Schenk, Dietmar, Kleine Theorie des Archivs. Steiner, Stuttgart 2008. 112 S. Besprochen von Thomas Vogtherr.

 

Seit Herrschaft auf Recht gegründet oder das wenigstens behauptet wurde, hatten Archive einen ihrer wesentlichen Daseinsgründe darin, Herrschaft zu sichern, indem sie Rechtstitel bewahrten. In dem Moment, in dem diese Rechtstitel ihre aktuelle Geltung verloren, wurden Archive zu Einrichtungen mit nur mehr historischen Funktionen, durch die Professionalisierung und Akademisierung der Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert gar zu Institutionen der historischen Forschung. Diese Entwicklungen zu verfolgen und danach zu fragen, ob dem Werden der (heute historischen) Archive im Rahmen der Theorie und Praxis staatlicher Herrschaft auch eine Theorie des Archivs zu unterlegen ist, wäre einer der Gegenstände einer (historischen wie gegenwartsorientierten) Archivtheorie.

 

Ein anderer Gegenstand wäre die Frage nach den inneren Gestaltungs- und Ordnungsprinzipien der Archive und ihrer Bestände: In der zunehmend tiefer greifenden Differenzierung archivischer Binnenstrukturen seit dem 16. Jahrhundert bildet sich auch eine als solche empfundene ansteigende Komplexität staatlicher Ordnungsmodelle und gesellschaftlicher Realitäten bis zur Gegenwart ab. Die Illusion einer sachlichen Ordnung von Archiven nach deduktiven Prinzipien entspricht der Illusion von der restlosen Durchstrukturierung von Staat und Gesellschaft nach den Grundsätzen des Rationalismus.

 

Kein Wort von alledem in dem schmalen Bändchen, das von Aleida und Jan Assmann über Maurice Halbwachs bis zu Michel Foucault keine kulturwissenschaftliche Theorie von Rang unerwähnt lässt, ohne dabei mehr als name-dropping zu betreiben. Statt durchgearbeiteter Überlegungen finden sich angelesene Blütensammlungen aus der archivistischen, historischen und kulturwissenschaftlichen Fachliteratur. Statt theoretische Darlegungen zu versuchen und damit dem selbst gewählten Titel zu entsprechen, setzt der Verfasser vor allem das Personalpronomen „ich“ bei der langatmigen Wiedergabe von Anekdoten und Erfahrungsberichten aus der (nota bene:) praktischen Archivarbeit ein. So bleiben manche lesenswerten Ansätze zu Themen wie „Gedächtnis und Archiv“ (S. 30-41) oder „Vom Nutzen des Archivs“ (S. 100-109) in einer ansonsten unbefriedigenden Umgebung seltsam isoliert.

Nicht unterschlagen werden soll bei aller Kritik die Tatsache, dass die Funktion historischer Archive in der Gegenwartsgesellschaft nur dann in vollem Umfang sichtbar werden kann, wenn Archivare nicht allein Fachleute der Informationswissenschaft sind, sondern sich eben auch als Historiker begreifen. Gerade aus einem solchen Selbstverständnis heraus sollte eine Archivtheorie begründbar sein, die weniger weiße Flecken aufweist als die hier vorliegende.

 

Osnabrück                                                                             Thomas Vogtherr