Rheinische Landesgeschichte an der Universität Bonn. Traditionen - Entwicklungen - Perspektiven, hg. v. Groten, Manfred/Rutz, Andreas. V & R unipress/Bonn University Press, Göttingen 2007. 327 S. Besprochen von Alois Gerlich.

 

Während der Reformen in Nordrhein-Westfalen hat man dem 1920 gegründeten Institut für Rheinische Landesgeschichte die Eigenständigkeit genommen. Das ist der Hintergrund für die Entstehung dieses Buches. Soll man es beurteilen als einen Schwanengesang mit Darbietung einer Reihe vorzüglicher Abhandlungen von führenden Gelehrten in ihren Disziplinen? Oder: Gab das administrative Ereignis den Ansporn zur Besinnung aus Trotz? Wie auch immer man sich in dieser Alternative entscheiden mag, hier gilt es den Wert eines wissenschaftlichen Werkes mit seinem vielfältigen Inhalt anzuzeigen.

 

In einer Rückschau werden zunächst sieben Abhandlungen über die Geschichte des Instituts vereint, in vier wird eine Musterung der gegenwärtigen Forschungen geboten, an das Ende stellte man ein Verzeichnis der historischen Dissertationen am Institut von der Gründung bis zum Jahre 2005 und eine Auflistung der in Ferienkursen, Lehrgängen und Tagungen behandelten Themen, als Gesamtübersicht gestaltet von Jochen Hermel (S. 267-315). – Die Reihe der Abhandlungen umreißt Marlene Nikolay-Panter mit einer bescheiden nur als ‚Skizze‘ bezeichneten, jedoch stattlichen Überschau den das Werk vorgebenden Rahmen der Geschichte und methodischen Ansätze (S. 11-37). Als die unerreichte Kennerin und Dame im Mittelpunkt des Instituts bringt sie einen bedeutenden Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte in Deutschland. Ein Beschluss der philosophischen Fakultät vom 21.Januar 1920 und die Zustimmung des preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung am 24. September 1920 brachten die Errichtung im rechtlichen Status eines Instituts ‚an‘ der Universität, der jahrzehntelang aufrecht erhalten wurde bis zu dessen Aufhebung 1977. Der erste Vorsitzende war Hermann Aubin bis zu dessen Berufung an die Universität Gießen 1926, der zweite Vorsitzende war der Bonner Germanist Theodor Frings. Aubins Nachfolger wurde Franz Steinbach, dem 1961 Franz Petri, weiterhin Edith Ennen, Georg Droege, Wilhelm Janssen und Manfred Groten folgten. Bei der Gründung entstand eine Abteilung für das Rheinische Wörterbuch unter Betreuung durch Josef Müller. Später eine für die Siedlungs- und Kulturgeschichte unter der Leitung Leo Weisgerbers, die von 1946 bis 1967 bestand. Eine Umorganisation von 1964 führte die germanistischen Forschungsvorhaben zusammen in einer einheitlichen Abteilung unter Rudolf Schützeichel, während die Volkskunde abgespalten blieb mit Betreuung durch Matthias Zender. Marlene Nikolay-Panter weist auf weitere Spezialisierungen hin, denen hier nicht weiter nachgegangen werden soll. Alle diese Maßnahmen blieben darauf ausgerichtet, bei im Zuge wissenschaftlicher Eigenentwicklungen vorgenommenen inhaltlichen Differenzierungen die Einheit der Ausrichtung auf den Niederrheinraum und die benachbarten Regionen zu wahren. Für alle war die Darstellung mit Hilfe der Kartographie verpflichtend. Ein hochrangiges Ergebnis dieser Entwicklung war der 1926 erschienene ‚Geschichtliche Handatlas der Rheinprovinz‘, der nach dem Wegfall der Benennung nach der Provinz infolge der Auflösung Preußens und nach grundlegender Neubearbeitung 1950 den Titel ‚Geschichtlicher Atlas der deutschen Länder am Rhein‘ erhielt. Ihm zur Seite steht dank der Initiative Edith Ennens seit 1970 der in Lieferungen erscheinende ‚Rheinische Städteatlas‘. Flankierend zu den kartographischen Arbeiten wurde 1926 das Aufsehen erregende Werk ‚Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden‘ von Aubin, Frings, Müller. Gestalter des Instituts in der Frühzeit und dann weit darüber hinaus wirkend war Hermann Aubin. Frau Nikolay-Panter geht in einer zweiten Abhandlung auf  die Gründung und frühen Jahre des Vereins für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande ein (S. 129-156). Die ‚Rheinischen Neujahrsblätter‘, Fortbildungskurse und die Öffentlichkeitsarbeit des Instituts behandelt Georg Mölich (S. 113-128), H. L. Cox beschäftigt sich mit der Abteilung Rheinische Volkskunde im Institut und dem Atlas der deutschen Volkskunde (S. 95-112), den Grundzügen der Sprachforschung von der Dialektgeographie zur Variationslinguistik gehen Walter Hoffmann/Thomas Klein nach (S. 67-94).

 

Die Mitte des Werks – nicht nur im Sinne des Buchbinders – nimmt die Abhandlung von Mattias Werner über die deutsche Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert – Aufbrüche, Umbrüche, Perspektiven, ein (S. 157-178). Er nennt Hermann Heimpel, der 1956 die Landesgeschichte etwas euphorisch zur „ hohen Wissenschaft“ erklärte, weil diese besonders die Verfassungsgeschichte vertieft habe. Doch inzwischen sei sie nach Werners Befunden nicht mehr in dieser bei Heimpel ‚hochgemuten‘ Einschätzung geblieben, wie man etwa im Fehlen bei einem Historikertag oder im Mangel an Resonanz bei den oberflächlichen Medien beobachten kann. Wichtiger als derartige Verkennungen in der Bewertung des Faches sei die Unterstellung, Landesgeschichte habe sich in den Dienst der Ideologie des Dritten Reiches begeben und instrumentalisieren lassen. Mangelhafte finanzielle Ausstattungen, Wegfall und Umwidmung von Lehrstühlen sind in der Tat Symptome, die man Ernst nehmen muss, weil sie zusammen mit marktschreierischen Ergüssen von Zweit- und Drittrangigen meinungsbildend sein können. Werner fordert zunächst, man müsse die Frage des Selbstverständnisses des Faches aufgreifen, für das eine Besinnung auf die seit den Ansätzen im Ancien régime und insbesondere seit Karl Lamprecht (1856-1915) erzielten reichen Ergebnisse in allen Teilen dieser vielgliedrigen Disziplin Standorte auf sicherem Grund bieten. Werner nennt zusammen mit Lamprecht Rudolf Kötzschke (1867-1949), der in Leipzig 1906 mit seinem Seminar für Landesgeschichte und Siedlungskunde die wegweisende universitäre Einrichtung schuf. Vorausgegangen war die Schaffung eines Ordinariates für Bayerische Landesgeschichte an der Universität München. Hermann Aubin nahm in Bonn die Leipziger Ansätze auf, entwickelte aber durch die institutionalisierte Interdisziplinarität die weitere Forschungsbreite und Forschungstiefe. Der Frankfurter Historikertag von 1924 animierte die Gründung universitärer und außeruniversitärer Einrichtungen, für die das Bonner Institut das Vorbild bot. Werner weist auf die Folgewirkungen, besonders im Bereich der Siedlungs-, Rechts- und Verfassungsgeschichte hin, nennt besonders die Forschungen von Edmund E. Stengel in Marburg, Theodor Mayer in Freiburg und Bernhard Schmeidler in Erlangen, kritisiert aber auch eigensinnige Individualisierungen, die manchmal zum diffusen Bild des Faches führen konnten. Gegen diese Gefahr empfiehlt er mit Recht die Rückbesinnung auf den ‚alten‘ Lamprecht, die keine konservative Verengung bringt, offen macht für Erkenntniszuwachs aus der modernen Sozial- und Alltagsgeschichte, beiträgt zur Schaffung regionaler oder auf das Land bezogener Identitäten (S. 176ff.).

 

Zum Rückblick in die Institutsgeschichte gehört Andreas Rutz mit der Gewichtung der historischen Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Dissertationen (S 39-67). Als erstes Ergebnis stellt er fest, dass zahlenmäßig die historischen Themen das Gros stellen, insofern vergleichbar mit der Buchreihe ‚Rheinisches Archiv‘. Sehr bemerkenswert ist der Vergleich der Forschungszahlen bei Lehrstuhlinhabern und Mitarbeitern, die das enorme Engagement sichtbar werden lassen. Aufschlussreich ist die Statistik der Betreuer mit Steinbach an der Spitze. Inhaltlich stellen Untersuchungen über mittelalterliche Probleme den stärksten Anteil. Die späteren Epochen sind deutlich weniger vertreten. Auch bei Tagungen ist diese Gewichtung zu sehen. Wirtschafts-, sozial- und verfassungsgeschichtliche Anliegen sind infolge der engen Verbindung in den jeweiligen Forschungsansätzen zumeist den politikhistorischen zuzuordnen. Bei den Tagungen ist der Trend zum Mittelalter und der frühen Neuzeit ebenfalls stark. Aufmerksamkeit beanspruchen die Überlegungen des Verfassers zum Thema „Westforschung“. Leute aus dem zweiten oder dritten Glied, die sich im Eigenbau Historiker nennen, unterstellen den älteren Forschern, sie hätten mit ihren Werken über die Geschichte von heute französischen oder belgischen Regionen ideologische Hilfestellung für die Vorbereitung des Ersten und besonders des Zweiten Weltkrieges geboten. Das Bonner Institut soll in der Saarfrage zu Annexionslegalisierungen beigetragen haben. Immer ergibt sich die Abwegigkeit der von in Sachfragen reichlich Unbedarften aufgestellten Behauptungen. – Als weiterbestehende Aufgaben nennt Rutz: Interterritoriale Verflechtungen, Migration, Kulturtransfer, Geschlechtergeschichte, Konfessionalisierungen und sozialgeschichtliche Entwicklungen. Hier bedarf es der intimen Kenntnis territorialer, diözesaner und landschaftlicher Gegebenheiten als Voraussetzung für Ansatz und Durchführung eines Anliegens, das heute gleichermaßen Regionen beiderseits einer Staatsgrenze betrifft (bes. S. 66).

 

Zu den derzeitigen Aufgaben im Institutswirken und weiteren Projekten werden vier Abhandlungen gebracht. Manfred Groten erörtert Perspektiven der mediävistischen Landesgeschichtsforschung (S. 181-195). Er weist auf die Offenheit der Suche nach Objekten, Inhalten und Methoden hin, wie sie Ludwig Petry 1961 nach der Gründung des Mainzer Instituts für Geschichtliche Landeskunde in einer Studie vorlegte. Groten stellt in seinem Forderungskatalog der Grundbedingungen heraus, dass stets der Quellenbezug gewährleistet sein muss. Mit der zweiten Forderung drängt er darauf, Ergebnisse einer landesgeschichtlichen Untersuchung stets in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Die Möglichkeit, in eine vergleichende Landesgeschichte einzutreten, sollte gegeben sein. Hier weist er auf die Kultur-, Verfassungs-, Sozial-, Politik- und Reichsgeschichte hin. Ihm geht es darum, den Menschen als soziales Wesen, als Subjekt, als Schöpfer von Verfassung; von guter Polizey und Ordnung zu erweisen (S. 195). - Auf die Aufgaben der Frühneuzeitforschung geht etwas breiter Stephan Laux ein (S. 197-231) ein. Er fordert, dass die drängenden Aufgaben – auch – der rheinischen Landesgeschichtsforschung künftig in erster Linie aus allgemeingeschichtlich relevanten Fragestellungen hergeleitet werden sollten (S. 230). Dem folgt der Beitrag Christoph Nonns, Was ist und zu welchem Zweck betreibt man Landeszeitgeschichte ? (S. 233-250). Den hier tätigen Forscher umschreibt er: Er kann ‚nur‘ ein zurückhaltender Dienstleister sein, der seinen Service gerne denjenigen zur Verfügung stellt, die ihn suchen - und die bereit sind, wissenschaftliche Antworten zu akzeptieren (S. 249). Er warnt mit Recht davor, Landesgeschichte als „Sinnstiftungsagentur“ vor den Karren von Partikularinteressen spannen zu lassen. – Aus der alten Verbindung der Disziplinen sieht Winfried Schenk die historische Geographie als historische Regionalwissenschaft und geht ein auf die ‚Produktion‘ von Regionen durch die historisch-geographische Forschung (S. 251-264). Er analysiert die Wahrnehmung des Rheintales als Landschaft und sieht beispielsweise die Zisterzienser als Gestalter von Kulturlandschaft, um hier eine Aufgabe zu benennen.

 

Nach wissenschaftlichem Referat sei noch ein Wunsch genannt: Das Buch möge beitragen zur Stabilisierung des Faches der geschichtlichen Landeskunde. Hier sind Universtäten, Staatskanzleien, Ministerien, nachgeordnete Behörden, Vereine und Gesellschaften, Stadt- und Gemeinderäte angesprochen und eingeladen zur Lektüre im Sinne der Bildungspolitik unserer Gegenwart.

 

Wiesbaden                                                                                                    Alois Gerlich