Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, hg. v. Dölemeyer, Barbara/Mohnhaupt, Heinz/Somma, Alessandro (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte, Rechtsprechung. Materialien und Studien 21). Klostermann, Frankfurt am Main 2006. X, 423 S. Besprochen von Filippo Ranieri.

 

Im hier anzuzeigenden Sammelband werden die Beiträge veröffentlicht, die bei einer Tagung am Frankfurter Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte im Mai 2004 gehalten worden sind. Die Wiederkehr der zweiten Jahrhundertfeier des französischen Code civil im Frühjahr 2004 bot in ganz Europa und insoweit auch in Deutschland Gelegenheit, historisch und rechtsvergleichend über die Wirkungsgeschichte der napoleonischen Zivilrechtskodifikation nachzudenken. So sei hier, aus der Perspektive der deutschen Rechtsgeschichte, an die Dissertation Cordula Müller-Hogrebes, Der rheinische Jurist Josef Bauerband, Die Lehre des rheinischen Rechts im Spannungsfeld deutsch/französischer Rechtstraditionen, 2005 (dazu W. Schubert in dieser Zeitschrift Germ. Abt. 123 [2006], S. 624-627), erinnert. Ebenso sei hier Werner Schuberts längere Rezension in der Germ. Abt. 123 (2006), S. 643-649 erwähnt. In diesen Rahmen ordnete sich auch die Frankfurter Tagung ein. Das Besondere und, man kann freilich auch hinzufügen: das Originelle, dieses Projekts war die Verlagerung des Schwerpunkts von der Kodifikationsgeschichte auf die Wirkungsgeschichte des französischen Zivilgesetzbuchs in der Justizpraxis. Bekanntlich galt der französische Code civil bereits während der napoleonischen Zeit in vielen kontinentaleuropäischen Territorien. Nach der Restauration blieb die französische Gesetzgebung, etwa im Rheinland, in Belgien, in den Niederlanden und in weiten Teilen der italienischen Halbinsel, weiterhin in Geltung. Die Kernfrage der Tagung lautete insoweit, wie, unter welchen wissenschaftlichen, sprachlichen und kulturpolitischen Voraussetzungen und mit welchem Ergebnis das französische Recht in der Justizpraxis Anwendung erfahren hat. Über das Thema existieren zwar vereinzelte Untersuchungen. Für etliche europäische Territorien betrat aber die Tagung damit Neuland. In der Tat liefern einige Beiträge jedenfalls wirklich Neues auf dem Gebiet der Wirkungsgeschichte des Code civil in Europa. Zunächst seien hier die im Band nunmehr vorliegenden Beiträge aufgelistet: Barbara Dölemeyer, C’est toujours le français qui fait la loi – Originaltext und Übersetzung (S. 1-20), Anhang (S. 21-35); Heinz Mohnhaupt, Die Gerichtspraxis zum Code civil im Königreich Westphalen zwischen Transplantation und Restauration (1807-1813) (S. 37-60); Jürgen Brand, Der Code civil als Brücke zum französischen und deutschen Arbeitsrecht (S. 61-103); Hans-Peter Haferkamp, Der ordre public interne in der Rechtsprechung zum Rheinischen Recht (S. 105-127); Werner Schubert, Die Rechtsprechung der Trierer Cour d’appel in Familien- und Erbrechtssachen nach den Urteilssammlungen von Johann Birnbaum (S. 129-171); Stefan Geyer, Vom ‚Wesen der Ehe’. Das französische Eherecht in der Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts (S.1 73-196); Klaus Luig, Die Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Zession nach französischem Recht (S. 197-216); Andreas Thier, Actio negatoria, Nachbarrecht und Industrialisierung in der deutschen Rechtsprechung zum Code civil (S. 217-237); Jan H.A. Lokin, Rechtsprechung zum Code civil in den Niederlanden (S. 239-252); Dirk Heirbaut, Les juges belges face au Code civil aux 19ème et 20ème siècles: l’exemple des troubles de voisinage (S. 253-272); Michele Luminati/Nikolaus Linder, Der Code civil als Provokation: Der richterliche Umgang mit dem Code civil im Berner Jura (1815-1912) (S. 273-290); Danuta Janicka, Einige Institutionen des französischen Obligationenrechts in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes Polens in der Zwischenkriegszeit (1919-1939) (S. 291-308); Mario Montorzi, Il caso della Toscana: una terra di diritto giurisprudenziale e forense di fronte alla cultura ed alle tensioni dell’omologazione codicistica (S. 309-357); Claudia Amodio, Il Code civil nella giurisprudenza toscana della Restaurazione (S. 359-369); Alessandro Somma, Il codice civile francese come simbolo. Il Ducato di Genova e il diritto dei contratti nella giurisprudenza (1815-1837) (S. 371-393); Lorenzo Sinisi, The application of the Code civil in the Duchy of Genoa (1815-1837). Aspects of The Genoese Senate’s case law on civil matters, with particular regard to family law and succession (S. 395-412); Wilhelm Brauneder, Zum Code civil in Österreich (S. 413-423).

 

In ihrem Zuschnitt, im gewählten Schwerpunkt und auch in ihrer Länge unterscheiden sich die einzelnen Beiträge beträchtlich. So geht Barbara Dölemeyer vor allem auf die verschiedenen Übersetzungen der französischen Zivilrechtskodifikation und auf die damit verbundenen sprachlichen und rechtstechnischen Probleme ein. Als Anlage liefert sie eine nahezu vollständige bibliographische Erfassung dieser Übersetzungen. Einige Beiträge (Heinz Mohnhaupt für das Königreich Westphalen; Alessandro Somma für das Herzogtum Genua) sind der Geltung und Wirkung der napoleonischen Kodifikation in einzelnen Territorien insgesamt gewidmet. Andere Beiträge wiederum haben einen rechtsthematischen Schwerpunkt, etwa das Arbeitsrecht bei Jürgen Brand, die Rechtskategorie des „ordre public“ bei Hans-Peter Haferkamp, die Ehe bei Stefan Geyer, die Forderungszession bei Klaus Luig, das Nachbarschaftsrecht bei Dirk Heirbaut, um nur einige hier zu erwähnen. Einige Beiträge wiederum analysieren spezifisch und im Einzelnen eine oder mehrere Rechtsprechungssammlungen. Hier sei insbesondere der sehr ausführliche Aufsatz Werner Schuberts über das Trierer Appellationsgericht in der napoleonischen Zeit genannt. Hier analysiert der Verfasser die Urteilssammlung von Johann Birnbaum, insbesondere die dort veröffentlichten Familien- und Erbrechtsentscheidungen. Vergleichbar ist etwa die Untersuchung Lorenzo Sinisis, die systematisch die Rechtsprechungssammlung des Senats von Genua zwischen den Jahren 1826 und 1847 im Einzelnen analysiert und zahlreiche Entscheidungen zum französischen Recht, die dort publiziert sind, bespricht. Auch im Vergleich zum bereits existierenden Forschungs- und Literaturstand liefern die einzelnen Beiträge Unterschiedliches. Zu manchen Territorien existierte bereits eine reichhaltige Literatur, und nicht zuletzt auch eine reichhaltige Dokumentation im Coing’schen Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte. Zu manch Anderem betreten die Beiträge dagegen geradezu Neuland. Ich denke etwa an die Offenlegung der Beziehungen der Väter des österreichischen ABGB zur französischen Kodifikation, auf die Wilhelm Brauneder in seinem kurzen, aber sehr lesenswerten Beitrag eingeht. Beide naturrechtlichen Kodifikationen haben strukturell durchaus Verwandtschaftsaspekte. Interessant ist zu erfahren, dass offenbar die österreichischen Väter der Kodifikation von 1811 die französische Gesetzgebung keinesfalls ignoriert haben. Umgekehrt blieb das Fürstentum Liechtenstein, obwohl Mitglied des napoleonischen Rheinbundes, doch der österreichischen Kodifikation treu, die bekanntlich in Liechtenstein im Jahre 1812 eingeführt wurde und bis heute übrigens, wenigstens z. T., fortgilt. Besonders interessant ist ferner eine vergleichende Lektüre einzelner Beiträge. Daraus hat der Rezensent einige wertvolle Einblicke gewonnen. Offenkundig liefert die Wirkungsgeschichte des französischen Code civil in der europäischen Justizpraxis eine weitere Bestätigung der allgemeinen rechtstheoretischen Einsicht, dass eine Identität der normativen Gesetzesgrundlage keinesfalls eine identisch oder ähnliche Rechtsprechung gewährleistet. Der französische Code galt entweder sogar in Originalfassung oder in einer wörtlichen oder fast wörtlichen Übersetzung in einer großen Anzahl von europäischen Staaten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. In Polen galt das Dritte Buch immerhin bis 1933, als das polnische Obligationenrecht in der neu entstandenen polnischen Republik in Kraft trat. Trotz einer identischen Textgrundlage stellt man allerdings fest, dass die Rechtsprechung in einigen Ländern sich keinesfalls sklavisch am Vorbild der Judikatur der damaligen Cour de Cassation orientiert hat. So lehnte etwa die polnische Rechtsprechung auch im 20. Jahrhundert trotz Geltung des französischen Rechts oder trotz Übernahme von gesetzlichen Regelungen aus dem französischen Recht weiterhin eine breite Anerkennung des immateriellen Schadens ab. Darin kann man die Wirkung des Einflusses der deutschen Pandektistik auf das polnische Zivilrecht wieder erkennen (S. 305-306). Ähnliches gilt übrigens auch für die niederländische Rechtspraxis und, wie der Rezensent hier hinzufügen darf, für die Rechtsprechung des rheinischen Senats des Reichsgerichts, der es gerade auf dem Gebiet des immateriellen Schadenersatzes bis Ende des 19. Jahrhunderts streng ablehnte, die bereits damals großzügige französische Judikatur zu übernehmen. In anderen Gebieten blieb dagegen die Rechtsprechung den rechtstechnischen und auch rechtspolitischen Entscheidungen des Code getreu, und zwar, obwohl die wissenschaftliche Orientierung eine andere war. Exemplarisch hierfür sind die Befunde Klaus Luigs über die Rechtsprechung des Reichsgerichts über die Forderungszession im rheinischen Recht. Trotz des Einflusses der Pandektistik scheint das Reichsgericht hier die Lösungen und die Entscheidungen des Code getreu respektiert zu haben. Anders etwa die niederländische Rechtsprechung. Hier zeigt Jan Lokin, dass der Hoge Raad in der Auslegung des Burgerlijk Wetboek von 1838 eigene Wege ging. Solche Untersuchungen bedürfen der systematischen und recht mühevollen Auswertung von Rechtsprechungssammlungen. Nicht alle Tagungsbeteiligten haben sich der Mühe einer solchen Erschließung des bereits auch gedruckten Entscheidungsmaterials unterzogen. Als Ausnahme für die italienischen Territorien dürfen der bereits erwähnte Beitrag Lorenzo Sinisis über die Genueser Rechtsprechung des dortigen Senats und ebenso der Beitrag Claudia Amodios gelten, wo immerhin auch einzelne Gerichtsentscheidungen systematisch erwähnt werden. Das vorhandene gedruckte Entscheidungsmaterial ist gerade für die italienischen Territorien der Restaurationszeit beträchtlich (siehe hier: Länderbericht Italien, in: Gedruckte Quellen der Rechtsprechung in Europa, hg. und eingeleitet v. F. Ranieri, II, 1992, S. 489-553). Alessandro Somma und auch Mario Montorzi gehen relativ wenig und z. T. gar nicht auf die Justizpraxis ein. Es wäre in diesem Zusammenhang übrigens zu erwähnen, dass es für die napoleonische Zeit keinesfalls erforderlich ist, Archivbestände hierfür zu erschließen. Die zwei großen Rechtsprechungssammlungen von Dalloz und Sirey enthalten in ihren ersten Jahrgängen bis 1813 zahlreiche Entscheidungen des Pariser Kassationsgerichts zu italienischen Fällen. Nach der damaligen Technik der Präsentation des Entscheidungsmaterials werden dabei auch die Entscheidungen der italienischen Vorinstanz und z. T. auch die Parteienschriften wieder gegeben. Eine systematische Auswertung dieser zwei Sammlungen für diese ersten Jahre würde bereits wertvolles Material auch für die Anwendung des Code Napoleon in den italienischen Territorien der napoleonischen Zeit wiedergeben. Alles in allem bietet der Band viel Neues und wichtige Einblicke zur Wirkungsgeschichte einer großen Zivilrechtskodifikation in der europäischen Justizpraxis des 19. Jahrhunderts. Bereits aus diesem Grund empfiehlt er sich als Ausgangspunkt für künftige Untersuchungen zur neueren europäischen Rechtsgeschichte und europäischen Zivilrechtsvergleichung.

 

Saarbrücken                                                                                       Filippo Ranieri