Schäbitz, Michael, Juden in Sachsen - jüdische Sachsen? Emanzipation, Akkulturation und Integration 1700-1914 (= Forschungen zur Geschichte der Juden, Abteilung A Forschungen 18). Hahnsche Buchhandlung, Hannover 2006. 510 S. Besprochen von J. Friedrich Battenberg.

 

Vorliegende Monographie beruht auf einer Dissertationsschrift, die im Wintersemester 2003/2004 von der Fakultät I Geisteswissenschaften der Technischen Universität Berlin angenommen und von der Historikerin Stefi Jersch-Wenzel betreut wurde. Sie ist also nicht eigentlich eine rechts- bzw. verfassungshistorische Monographie. Aber auch wenn hier Gesichtspunkte gesellschaftlicher Veränderung im Vordergrund stehen, so ist doch die rechtshistorische Relevanz unübersehbar. Die nachfolgende Kurzbesprechung soll gerade auf diese Gesichtspunkte aufmerksam machen – das, was der Autor die „sächsische Judengesetzgebung“ nennt.

 

Seit eh und je orientierte sich die wissenschaftliche Diskussion um die Emanzipation der Juden an Preußen, während es zu anderen Territorien meist nur zeitlich oder thematisch begrenzte Einzeluntersuchungen gibt; vor allem die Langzeitperspektive, die auch das frühere 18. Jahrhundert sowie das gesamte spätere 19. Jahrhundert in den Blick nimmt, wird fast regelmäßig ausgeblendet: Man setzt mit der Aufklärung ein und untersucht allenfalls noch die Zeit bis zur Reichsgründung; exemplarisch dafür steht Jacob Katz’ berühmte, 1973 erstmals erschienene (1986 ins Deutsche übersetzte) Monographie „Out of the Ghetto. The Social Background of Jewish Emancipation 1770-1870”; zeitlich noch enger konzipiert ist dann David Sorkins „The Transformation of German Jewry, 1780-1840“ (Oxford 1987), der damit die Transformationsphase auf ein gutes halbes Jahrhundert beschränkt. Mit Recht weitet der Autor der vorliegenden Arbeit die Zeitspanne aus, weil nach ihm der rechtlichen Gleichstellung der Juden in seinem Untersuchungsgebiet eine lange und wechselvolle Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern vorausging und auch die vorhergehende Entwicklung nicht außer Acht gelassen werden darf. Auch der Rezensent vertritt die Ansicht, dass im Zeichen des merkantilistischen Staates schon seit dem Ende des 18. Jahrhundert eine Entwicklung vorbereitet wurde, die schließlich in Aufklärung und „bürgerliche Verbesserung“ einmündete und daher bei einer tiefergehenden Untersuchung nicht ausgeblendet werden darf (Überblick dazu: J. Friedrich Battenberg, Die Juden in Deutschland vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, 2001, S. 41ff.). Diese erstmals von Asriel Schochat vertretene These (Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland, erstm. 1960, deutsch 2000) ist allerdings noch nicht allenthalben in der Forschung bekannt. Vor allem im Zusammenhang mit der Idee vom „nützlichen Untertanen“, wie sie in der kameralistischen Lehre entwickelt wurde und im merkantilistischen Fürstenstaat Fuß fasste, kam es zu einer positiveren Bewertung der Juden. Es ist nur merkwürdig, dass der Autor dies in seinem Buch nicht thematisiert, obwohl doch mit Melchior von Osse Sachsen eines der Ursprungsländer merkantilistischer Ideen war.

 

Der Autor des vorliegenden Werkes legt ausdrücklich größeren Wert auf eine Untersuchung der Zeitspanne des 19. Jahrhunderts. Die ältere Zeit seit Kurfürst Friedrich August I., auf den die Wiederzulassung der Juden in Dresden und Leipzig zurückging (auf der Leipziger Messe waren sie freilich schon vorher vertreten), stellt für ihn eine Art Vorgeschichte zu seinem eigentlichen Thema dar. In diesem Zusammenhang geht er ausführlich auf die Ära des Premierministers Heinrich Graf von Brühl und des Kurfürsten Friedrich August II. (1733 bis 1763) ein. Die 1746 eingeführte Judenordnung (im Anhang als Faksimile abgedruckt), die nach ihm Restriktionen für die Juden brachte, streift er nur sehr kursorisch, obwohl gerade hier eine ausführlichere, vergleichende Stellungnahme im Hinblick auf weitere zeitgenössische Judenordnungen angebracht gewesen wäre. Dies gilt in ähnlicher Weise für die Judenordnung von 1772 (ebenfalls im Anhang als Faksimile abgedruckt), deren Konzeption er in den Prozess der beginnenden Emanzipation stellt, deren Eigenwert er aber nicht näher beleuchtet. Dafür interessiert er sich mehr für die gesellschaftlichen Veränderungen, für den Diskurs der Beamtenschaft, für Versuche zur Vertreibung der Juden und für die wirtschaftliche Struktur der sächsischen Judenschaft.

 

Sehr viel detaillierter geht der Autor im Rahmen der nun folgenden zehn Abschnitte auf die Entwicklung seit dem zu Ende gehenden 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert ein, also den Zeitraum, der für die Juden den „Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft“ (Jacob Toury) und die – niemals vollendete – Integration in die deutsche Gesellschaft brachte. Die auch in Sachsen sichtbar werdenden Ansätze der „bürgerlichen Verbesserung“, wie sie erstmals durch den preußischen Beamten Christian Wilhelm von Dohm propagiert wurden, sind Gegenstand des zweiten Abschnitts. Das Reformwerk, das auch im Sachsen der Rheinbundzeit Fuß fasste, blieb unvollendet und brach durch die Vorgaben des Wiener Kongresses wieder zusammen. In der Reaktionszeit nach dem Kongress, in dem die Idee des christlichen Staates in der Nachfolge des Friedrich Julius Stahl in den Vordergrund gestellt und das rechtliche Schicksal der Juden als „Judenfrage“ von der Frage der Emanzipation wieder weiter abgerückt wurde, gab es zwar erneut Ansätze zur Reform; doch blieben auch sie letztlich stecken. In einem weiteren Abschnitt geht der Autor auf die „Judendebatten“ der Reformlandtage von 1833/34 und 1836/37 ein. Zu entscheidenden gesetzlichen Verbesserungen kam es zwar nicht; deutlich wurde aber, dass gerade in dieser Zeit die Bestrebungen der Judenschaft zur Übernahme der sozialen und kulturellen Normen und Werte der nichtjüdischen Gesellschaft zutage traten. Auf diese geht der Autor deshalb auch näher im fünften Abschnitt seiner Monographie ein und beschäftigt sich hier namentlich mit den Reformen im Kultus- und Schulwesen, der Konstituierung der Gemeinden und dem Synagogenbau. Dennoch aber blieben die Widerstände der christlich orientierten Gesellschaft des Vormärz bestehen, und auch die Landtagsdebatten der Jahre 1839 bis 1846 brachten keine weiteren Verbesserungen: Die Reformvorhaben blieben unausgeführt und die Debatte stagnierte. Erst die Revolution von 1848/49, Gegenstand des siebten Abschnitts, führte zur rechtlichen Emanzipation der Juden in Sachsen. Die nun folgende Reaktionszeit brachte zwar – wie allenthalben in Deutschland – erneut Rückschläge; doch ließ sich die Emanzipation letztlich nicht mehr aufhalten, so dass spätestens mit der Gründung des Bismarckreiches auch in Sachsen die Juden in vollem Umfang an den Rechten der übrigen Einwohnerschaft partizipieren konnten.

 

Standen in den Abschnitten 2 bis 10 die Gesetzgebungsdebatten und der Diskurs der Beamten und Abgeordneten zur rechtlichen Emanzipation der Juden, zur „Judenfrage“ im Vordergrund – Debatten, die immer wieder mit der sich verändernden innerjüdischen Situation konfrontiert wurden -, so ist der elfte Abschnitt den weiteren gesellschaftlichen und politischen Folgen gewidmet. . Der Autor geht hier auf die Rolle der nun in vollem Umfang rechtlich integrierten Juden im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ein, bezieht aber auch die Entwicklung des modernen Antisemitismus in seine Überlegungen mit ein, der sich vor allem auch im Wahlverhalten der Bevölkerung festmachte.

 

Am Ende kommt der Autor zum Ergebnis, dass sich die sächsische Judengesetzgebung und Judenpolitik im 18. Jahrhundert nicht wesentlich von dem in anderen Herrschaftsgebieten des Heiligen Römischen Reiches unterschieden habe. Die Stagnation der sächsischen Judenpolitik im Zeitalter der eigentlichen Emanzipation führt er auf den allgemeinen innerpolitischen Stillstand während der Regierungszeit Friedrich Augusts III. (I.) von 1768 bis 1827 zurück. Erst seit den dreißiger Jahren kam es zu Veränderungen, die der Autor aber nicht genügend in den gesamteuropäischen Kontext einbindet. Auch wenn nach einem schwierigen Prozess der gesellschaftlichen Diskussion die rechtliche Emanzipation schließlich gelang, so wurde die Integration der Juden in die im Übrigen christliche Gesellschaft in Sachsen – wie auch anderswo – nie wirklich abgeschlossen. Deshalb konnten auch antisemitische Ideen auf fruchtbaren Boden fallen. Allerdings sagt der Autor auch deutlich, dass trotz unvollständiger Integration der Weg in die Vertreibung und Ermordung unter den Nationalsozialisten in dieser Zeit keineswegs vorauszusehen oder gar vorbestimmt war.

 

Die insgesamt sehr detailreiche Arbeit bringt auch für den Rechts- und Verfassungshistoriker reichen Ertrag. Über das auch Sachbegriffe enthaltende Register kann er leicht Zugriff auf einzelne rechtshistorisch wichtige Probleme nehmen. Die Bibliographie ist trotz ihres Umfangs unvollständig und berücksichtigt zu wenig die übergreifende (nicht speziell auf Sachsen bezogene) Forschungsliteratur. Die im Anhang als Faksimile wiedergegebenen Gesetzestexte sind hilfreich, aber für den akademischen bzw. studentischen Gebrauch wenig geeignet, da sie wie schlechte Fotokopien zeitgenössischer Regierungsblätter und Gesetzblätter wirken. Hier hätte sich der Autor die  Mühe machen sollen, die Vorlagen zu transkribieren und kritisch mit entsprechendem wissenschaftlichen Apparat zu edieren. Als Vorbild hätte etwa Ismar Freunds zweiter Band über „Die Emanzipation der Juden in Preußen“ oder Selma Sterns „Der Preußische Staat und die Juden“ dienen können – klassische Editionen, mit denen der weitere wissenschaftliche Diskurs über den „Eintritt der Juden in die bürgerliche Gesellschaft“ entscheidende Impulse erhalten hat. Vielleicht sollte sich der Autor anregen lassen, eine solche Edition als separates Werk nachzuliefern, nachdem er ohnehin die dazu wichtigen Quellen gesichtet hat.

 

Darmstadt                                                                                          J. Friedrich Battenberg