Predigtstil Peters des Eremiten
als eine Mischung aus der Rhetorik Gladstones und Disraelis charakterisiert (S.
496), so ist der ohnehin mehr als gewagte Vergleich für die allermeisten Leser
außerhalb der Britischen Inseln ohne Aussagekraft, und König Ludwig IX. von
Frankreich als den Nelson Mandela seiner Zeit (S. 805) zu bezeichnen ist ebenso
originell wie absurd.
Uneingeschränkt zuzustimmen ist Tyermans
abschließendem Hinweis auf die gesellschaftlich und kulturell prägende sowie
identitätsstiftende Rolle der Kreuzzugsbewegung. Die Schlussfolgerung, sie sei
nicht etwa zu Ende gegangen, weil sie unmodern geworden wäre, sondern einem mit
dem Verlust der Kontrolle, welche die westliche Kirche über die Gesellschaft
ausgeübt habe, sowie mit einem Niedergang der päpstlichen Autorität
einhergehenden Säkularisationsprozess geschuldet, lässt hingegen die
zahlreichen bedeutenden politischen, militärischen und diplomatischen Fakten
und Gesichtspunkte gänzlich außer acht.
Nichtsdestoweniger sei Tyermans mit
knappen, doch stets aufschlußreichen Anmerkungen (S. 923-985), einer Auswahlbibliographie
(S. 986-990), fünf Seiten Herrscherlisten sowie einem Namen- und Sachregister
ausgestattete Monographie den Studierenden zur Vorlesungs- oder
Examensvorbereitung als nützliches Hilfsmittel mit Nachdruck empfohlen. Und
gerade in diesem Zusammenhang ist unbedingt die Leistung des Verlags
herauszuheben, der ein tausendseitiges, mit 31 ausschließlich farbigen (echten,
nicht, wie bedauerlicherweise üblich geworden, eingescannten) Abbildungen, 24
Karten und Skizzen versehenes und auf hochwertigem Papier gedrucktes Buch für
den studentenfreundlichen Preis von nur 35 Dollar anzubieten vermag.
Der Fachmann hingegen wird, namentlich
aufgrund der hier gewählten stark verengten Perspektive der Darstellung, für
eigene Untersuchungen aus den vorausgegangenen, wertvolle Informationen
liefernden Werken des britischen Historikers ungleich größere Anregungen ziehen
und nach wie vor einen höheren Genuss bei der Lektüre von Runciman finden.
Zweifellos, und dies bleibt - eingedenk
der oben zitierten Ermahnung - dem Rezensenten als Fazit, liefert Tyermans
Geschichte der Kreuzzüge grundsolide Forschungsarbeit. Aber der im Untertitel
„A new history of the crusades“ hervortretende Anspruch greift eindeutig zu
hoch, handelt es sich hier doch eher um „Another history of the crusades.“
Saarbrücken Petra
Roscheck