Schlink, Bernhard, Vergangenheitsschuld. Beiträge zu einem deutschen Thema, 3. Auflage. Diogenes, Zürich 2007. 189 S. Besprochen von Bernd Rüthers.

 

Das Buch enthält acht zum Teil themenüberschneidende Beiträge des Autors aus den Jahren 1988, 1994, 1995, 1998, 2001, 2002, 2003 und 2004. Es geht ihm unter dem Leitthema „Recht und Schuld“ um den Umgang mit den Vergangenheiten in den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Der Untertitel des Buches heißt „Beiträge zu einem deutschen Thema“. Der achte Vortrag „Vergeben und Versöhnen“ wurde in Südafrika gehalten. Ein Blick über die Grenzen zeigt auch in Europa, dass „Vergangenheitsschuld“ kein deutsches, sondern ein weltweit aktuelles Thema ist. Das Fehlen dieses Aspektes in den sonst subtilen Darlegungen und Erwägungen des Verfassers fällt auf.

 

Der erste Abschnitt fragt nach der Möglichkeit und der Realität einer fortdauernden deutschen „Kollektivschuld“ (1988) für das, was zwischen 1933 und 1945 an Verbrechen von Deutschen angerichtet worden ist.

 

Der Autor beginnt mit einer eigenwilligen These, die er u. a. aus dem damals täglichen Abschluss des öffentlich-rechtlich gestalteten Fernsehprogramms (mit der Nationalfahne und Nationalhymne) ableitet:

 „Die Geschichte, mit der wir leben, soll auf die Zeit seit 1949 verkürzt, die Zeit bis 1949 zur Vorgeschichte erklärt werden. Es liegt nicht an Fehlern der Regie, des Bühnenbildes oder der Choreographie, daß die Schaustellungen bundesrepublikanischer Staatlichkeit auf geschmacklose Weise an entsprechende Veranstaltungen der DDR erinnern. Es geht um die gleiche Sache. Die Bundesrepublik Deutschland holt die Etablierung einer eigenen Identität und Geschichte nach, die in der DDR vorgemacht wurde..“ (S. 15)

 

Der Leser stutzt. Hat hier ein Jüngerer einige politische Jahrzehnte nicht wahrgenommen? Die Aussöhnung mit Frankreich. Die besonderen Beziehungen der Bundesrepublik zum Staat Israel im Gegensatz zum verlogenen Unschuldstheater des SED-Staates? Die Übernahme großer Wiedergutmachungslasten? Die verbreiteten wissenschaftlichen Arbeiten zur Geschichte des totalitären Unrechts in beiden deutschen Diktaturen, lange bevor die bundesrepublikanische „junge Linke“ in der Bunderepublik dieses Thema erst entdeckte, als es nach 1970 karriereträchtig geworden war? Kannte der Autor die reale Lage der Bevölkerung in der DDR vor dem November 1989? Artikulieren sich in seiner Behauptung Sozialisationsspezifika bestimmter sozialer Schichten? Hat die Bundesrepublik wirklich, wie die DDR mehrfach, ihre „Identität und Geschichte umgeschrieben“? Ist das ein Hinweis auf die Tatsache, dass tatsächlich nicht ganz kleine und unbedeutende Gruppen der Westdeutschen die vermeintlich ominöse Wiedervereinigungsklausel in der Präambel des Grundgesetzes gestrichen sehen wollten? Begründet wird diese pauschale Geschichtsdeutung vom Autor nicht. Dieses Defizit sollte vielleicht von ihm aufgearbeitet werden.

 

Im folgenden geht er zutreffend davon aus, schuldig könne jeder nur für sein eigenes Verhalten, sein Tun und sein Unterlassen sein. Eine „Schuldübertragung“ von der Schuld eines Menschen auf die Schuld eines anderen oder ganzer Kollektive könne es weder in der „Horizontalen“, also innerhalb derselben Generation, noch in der „Vertikalen“, also auf nachfolgende Generationen, geben. Dabei sei allerdings zu bedenken, dass es vielleicht Normen gebe, die von den Zuschauern von Verbrechenshandlungen verlangen, solchen mit Widerstand und Widerspruch entgegenzutreten. Aber auch wenn man solche anerkenne, folge daraus keine Kollektivschuld aller Deutschen. Denn schuldig werde ein Mensch erst dann, wenn er das Verbrechen erkannt habe und zum Widerstand und Widerspruch fähig gewesen sei. Die Angehörigen der nächsten Generationen könnten daher schon aus diesem Grunde weder der Täterschaft noch der Teilnahme an den nationalsozialistischen Verbrechen schuldig geworden sein. Den Hinweis auf die „Gnade der späten Geburt“, die auch er genießt, empfindet der Autor gleichwohl (im Anklang an eine verbreitet suggerierte political correctness?) als peinlich.

 

Er geht sodann der Frage nach, warum dieser enge juristische Schuldbegriff in der Nachkriegsdiskussion doch ein Unbehagen, Befangenheit, Peinlichkeit und Scham hinterließ. Die Brücke zu einer anderen Sicht findet er im Rückgriff auf altgermanische und römischrechtliche Vorstellungen von kollektiver Verantwortung, Haftung, Solidarität und Sühne. Es wurde danach nicht für fremde Taten, sondern für die eigene Solidarität mit den Tätern eingestanden. Die „Enthaftung“ setzte eine Lossagung, die Verstoßung, die Preisgabe der Täter durch das Kollektiv voraus. Die Netze der Schuld, das ist seine These, reichen weiter als der juristische Schuldbegriff. Sie umfangen auch jene, die zu den Tätern in einer wie immer begründeten „Solidargemeinschaft“ stünden. Das gelte auch für die Schuld der NS-Verbrechen. Darin liege eine Tragik. Denn das Lossagen, Verurteilen und Verstoßen habe auch nach 1945 nicht voll gelingen können. Gilt das nicht für alle „politischen Verbrechen“, auch für die „klammheimlichen“ intellektuellen Sympathisanten der Terroristenmorde im „roten Jahrzehnt“ von 1968-1978? Gehören nicht auch sie zur Vergangenheitsschuld gleich mehrerer Generationen?

 

Schlink schließt auch die Kinder der Täter, Anstifter und Gehilfen der NS-Verbrechen, ja sogar deren Opfer in seine Erwägungen über die kollektive Vergangenheitsschuld ein. Das Fesselnde an dem Beitrag ist die Erweiterung der Schuldfrage über die juristische in die moralische und sozialpsychologische Dimension. Er hebt die Grenze zwischen dem Betrachter und der „Tätergemeinschaft“ auf, ebenso die strikte Trennung von juristischer und moralischer Schuld. Dem Leser wird bewusst, dass die Abneigung der Nachkriegsgenerationen gegenüber einer Akzeptanz und Verarbeitung des Geschehens in der NS-Zeit eine neue Schuld gewesen sei, die bis heute, auch für die Verarbeitung der jüngeren Vergangenheit, fortwirkt.

 

Der zweite Abschnitt über „Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit“ (Neue Justiz 1994) behandelt den „strafrechtlichen Eifer“, mit dem aus der Sicht des Verfassers in der Bundesrepublik die „Bewältigung der kommunistischen Vergangenheit“ der DDR nach 1989 betrieben worden sei. Das unterstellte Faktum eines umfassenden deutschen Eifers in diesem Bereich erscheint nicht ganz zweifelsfrei. Vor dem Hintergrund der Vorgänge in anderen ehemals kommunistischen Ländern (Rumänien, Albanien, Bulgarien) sowie an historischen Beispielen (USA) stellt Schlink die Frage, ob die Verfolgung der SED-Verbrechen vielleicht von einer Bürgerkriegsmentalität der „Sieger“ über die „Besiegten“ beeinflusst gewesen sei. Die „Sieger“ waren aber in erster Linie wohl die Bürgerinnen und Bürger der DDR, die das SED-Regime mutig zum Scheitern brachten. Den Richtern der DDR-Justiz hätten sie am allerwenigsten die strafrechtliche Aufarbeitung der Verbrechen des SED-Regimes zugetraut.

 

Sodann prüft er, ob die Bestrafung der Todesschüsse an der Mauer nicht durch Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes und durch § 27 Abs. 5 des Grenzgesetzes der DDR gehindert gewesen sei. Sein Ergebnis: Die zur Überspielung des Rückwirkungsverbotes verwendeten Argumente des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts überzeugten nicht. Die Rechtsprechung verstoße gegen das rechtsstaatlich begründete Rückwirkungsverbot der Verfassung. Wenn man eine Bestrafung dieser Taten gewollt habe, hätte man das aus seiner Sicht rechtsstaatlich sauber nur mit einer Verfassungsänderung im Sinne einer temporären Durchbrechung des Art. 103 Abs. 2 GG erreichen können. Das hätten die Sieger des Zweiten Weltkrieges mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 für „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ getan. Ähnlich hätte man dem Rückwirkungsverbot zur „strafrechtlichen Bewältigung“ der kommu-nistischen Vergangenheit einen „Ort in der rechtsstaatlichen Normalität“ (?) geben können. Auch ein „revolutionäres Vermächtnis“ durch ein „das Rückwirkungsverbot suspendierendes Volkskammergesetz“ sei denkbar gewesen. Aber das habe es nicht gegeben. Die von Schlink für absolut erklärte Schranke des Rückwirkungsverbots in der Verfassung verdient in der staatrechtlichen Normallage Zustimmung. Wenn man sie auch bei Strafverfahren gegen Täter totalitärer Verbrechen gelten lässt, begünstigt sie objektiv die Terrorherrschaft von Despoten. Wenn diese ihre Verbrechen gesetzlich legitimieren, gehen sie dann in der Regel straffrei aus.[1]

 

Der dritte Beitrag „Vergangenheit als Zumutung“ (Festschrift für Böckenförde 1995) beschäftigt sich mit der dienst- und arbeitsrechtlichen Beendigung von Arbeitsverhältnissen wegen einer Tätigkeit der Beschäftigten für das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Grund zur fristlosen Kündigung solcher Verträge ist im öffentlichen Dienst nach dem Einigungsvertrag gegeben, wenn das Festhalten daran wegen seiner Tätigkeit unzumutbar erscheint. Bei der danach gebotenen Einzelfallprüfung geht das Bundesarbeitsgericht davon aus, dass entlastende Tatsachen nur dann zu berücksichtigen seien, wenn sie sich in gleicher Weise wie die belastende Tätigkeit für das MfS manifestiert haben. Es kommt darauf an, ob die frühere Tätigkeit für das MfS den Betroffenen für die heutige Tätigkeit im öffentlichen Dienst diskreditiert. Der Autor kritisiert die Vagheit des Merkmals Unzumutbarkeit, vor allem aber (1995) die Dauer der Pflicht der Einstellungsbehörden zur Regelanfrage bei der „Gauck-Behörde“. Sie wirke ähnlich wie die weitgreifende Entnazifizierungswelle nach 1945. „Die Fehler bei der Bewältigung kommunistischer Vergangenheit können nicht mehr repariert werden. Aber sie können beendet werden.“

 

Der Abschnitt „Die Bewältigung der Vergangenheit durch Recht“ (1998) stimmt inhaltlich weitgehend mit dem zweiten Beitrag über „Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit“ (1994) überein. Es geht Schlink erneut vor allem um die begrenzten Möglichkeiten des Strafrechts bei der Aufarbeitung der Vergangenheiten von totalitären Systemen und ihren Vollzugskadern. Das Recht spiele bei der Aufarbeitung von staatlich verordnetem Unrecht zwar eine wichtige, aber sehr begrenzte Rolle. Es unterstütze mit seinen förmlichen Verfahren in „Vergessenskulturen“ das Vergessen und in „Erinnerungskulturen“ das Erinnern. Seine eigentliche Leistung liege gerade in der Vorgabe von Formen und Verfahren, in denen die Entscheidung über die Art und Weise der Bewältigung getroffen werden. Die „Ausgrenzung“ der Schuldigen geschehe nicht in einer „Nacht der langen Messer“, sondern in Strafprozessen, nicht in „revolutionären Tribunalen“, sondern in rechtsstaatlichen Formen. Das sei sein Beitrag zur politischen Kultur.

 

Der Beitrag „Die Gegenwart der Vergangenheit – Auf dem Eis“ (DER SPIEGEL 5/2001) enthält eine Rückschau des Autors auf die Erlebnisse nicht so sehr seiner Generation, wie man nach dem Text meinen könnte, sondern auf die seiner akademischen „Sozialisationskohorte“: „Wir genossen die heile Welt der fünfziger Jahre, wurden ihrer überdrüssig und begehrten gegen sie auf…“ Es war das Jahrzehnt, in dem die Generation vor ihm, aus der Gefangenschaft und aus den Trümmern der zerstörten Städte kommend, mit regelmäßiger Arbeit während der Semesterferien ihr Studium finanzierte und in Notunterkünften in ehemaligen Kasernen in den Universitätsstädten wohnte. Vor der Zulassung mussten die Bewerber in Münster ein Semester Aufräumarbeiten in zerstörten Universi-tätsgebäuden leisten … Das erklärt vielleicht auch, warum seine Kohorte in den Sechzigern anders „politisch wurde“ als die vorhergehende. Nicht wenige kamen aus langer sowjetischer oder anderer Kriegsgefangenschaft. Für sie war der in den Universitäten Berlin, Frankfurt, Heidelberg und anderswo plötzlich gepredigte und aufschäumende Neomarxismus etwas anderes als eine romantische, verstaubte Ideologie aus dem 19. Jahrhundert. Sie hatten statt der Verheißungen deren Realisierungen in den osteuropäischen Ländern erlebt. Sie sahen irritiert die schwärmerischen Augen der professoralen Prediger (Marcuse, Mandel, Bloch, Adorno, Habermas u. a.) und der naiv gläubigen Wirtschaftswunderkinder, durchwegs aus gehobenen bürgerlichen Kreisen. An die Erfindung des „neuen Menschen“ und das bevorstehende Paradies glaubten sie nicht. Hatte es diese romantisch-revolutionäre Begeisterung in Deutschland nicht kürzlich schon einmal gegeben? Solche Gedanken sind dem Autor und seinen Zeitgenossen nicht gekommen. Sie waren sich ihrer moralischen Überlegenheit sicher, weil sie überzeugt waren, mit der Anklage gegen die Väter „nicht nur das Falsche gerügt, sondern auch das Richtige getan“ zu haben. Sie meinten, so „zivile und moralische Courage zu zeigen“.

 

Schlink erkennt die Hilflosigkeit individueller Moral beim Fehlen von verlässlichen Institutionen. Denn: „In richtig funktionierenden Institutionen versteht sich das Moralische von selbst.“ Aber im Rückblick auf die von ihm beschriebene Entwicklung drängt sich die Frage auf: War es nicht das erklärte Ziel vieler Aktionen und gerade der führenden Stimmen dieser Bewegung, bestehende und funktionsfähige Institutionen zu zerstören, statt sie zu reformieren? Richtete sich die ganze Wut der Aufrufe „Macht kaputt, was euch kaputt macht!“ nicht gerade gegen die in den Brennpunkten stehenden liberalen Reformer (Thomas Nipperdey, Hermann Lübbe, Richard Löwenthal, Nico Knauer, Peter Hanau, Horst Sanmann, Wolfram Fischer u. a.)?

 

Der Beitrag „Unfähigkeit der Staatsrechtswissenschaft zu trauern?“ (2002) ist vielleicht der pikanteste des Buches, weil er aus der Feder eines Staatsrechtlers die Erinnerungskultur und die Kommunikationsformen der „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“, eines für die Karrieren junger Hochschullehrer des öffentlichen Rechts einflussreichen Verbandes, zum Gegenstand hat. Die Vereinigung hatte erstmals im Oktober 1960 „Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus“ zum Thema am Rande einer ihrer Jahrestagungen gemacht.[2] Schlink fragt zu Recht, warum im Verlauf der Tagung (dreimal!) der Mut des Vorstandes und der Referenten zur Behandlung dieses Themas hervorgehoben worden sei. Sie fand immerhin 55 Jahre nach dem Zusammenbruch und 51 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik statt. Rühmlich sei nach einem Votum auch gewesen, dass die Vortragenden nicht nach der Schuld der deutschen Staatsrechtslehrer in der NS-Zeit gefragt hätten. Habe die Frage nach ihrer moralischen Mitverantwortung, die doch zeitlos auch für Gegenwart und Zukunft gelte, keine Bedeutung gehabt? Schärfer noch rügt der Autor den „cantus firmus“ der Referate und der Aussprache, wonach es in der NS-Zeit eigentlich keine deutsche Staatsrechtslehre gegeben habe. Wenn diese These richtig sei, dann habe es damals doch auch keine deutschen Staatsrechtslehrer gegeben. Denn: Wie könne es Staatsrechtslehrer ohne Staatsrechtslehre gegeben haben? Wenn diese Annahme stimme, dann sei das zugleich ein wissenschaftliches Urteil über das, was damals von den sich fälschlich so nennenden Staatsrechtslehrern geschrieben worden sei. Und geschrieben wurde eifrig und dezidiert, wie etwa die von Michael Stolleis dargestellte Geschichte des öffentlichen Rechts in dieser Epoche belegt.[3] Schlink schildert eindrücklich das Klima in der „öffentlich-rechtlichen Zunft“. So galt es etwa taktlos, wenn ein Student in einem Seminar bei seinem Lehrer E. W. Böckenförde den eingeladenen Referenten E. R. Huber, Verfasser des damals maßgebenden Lehrbuches zum „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches“ (2. Aufl. 1939), nach seinen Schriften vor und nach 1933 fragte. Die Vereinigung der Staatsrechtslehrer sei weniger eine Kathedrale der Wissenschaft als ein von persönlichen Beziehungen durchwirkter Karrieremarkt der Wissenschaftler. Die deutsche Staatsrechtswissenschaft sei mit ihrer NS-Vergangenheit inzwischen „fertig“, ohne dass sie je getrauert hätte, weder in den fünfziger und sechziger Jahren noch in den unter Bedrohung und Depression stehenden Siebzigern und später. Ohne eine Nötigung durch die Umstände lebe sie in ihren Traditionen und Kontinuitäten fort.

 

Thematisch unmittelbar schließt sich der Beitrag „Sommer 1970 – Kleine Bewältigung einer kleinen Vergangenheit“ (2003) an. Er schildert einige Episoden an der Universität Heidelberg und ihre Fernwirkungen aus den bewegten siebziger Jahren. Es geht dem Autor um „das Aufbegehren der Jugend gegen die überkommenen (politischen und gesellschaftlichen) Strukturen und für Frieden und die Macht der Liebe“. Er erläutert den Umschlag des friedlichen Protests der Jugend in Gewalt, die Zunahme staatliche Repressionen und beides einander befördernd. Als symbolträchtige Signale dafür nennt er „den Einsatz der Nationalgarde gegen Demonstranten an der Kent State University, die Befreiung von Andreas Baader durch Ulrike Meinhof aus dem Gefängnis, den Kniefall Willy Brandts am Denkmals des Warschauer Ghettoaufstands“ und ein folgendes „Gewitter von Demonstrationen“. Er sieht darin eine weltweite Entwicklung.

 

An der Reihung der symbolträchtigen Ereignisse des Autors fällt auf, dass Baader nach ihm „aus dem Gefängnis“ befreit (besser wohl: gezielt freigeschossen!) wurde. Der Sachverhalt war so: Bei dem genehmigten und von Wachleuten begleiteten Besuch eines wissenschaftlichen Instituts trat Frau Meinhof mit vier mit Schusswaffen ausgerüsteten Begleitern auf, einer trug eine Maschinenpistole mit sich. Ein Institutsangestellter (Georg Linke) und ein Wachmann wurden ohne Grund niedergeschossen und schwer verletzt.

 

Bei der Eskalation in der Universität Heidelberg 1970 spielte der SDS nach Schlink eine spezielle Rolle. Er war „politisch geschlossener und theoretisch rigoroser als der Frankfurter und der Berliner und erwies Lenin eine größere Verehrung“. Das führte im Juni 1970 zu harten Zusammenstößen mit der Polizei, als Demonstranten eine Konferenz mit dem Präsidenten der Weltbank McNamara im „Europäischen Hof“ zu stürmen versuchten. Es gab zahlreiche verletzte Polizisten und Demonstranten. Der Heidelberger SDS wurde daraufhin am 24. Juni 1970 verboten.

 

Unerwähnt bleibt bei Schlink, dass im Februar 1970 an der psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg von 52 Patienten das „Sozialistische Patientenkollektiv“ gegründet worden war. Seinen Kern bildete ein „innerer Kreis“, der vor dem Rest der Mitglieder geheim gehalten wurde und aus ca. 12 Leuten bestand, die sich als „Stadtguerillatruppe“ verstanden und arbeiteten. Diese „Truppe“ um Klaus Jünschke, Margrit Schiller, Lutz Taufer, Bernhard Rössner, Hanna Krabbe Friederike Krabbe und Sieglinde Hofmann bewaffnete sich im Verlauf der Eskalation und formierte vier eigene „Arbeitskreise“, nämlich „Funktechnik“, „Sprengtechnik“, „Fototechnik“ und „Karate“. Gudrun Ensslin bezeichnete sie anerkennend als „Spätlese“. Am 24. Juni 1971 gegen drei Uhr morgens schossen Unbekannte in Wiesenbach bei Heidelberg auf einen Polizeiposten, der eine Verkehrskontrolle durchführte, und flüchteten. Am 22. Oktober 1971 wurde ein Zivilfahnder der Polizei von einem Terroristenpaar in Heidelberg erschossen. Der Weg in die Rote Armee Fraktion zeichnete sich lange ab. Mehr als ein Dutzend Angehörige des Patientenkollektivs wurden Mitglieder der Terrorbande, teilweise in führenden Funktionen.[4] Dieser gemeinschaftliche Übertritt zur RAF erhärtet die These von Gerd Koenen, der den Kern der RAF als ein psychopathologisches Phänomen deutet.[5]

 

Vor diesem Heidelberger Hintergrund nimmt sich die „kleine Vergangenheit“, die der Autor von einem Gerangel vor dem Juristischen Seminar berichtet, in der Tat wie eine Lappalie aus: Ein Professor des öffentlichen Rechts ohrfeigt eine Studentin, die ihn nach seinen Bekundungen zuvor „Dreckschwein“ genannt hatte. Daran schließen sich weitere ähnliche Rangeleien von sog. Streikenden vor blockierten Vorlesungen dieses Professors an. Um den Zorn der Studenten zu erläutern, weist Schlink darauf hin, dieser Kollege habe der Studentenvertretung das „politische Mandat“ abgesprochen – übrigens in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung –, er habe das „Recht als Waffe benutzt“, um die Meinungsfreiheit in der Universität einzuschränken und er habe zudem 1938 „im Willen und Befehl des Führers die Quelle allen Rechts gesehen“. „Studentenstreik“ als historisches Gerichtsverfahren mit gleichzeitiger Vollstreckung?

 

Die zweite Heidelberger Episode betrifft eine Berufungsliste im öffentlichen Recht 1971. Die Studenten verlangten Mitbestimmung im Berufungsverfahren und kritisierten, dass der von den Professoren Ausgewählte ein „Schmittianer“ sei, favorisiert von den in Heidelberg ohnehin stark vertretenen Schülern Carl Schmitts, des Kronjuristen des Dritten Reiches. Zu den Schmitt-Schülern in Heidelberg gehörten u. a. der berühmte Ernst Forsthoff, Hans Schneider und (von 1964-1969) der Lehrer Schlinks, Ernst-Wolfgang Böckenförde, bei dem er sich 1981 in Freiburg habilitiert hat. Böckenförde war Mitherausgeber einer Schmitt-Festschrift und hat einen erheblichen Teil seines Werkes der Verteidigung Schmitts gegen die Kritik an dessen Wirken in der NS-Zeit gewidmet.[6] Schlink selbst hat, wie er schreibt, als Teilnehmer der „wunderbaren Seminare“ Forsthoffs die „Begegnung mit dem theoretischen Reichtum des Staats- und Verwaltungsrechts und die Liebe zu meinem Fach“ zu verdanken. C. Schmitt und seine alten Schüler waren regelmäßige Gäste dieser interdisziplinären Ferienseminare.[7] Die Berufung scheiterte an einer dem Berufenen angedrohten „Aussperrung“ durch die Studenten. Dieser lehnte daraufhin den Ruf ab. Kommentar Schlink: „Die staatliche Politik sah sich dadurch nicht aufgefordert, den Studenten mehr Beteiligungsrechte zu gewähren, sondern machte sich zur Aufgabe, die Entscheidungsfreiheit der Professoren besser zu sichern.“ – Die für Schlink offenbar prägende Möglichkeit der Begegnung mit dem Reichtum des öffentlichen Rechts und die Liebe der Studierenden zu diesem Fach wurden so zeitweise in Heidelberg eingeschränkt.

 

Die dritte Episode an der juristischen Fakultät Heidelberg, die Schlink erzählt, betrifft wiederum Prof. Hans Schneider (schon bekannt durch die Ohrfeigenaffäre) und seinen späteren Umgang mit den juristischen Repräsentanten der Studentenproteste des Jahres 1971. Schlink, inzwischen schon Referendar, lehnte die Gewaltstrategien der Störungen, Blockaden und „Sprengungen“ von Vorlesungen und Seminaren ab, war aber zugleich „entsetzt über die Aggressivität“, mit der die juristischen Professoren „gegen alles kämpften, was ihnen politisch nicht passte“. Er verbindet das mit einem wissenschaftlichen Unwerturteil über diese „politischen Kämpfer“.

 

Einer der Studenten, die 1971 auf Beschluss einer „Vollversammlung“, so der Autor, mit der „Basisgruppe Jura“ versucht hatten, Prof. Schneider am Betreten der Vorlegungsräume zu hindern, hatte inzwischen promoviert (über Carl Schmitt) und habilitiert und war Professor für Sozialrecht an einer Frankfurter Fachhochschule geworden. Schlink stellte dann in den 90er Jahren zusammen mit anderen Frankfurter Mitgliedern (er lehrte damals in Frankfurt) den Antrag, den Privatdozenten Volker Neumann als Mitglied in die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer aufzunehmen. Gegen den Antrag gab es zahlreiche Einsprüche, darunter die von Prof. Schneider und eines anderen Heidelberger Kollegen wegen jener Blockade ihrer Vorlesungen 1971. Auf 14 (!) Seiten schildert der Autor den Ablauf und die Hintergründe dieses Aufnahmeverfahrens aus seiner Sicht und gibt damit einen Einblick in die Interna und in die „Seelenlage“ unter den verschiedenen „Flügeln“ der Vereinigung in jenen Jahren. Der Kandidat Volker Neumann wurde schließlich 1992 aufgenommen. Er ist an der Humboldt-Universität enger Fachkollege des Verfassers. Vielleicht ist die Existenz von persönlichen Netzwerken auch heute bei Berufungen nicht ganz einflusslos?

 

Warum der Verfasser diese Heidelberger Bagatellen („kleinen Vergangenheiten“) unter seinen Titel „Vergangenheitsschuld“ einordnet, ist im Vergleich zu den großen Themen der übrigen Beiträge nicht leicht ersichtlich. Er begründet das mit dem Verweis auf das widerstandslose Nachgeben der Professoren juristischer Fakultäten gegenüber den neuen Herren im Frühjahr 1933. Er meint auch, dass für ihn und seine Generation mit dem Eintritt in die eigenen Karrieren das politische Engagement „verbindlicher“ geworden sei. Die Jahre des moralischen Rigorismus und des naiven Glaubens, die alte Generation sei schuldig und prinzipiell im Unrecht, die junge aber unschuldig und prinzipiell im Recht, seien vorüber gewesen. Bei den Ursachen- und Schuldzurechnungen scheint allerdings das Bewusstsein der prinzipiellen moralischen Überlegenheit noch nachzuwirken. Was gewesen wäre, wenn auch die Professoren sämtlich den revolutionären neomarxistischen Parolen nachgegeben hätten (zu viele waren dazu bereit), diese Frage wird nicht gestellt. Ist das eine Fortwirkung des rigoristischen Haders seiner Generation mit der Wirklichkeit?

 

Der letzte Beitrag „Vergeben und Versöhnen“ gibt einen Vortrag wieder, den der Autor 2004 am Goethe-Institut in Johannesburg gehalten hat. Vor dem Hintergrund der in Südafrika überwundenen Apartheit erneuert er das Nachdenken über den Umgang mit Schuld, Sühne und Vergebung nach der Beendigung einer Bürgerkriegssituation, das Verhältnis und den Umgang zwischen Opfern und Tätern nach einer langen Periode schwerster Unterdrückung mit zahlreichen, staatlich geduldeten und organisierten Unrechtstaten. Der Verfasser erwägt im Hinblick auf das in Südafrika gewählte Verfahren der „Wahrheitskommission“ („Truth and Reconciliation Commission“) die psychologischen Voraussetzungen des Verstehens, Vergebens und Versöhnens. Die Beschränkung dieser Kommission auf die wahrheitsgemäße Identifizierung der Taten und ihrer Täter bedeutet zugleich den Verzicht auf die Verurteilung der Täter, die Einsicht in ihre Schuld verweigern, und auf die Wiedergutmachung an den Opfern. Das ist ein Weg, den viele andere Länder in Europa ähnlich gegangen sind. Der Autor ruft in Erinnerung, dass es ohne die Feststellung der Schuldigen und ohne die Verhängung irgendeiner Sanktion für begangenes Unrecht, ohne eine Verurteilung in einem öffentlichen Verfahren vor einer glaubwürdigen Instanz keine „Erledigung“ der Vergangenheit geben könne. Wenn die Verurteilung und die Wiedergutmachung ausgefallen seien, helfe zwar immer noch das Vergessen. Aber nur die Versöhnung befreie von den Beschädigungen der Vergangenheit. Das Vergessen allein sein kein verlässlicher Helfer.

 

Wiedergutmachung, Verurteilung und auch Versöhnung seien an Rituale gebunden. Gerade auch die Versöhnung habe ihre Rituale und Ikonen. Er erinnert an den Kniefall Willy Brandts in Warschau 1970 als den geglückten Versuch solcher Ikonisierung, ohne dass ihm allerdings bis heute ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Ein früheres, auch im Ergebnis geglücktes Beispiel wäre das gemeinsame Gebet von de Gaulle und Adenauer in der Kathedrale von Reims am 8. Juli 1962 gewesen. Damit begann die erfolgreiche, beiderseits gewollte Aussöhnung der „Erbfeinde“ Frankreich und Deutschland, die von Adenauers und de Gaulles Nachfolgern fortgesetzt wurde. Aber das war vor 1968.

 

Alle Beiträge sind in einer klaren, gleichsam durchsichtigen Sprache geschrieben, auch wenn sie, vor allem in den ersten vier Themen, eher für Fachkollegen zugänglich und verständlich sind. Ihr zusätzlicher Reiz liegt darin, dass der Autor sich nicht auf die „juristische“ Schuld beschränkt, sondern die Fragen des Rechts durchweg mit deren Hintergründen in der Moral und der Sozialpsychologie verknüpft, ohne sie unzulässig zu vermischen. Die minutiösen verfassungs- und strafrechtsdogmatischen Ausdifferenzierungen bereiten dem Leser bisweilen Mühe. Manchmal erscheint die Sprache klarer als der Inhalt.

 

Mutig und eindrucksvoll analysiert der Verfasser auch die verspätete Aufarbeitung der Geschichte der Rechtswissenschaft und der Justiz im Nationalsozialismus, speziell die des öffentlichen Rechts. Er nennt als einen wesentlichen Grund die Verstrickung von Personen und Institutionen der Nachkriegszeit in das Unrecht der beiden deutschen Diktaturen. Zugleich deutet er die Kontinuitäten an, die sich daraus für die Institutionengeschichte der Bundesrepublik und für die Zusammensetzung ihrer Funktionseliten ergeben haben. Die in zwei Beiträgen thematisierte, über fünf Jahrzehnte praktizierte Verweigerung der Staatsrechtslehrervereinigung, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, ist verdienstvoll. Das gilt insbesondere, wenn Mitglieder der jüngeren Generation noch im Jahre 2000 in der Behandlung dieses Themas eine besonders mutige Tat sahen und die Teilnehmer dieser Tagung zu dem skurrilen Fazit kamen, es habe eigentlich eine Staatsrechtlehre de Nationalsozialismus gar nicht gegeben. Hätte man die staatsrechtlichen Autoren dieser Epoche nachträglich einer anderen Disziplin zuweisen wollen?

 

Auch wer den Blickwinkel des Autors als Angehöriger der „68er-Kohorte“ gelegentlich als einseitig und befangen empfindet, wird für den erneuten und immer noch notwendigen Denkanstoß, diese Epoche besser zu verstehen, dankbar sein.

 

Konstanz                                                                                                       Bernd Rüthers



[1] Vgl. dazu die die Diskussion in der frühen Bundesrepublik und zu den Nürnberger Prozessen, dargestellt bei D. Herbe, Hermann Weinkauff (1894-1981), Tübingen 2008, S. 106ff., 112 ff.

[2] Vgl. H. Dreier/W. Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 60, Berlin 2001, S. 9-147; vgl. dazu B. Rüthers, Mut zur Vergangenheit, ZRG GA. 2003, S. 860-873; ferner Rüthers, B.., in: „Zeitschrift für Rechtsphilosophie“, Heft 2/2003, S. 176-183.

[3] Stolleis, M., Geschichte des öffentlichen Rechts, Dritter Band, München 1949, S. 246-414. Ein besonders anschauliches „Literaturverzeichnis“ zur NS-Staatsrechtslehre enthält das 2. Beamtenurteil des BVerfG (E 6, 132 ff.) von 1957. Auf 30 Seiten legt es die Auffassungen der damals führenden deutschen Staatsrechtslehrer zu den Grundlagen des Beamtenverhältnisses nach 1933 und nach 1949 dar. Die Entscheidung sollte zur Pflichtlektüre der Juristenausbildung gehören. Es ging um die schärfste Kontroverse zwischen BGH und BVerfG bis heute. Die damals getroffenen Regelungen bewirken bis heute, dass die Opfer der beiden deutschen totalitären Systeme in den Versorgungsfrage weit besser gestellt sind als die Vollzieher des staatlichen Unrechts und ihre Hinterbliebenen. Vgl. dazu auch Grigoleit, K., Bundesverfassungsgericht und deutsche Frage, 2004, S. 181-202.

[4] Zur Geschichte des Sozialistischen Patientenkollektivs vgl. „ruprecht“ – Heidelberger Studierendenzeitung Nr. 35/2004 und http//mathphys.fsk.uni-heidelberg.de

[5] Koenen, G., „Vesper, Ensslin, Bader“. Urszenen des deutschen Terrorismus, 2003.

[6] Barion, H./Böckenförde, E.-W./Forsthoff, E./Weber, W. (ed.), Epirrhosis, Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968. Vgl. auch E.-W. Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand (Carl Schmitt zum 90. Geburtstag) – Zum Handeln der Staatsgewalt in außergewöhnlichen Lagen, in: NJW 1978, S. 1881-1890; ders., Der Begriff des Politischen als Schlüssel zum staatsrechtlichen Werk Carl Schmitts; in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte. 1991, S. 344–366. Ferner offene und verdeckte Gratulationsbeiträge zu vielen Schmitt-Geburtstagen.

[7] Sie fanden von 1957 bis 1971 jeweils im Herbst statt. Referenten und Teilnehmer waren u. a. C. Schmitt („Die Tyrannei der Werte“, erstmals publiziert 1959), Arnold Gehlen, Armin Mohler, Roman Schnur, Werner Conze, Franz Wieacker, Hans Barion, Joachim Ritter, Pascual Jordan, Hans Schomerus u. a. „Sich den Eingeladenen der älteren Generation in entlarvender Weise zu nähern“, wurde missbilligt, zumal C. Schmitt jeder kritischen, Nachfrage gegenüber zunehmend empfindlich war. Vgl. näher Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, Berlin 1993. S. 200-208.