Schröder, Rainer, Zivilrechtskultur der DDR. Band 4 Vom Inkasso- zum Feierabendprozess - der DDR-Zivilprozess (= Zeitgeschichtliche Forschungen 2/4). Duncker & Humblot, Berlin 2008. XX, 426 S. Besprochen von Adolf Laufs.

 

Der vorliegende Band bildet den Abschluss eines großen, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts zur „Zivilrechtskultur der DDR“. Wenn das Zivilrecht und sein Prozess  nicht als Hauptmechanismus zur Unterdrückung der DDR-Bürger wirkten, welche Rolle spielte es dann in der Diktatur? Begrenztheiten ergaben sich schon daraus, dass neben dem Zivilprozess andere rechtliche und politische Lösungsmöglichkeiten bestanden wie die Eingaben, die Konflikt- und Schiedskommissionen und die Vertragsgerichte. Das Forschungsprojekt zog die Erkenntnisse aus der Statistik, der Alltagstheorie, aus Zeugenauskünften, aus Akten erstinstanzlicher Gerichte in Berlin und den gesetzlichen Gegebenheiten. So entstand ein umfassendes Bild der Zivilprozesswirklichkeit in den vier Jahrzehnten der Deutschen Demokratischen Republik.

 

Die Formel, die dem Buch den Namen gibt, vom Inkasso- zum Feierabendprozess, fasst die Entwicklung treffend zusammen. Im Zuge der Umgestaltung der DDR zu einem staatssozialistischen Land bildete sich der Prozesstyp des kurzen und unkomplizierten Inkassoverfahrens heraus mit Klagen staatlicher Versorger, insbesondere der Wohnungsunternehmen, gegen säumige Zahler. Doch dieser Verfahrenstyp verlor früh an Bedeutung, weil Klagen von Bürgern gegen sozialistische Betriebe und Institutionen Erschwerung erfuhren und seltener wurden. Das hochpolitische Wirtschaftsrecht entfernte sich vom Privatrecht als ein neues Rechtsgebiet für die Beziehungen der volkseigenen Betriebe und Kombinate untereinander und für deren Verhältnis zu Plan und Staat. Mit den Streitigkeiten auf diesen Feldern befassten sich die Vertragsgerichte, gerichtsähnliche Verwaltungsinstanzen mit privat- und öffentlichrechtlichen Zuständigkeiten und Bußgeldkompetenzen. Beim größten Teil der Inkassoverfahren staatlicher Versorger traten bald andere Prozeduren wie Mahnverfahren und Verwaltungsverfahren an die Stelle der gerichtlichen Verfolgung von Ansprüchen. Übrig blieben aus dem privaten Alltag der Bürger entspringende Gerichtsverfahren: um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall, um Unterlassungen privater Art, um Herausgabeverlangen und kaufvertragliche Ansprüche nach persönlichen Differenzen oder im Gefolge der Schattenwirtschaft.

 

Dieses politisch irrelevante „Feierabendrecht“ wie das politisch unverdächtige Inkasso störten die Diktatur nicht. Statt dessen entzog sie den Gerichten die brisanten Materien. Die Justiz geriet mit dem Zivilprozess zwischen „Recht und Unrecht der DDR“ (A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 6. Aufl. 2006, S. 449ff.): „Wer redlich und korrekt die Zivilrechtsfälle abarbeitete, stützte das Regime, auch wenn sie oder er nur <kassierend> oder in Feierabendfällen tätig war. Diese Fälle waren“ so schließt die Darstellung des Buches, „für die Parteien wichtig, und indem die Richterinnen und Richter das taten, gerieten sie in ein unentrinnbares Dilemma“ (S. 363).

 

Das Werk besticht durch seine mit hohem Aufwand erarbeiteten empirischen Befunde. Statistiken und Diagramme durchziehen das Buch, das eine Fülle wirtschafts-, sozial- und alltagsgeschichtlicher Aufschlüsse liefert und damit die forensischen Berichte fundiert und in die historischen Kontexte einbettet, sie letztlich erst verständlich macht. Dem Autor und den zahlreichen von ihm genannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist dafür hohe Anerkennung zu zollen. Der Autor beleuchtet eine bisher weniger beachtete Seite der DDR: das Zivil- und das Zivilverfahrensrecht, das Züge der Normalität trug und dennoch nicht zur Exkulpation taugt, so wenig wie die Privatrechtspflege dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem den Charakter eines Unrechtsstaates nahm. Auch die DDR war eine Diktatur, die nur Konflikte zuließ, die sie nicht gefährdeten, und die ihre Feinde selbst definierte. Die Analyse der Zivilrechtspflege, wie der Autor sie vorträgt, beschönigt die DDR und ihre Ordnung keineswegs.

 

Heidelberg                                                                                                     Adolf Laufs