Städte im östlichen Europa. Zur
Problematik von Modernisierung und Raum vom Spätmittelalter bis zum 20.
Jahrhundert, hg. v. Goehrke, Carsten/Pietrow-Ennker, Bianka. Chronos,
Zürich 2006. 414 S. Besprochen von Katalin Gönczi.
Die „okzidentale Stadt“ lässt sich
nach der Typologie Max Webers mit dem Begriff ‚Rationalisierung‘ erfassen. Ausgehend
von der Weber‘schen Stadtsoziologie entwickelte sich auch der Begriff ‚europäische
Stadt‘, die durch ihre freiheitliche Rechtsordnung charakterisiert ist.
Rationalisierung und Modernisierung zeigen also eine gemeinsame Richtung der
Stadtentwicklung. Die Trennungslinie zwischen der rationalen Rechtsordnung der
Stadt (‚Stadtluft macht frei‘) und dem agrarischen Land der Umgebung lässt sich
daher als Folge von Rationalisierung und Modernisierung nachweisen. Diese
Modernisierungstheorie wurde in den Forschungen zur Rechtsgeschichte Osteuropas
vor allem in der jüngsten Zeit angewandt, wobei der Prozess der Modernisierung
in seinem Zusammenhang mit Verwestlichung und Rechtstransfer untersucht wurde.[1]
Geleitet von der Theorie der
Modernisierung arbeitete auch eine Gruppe von deutschen und schweizerischen
Osteuropahistorikern über die Stadtentwicklung in Osteuropa. Sie widmeten sich der
Entwicklung von Städten, deren Geschichte für Arbeiten zur deutschen
Rechtsgeschichte viele interessante Facetten bietet und für deutschsprachige
Leser besonders schwer zugänglich ist. Die Ergebnisse von fünf Workshops, geleitet
vom Züricher Osteuropahistoriker Carsten Goehrke und von der
Osteuropahistorikerin der Universität Konstanz, Bianka Pietrow-Ennker, wurden in
diesem Band veröffentlicht. Diese Publikation ist zugleich eine gute
Gelegenheit, einen Blick in die Werkstatt von Nachwuchswissenschaftlerinnen und
Nachwuchswissenschaftlern zur osteuropäischen Geschichte zu werfen.
In der Einleitung setzt sich
Pietrow-Ennker mit der historischen Entwicklung der Modernisierungstheorie und
dem politischen Verständnis von Osteuropa auseinander. Dabei stellt die Autorin
fest, dass der Begriff „Modernisierung“ in der Geschichtswissenschaft zuerst auf
das Ost-West-Verhältnis angewandt und häufig mit dem Transformationsprozess der
ehemaligen Ostblockstaaten gleichgesetzt wurde. Dabei wurde die Modernisierung in
den vergangenen Jahrzehnten als „Europäisierung“ bzw. „Verwestlichung“
verstanden. Die Theoriegeschichte des Modernisierungsbegriffes lässt sich jedoch
von Max Webers und Talcott Parsons‘ Arbeiten ableiten; diesen soziologisch-evolutionistisch
formulierten Begriff füllten Hans van der Loo und Willem van Reijen in den
1990er Jahren mit historischem Inhalt. Die Autorin geht besonders auf die
Modernisierungstheorie von Richard Münch ein. Nach Münchs Überlegungen können die
grundsätzlichen Thesen Max Webers auch auf die osteuropäische Stadt angewandt
werden. In diesem Kapitel liefert die Verfasserin eine gut überschaubare
Zusammenfassung der aktuellen soziologischen Diskussion hinsichtlich der
Modernisierung.
Im zweiten methodischen Schwerpunkt hebt
Pietrow-Ennker die geopolitischen Zusammenhänge des Untersuchungsgegenstandes
hervor. Sehr informativ und aufschlussreich schildert sie die Hintergründe des
Begriffes „Osteuropa“, der aus dem 19. Jahrhundert stammt. Die Vielfalt der
Region kann dieser von der Politik formulierte Begriff nicht wiedergeben; daher
scheint es angemessener, die Raumkonzeption „Ostmitteleuropa“ in der Forschung zu
verwenden. Durch die Aufteilung der Region in Ostmitteleuropa, Osteuropa und
Südosteuropa lassen sich regionsspezifische Merkmale besser nachweisen, wodurch
auch die Anbindung der östlichen Teile Europas an den Okzident genauer herausgestellt
werden kann. Markt, autonome Verwaltung und genossenschaftliche Bürgergemeinde
sind nach Max Weber die Merkmale der okzidentalen Stadt, von denen sich etliche
auch in der Untersuchungslandschaft – manchmal in modifizierter Form – wiederfinden
lassen.
Aus dem Einleitungstext lassen sich folgende
Elemente der Verfassungs- und Rechtsgeschichte der Unterregionen hervorheben: In
der Geschichte Ostmitteleuropas können recht viele Verbindungen zum westlichen
Teil des Kontinents beobachtet werden; die Autorin exemplifiziert das an einem aus
Sicht der europäischen Rechtsgeschichte besonders wichtigen Phänomen: der
Ansiedlung der Deutschen und der damit verbundene Privilegierung der hospes-Gemeinden. In diesem Zusammenhang
kann das ius theutonicum als Form der
Modernisierung in Ostmitteleuropa verstanden werden.
Für Osteuropa waren die staatlichen
Rahmen entscheidend, also der Kiewer Rus, Byzanz und später Russland. Wegen der
schwachen Marktwirtschaft und der dünnen Besiedlung konnte sich die Stadt in
dieser Region nicht als eigenständiges Verfassungskörper, sondern nur als
Verwaltungssitz entwickeln, und folglich reichen die Urbanisierungsdefizite
Osteuropas bis in das 20. Jahrhundert.
Südosteuropa zeigt ein weitaus
heterogeneres Bild; die Rechtsgeschichte dieser Region war vom Kontakt zu
Byzanz und zu den italienischen Städten geprägt. Das fehlende Bürgertum war eine
weitere verfassungsrechtliche Komponente, die die Stadtentwicklung
Südosteuropas bestimmte. Jedoch erreichten die dalmatinischen Städte– so
Pietrow-Ennker – die Stufe der „okzidentalen Stadt“.
Die Gliederung des hier besprochenen Bandes
ergibt sich aus der historischen Interpretation der Modernisierung: im ersten Teil
wird die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Stadt untersucht, im zweiten
Teil die Industrialisierung und die Reformen, die zu einer beschleunigten Phase
der Stadtentwicklung führten. Die zeitlichen Grenzen der Untersuchungen bilden
das Hochmittelalter und der erste Weltkrieg.
In seinem rechtsgeschichtlich
orientierten Beitrag zeigt Roland Leffler anhand der Geschichte Nowgorods im
14. und 15. Jahrhundert eine für Osteuropa atypische Stadtentwicklung, denn die
Stadtautonomie Nowgorods erreichte nahezu das Niveau der westeuropäischen Städte.
Nowgorod war im Spätmittelalter eine von der Kaufmannschaft regierte
Stadtrepublik, deren Bürgerversammlung sogar den Stadtherrn bzw. seinen
Statthalter absetzen konnte. Leffler setzt sich danach mit der Max Weberschen
Tradition der Typisierung der Städte Osteuropas auseinander, wobei Rudoph
Mumenthals Thesen als Leitfaden dienen. Als Ergebnis des Vergleichs der
westeuropäischen und osteuropäischen Städte stellt Mumenthaler fest, dass
Nowgorods Stadtkommune der einer okzidentalen Stadt entsprach. Diese These wird
vor allem mit dem Kreuzkuss als Friedensschwur, einem Eid für den Stadtfrieden
– im Sinne von Wilhelm Ebel – begründet. Auch die Elemente des kommunalen
Stadtrechts gemäß der Auffassung Gerhard Dilchers werden in dieser primär
rechthistorischen Studie berücksichtigt.
Der Verfasser weist aber auf die
wichtige These Heiko Haumanns hin, wonach die Max Weberschen Kategorien nicht
auf russische Verhältnisse angewendet werden können. Anhand des Begriffes coniuratio wird dann die Stadtverfassung
Nowgorods untersucht. Als Gegenpunkt werden auch die für die westeuropäische coniuratio atypischen Elemente der
Nowgoroder Stadtverfassung – so z. B. der Ad-hoc-Charakter der Bürgerversammlung
und das Fehlen einer Ratsverfassung – beschrieben.
Die Blütezeit der Nowgoroder
Stadtrepublik war nach dem 15. Jahrhundert vorbei; 1487 verlor Nowgorod seine
Unabhängigkeit. Danach wurde die Stadt in die Moskauer Rus eingegliedert. Zur
Typisierung und Modernisierung enthält der Aufsatz ausführliche Belege aus der
Stadtgeschichte, so zum Beispiel zu den Fernhandelskontakten zur Hanse und zur peripheren
Lage der Stadt. Zusammenfassend lässt sich – so der Autor – feststellen, dass
man im Bezug auf Nowgorods Geschichte von einer abgebrochenen bzw. verhinderten
Modernisierung sprechen kann.
Andrej Rudolf Jakovac bemängelt am
Anfang seiner Studie die Literatur zur Stadtgeschichte des mittelalterlichen
Königreichs Ungarn. Seine Thesen dazu stützt er hauptsächlich auf eine
Auswertung der Literatur der 1970er Jahre; er wertet die Schriften von
führenden Historikern dieser Zeit wie Erik Fügedi und András Kubinyi aus. Die inzwischen
erschienenen wertvollen Arbeiten zur mittelalterlichen Stadtgeschichte der
Region[2] bleiben
bei dieser Kritik aber unberücksichtigt. Folglich wird auch ein problematischer
Ansatz der 1970er Jahre, die Kontinuität der antiken Munizipien, referiert. In
der Frühphase der Stadtentwicklung erschienen die Siedlungen auch hier als
Verwaltungssitze (Bischofsstädte und Städte der weltlichen Administrative); die
überregionalen Handelsverbindungen führten dann zur Herausbildung einer höheren
Entwicklungsstufe. Jakovac benutzt in seiner Argumentation auch linguistische
Erklärungen, wie die Zusammenhänge der ungarischen Bezeichnung von „Burg“ [vár]
und „Stadt“ [város]. Bemerkenswert sind die Hinweise auf die multiethnische
Zusammensetzung des städtischen Handels: Juden, Muslime, Byzantiner und Händler
aus dem Kiewer Rus waren die Hauptakteure des überregionalen Handels. Neuartig
erscheint die Einbeziehung Slawoniens in die Stadtgeschichtsforschung zu Ostmitteleuropa.
Einige terminologische Probleme seien
angemerkt: Das für die geographische Charakterisierung verwendete und verfassungsrechtlich
nicht vertretbare Adjektiv „ungarländisch“ stört bei der Lektüre. Ebenfalls
ahistorisch erscheint es, die Ansiedlung der hospites als Kolonisation zu interpretieren und die entwickelten
Handelsstädte des Königreichs Ungarn (i. e. königliche Freistädte) als
„Rechtsstadt“ zu bezeichnen. Ein quellenkritischer Blick in die Literatur hätte
zu einer genaueren Terminologie geführt.
Wie sich die Modernisierung in
Lemberg im Spiegel der konfessionellen und ethnischen Verhältnissen entfalten
konnte, wird im Aufsatz Christophe von Werdts mit sozialhistorisch formulierten
Ansätzen aufgezeigt. Diese Studie bietet einen guten Einstieg in die
Verfassungsgeschichte Lembergs: Die Stadtentwicklung vom 13. bis zum 15.
Jahrhundert wird im Licht der komplizierten ethnischen Verhältnisse aufschlussreich
erörtert. So kann man aus von Werdts Ausführungen erkennen, dass sich Deutsche
hier in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ansiedelten. Die Stadt wurde um
1356 durch König Kasimir den Großen mit dem Magdeburger Recht bewidmet. Nach
dem Erlass dieses so genannten „Magdeburger Stadtrechtsprivilegs“ wurde die
Gerichtsbarkeit weiterhin nach der Personalitätsprinzip mit Elementen der
Territorialität gemischt ausgeübt: Armenier und Juden hatten in der Stadt eigene
gerichtliche Instanzen.
Arié Malz setzt die Ausführungen zur
Moderisierung mit Überlegungen zur frühneuzeitlichen Geschichte der dalmatinischen
Städte fort. Sie untersucht dabei die Bevölkerungszahl, den überregionalen
Handel und das Rechtssystem. Dalmatien stand im Einflussbereich des
byzantinischen Reiches, später Venedigs und schließlich des osmanischen
Reiches. Während der venezianischen Herrschaft lässt sich die Rechtsentwicklung
in den Städten Dalmatiens als ein Sonderweg beschreiben, denn hier sollte sich das
Recht durch die Schaffung eines eigenen Rechtssystems von dem des
römisch-deutschen Reiches unterscheiden. Anstelle des römischen Rechts
dominierten daher Präzedenzfälle in der städtischen Gerichtsbarkeit, was
schließlich zu einer kaum überschaubaren Kasuistik führte. Die osmanische
Herrschaft löste eine weitere Isolation der dalmatinischen Städte aus. Man kann
daher im Hinblick auf die Neuzeit in Dalmatien von einer Stagnation der
Stadtentwicklung sprechen.
Im zweiten Teil des Buches werden
Modernisierungsthemen deutlich in den Vordergrund gestellt. Begriffe wie Nationalismus
und Urbanisierung bzw. Industrialisierung dominieren diesen Abschnitt, in dem
neben Lemberg, Lublin und Warschau auch mehrere russische Städte in Fallstudien
untersucht werden.
Aufbauend auf einer Zusammenfassung
der Einzeluntersuchungen präsentiert Carsten Goehrke, Mitherausgeber des Bandes,
eine theoretische Studie. Goehrke setzt sich in erster Linie mit der Begrifflichkeit
der Modernisierungstheorien auseinander, wobei aus rechtshistorischer Sicht die
Ausführungen zur Rationalisierung von besonderem Interesse sind. Er versteht den
Rationalisierungsprozess als Vorgang der Normfixierung, der vor allem die
herrschaftlichen Verhältnisse zwischen Bürgertum und Stadtherr konkretisierte.
Rechtssicherheit und städtischer Frieden führten in der Regel zur Verschriftlichung,
wie es z. B. in Nowgorod der Fall war. Goehrkes Abschlussgedanke, in dem er sich
mit dem neuen Europaverständnis beschäftigt, ist sehr treffend: „In einer Zeit,
wo Europa sich neu formiert und die traditionellen Staatsgrenzen an Bedeutung
verlieren, müsste der Blick auf staatsübergreifende Kulturräume indessen freier
werden können.“ (S. 409).
Der Sammelband bietet einen guten
Einstieg für Osteuropahistoriker, die die Stadtentwicklung in der
ostmitteleuropäischen Region anhand der aktuellen theoretischen Ansätze erforschen
möchten. Die Forschungen zur Rechtsgeschichte Osteuropas können von den
methodisch fundierten Ergebnissen der Arbeit sehr profitieren.
Magdeburg Katalin
Gönczi
[1] Giaro, Tomasz (Hg.), Modernisierung durch Transfer im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 2006.
[2] Urbs: magyar várostörténeti évkönyv [Urbs: Jahrbuch für ungarische Stadtgeschichte], Budapest 2006; Buda város jogkönyve [Ofner Stadtrechtsbuch], hg. v. László Blazovich und József Schmidt, 2 Bde, Szeged 2001; Ladányi, Erzsébet, Az önkormányzat intézményei és elméleti alapvetése az európai és hazai városfejlődés korai szakaszában [Institutionen und theoretische Grundlagen der Selbstverwaltung in der Frühphase der europäischen und ungarischen Stadtentwicklung], Budapest 1996.