Recht und Gericht in der Kirche und Welt um 900, hg. v. Hartmann, Wilfried unter Mitarbeit von Grabowsky, Annette (= Schriften des historischen Kollegs 69). Oldenbourg, München 2007. IX, 249 S., 1 Kart. Besprochen von Steffen Schlinker.
Der vorliegende Tagungsband vereint 11 Aufsätze renommierter Fachwissenschaftler, denen Referate im Rahmen eines Kolloquiums des Historischen Kollegs zugrunde liegen, das unter Leitung Wilfried Hartmanns vom 6.-8. April 2005 zum Thema Recht und Gericht in Kirche und Welt um 900 veranstaltet wurde. Der Aufsatz Wolfgang Kaisers zur Fortwirkung des römischen Rechts im frühen Mittelalter fehlt leider. Der Band widmet sich dem sogenannten saeculum obscurum, dem Jahrhundert zwischen ca. 850 und 950, der Zeit des Übergangs, in der das Reich Karls des Großen zerfiel und sich die Genese zweier Staaten, Deutschland und Frankreich, vollzog. Die Frage nach dem Recht und seiner Entstehung wird von verschiedenen Seiten und unter unterschiedlichen Aspekten beleuchtet. Dabei weist Wilfried Hartmann bereits in der Einleitung („Schandtaten, von denen man früher nicht gehört hat“ S. 1-5) darauf hin, dass für das Kirchenrecht nicht von einem dunklen Zeitalter gesprochen werden kann (S. 2). Beispielhaft nennt Hartmann neue Sammlungen mit den Kanones der zeitgenössischen Synoden, das große Fälschungsprojekt der Pseudoisidorischen Dekretalen sowie aus der Zeit um 900 die Collectio Anselmo dedicata und das Sendhandbuch Reginos von Prüm. Außerhalb des Kirchenrechts ist von einer Rechtssetzung im 10. Jahrhundert wenig zu spüren. Erst gegen Ende der ottonischen Zeit erarbeitet Burchard von Worms sein Dekret (1024/25). In Pavia werden die langobardischen Rechtstexte bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts im Liber Papiensis chronologisch geordnet und in der zweiten Jahrhunderthälfte in der Lombarda systematisiert. 1076 werden erstmals wieder seit fast 500 Jahren die Digesten Justinians zitiert. Der interessanteste Aspekt, den Hartmann anspricht, ist die Entstehung neuen Rechts durch bewusste Rechtssetzung. Auch Harald Siems wird in seinem Beitrag auf diese Frage eingehen und auf die necessitas temporis als Topos für die Begründung neuen Rechts hinweisen (S. 73). Hartmann erinnert daran, dass Regino in seinem Widmungsbrief an Erzbischof Hatto von Mainz auf neues Recht in seinem Sendhandbuch hinweist. Neues Recht habe auf bislang unerhörte Schandtaten antworten müssen (S. 3f.). Der Kontrast zu Fritz Kerns griffiger, aber mittlerweile viel kritisierter Formel vom alten guten Recht, wird hier besonders augenfällig. In der Kirche ist der Gedanke der Setzung neuen Rechts offenbar nicht verloren gegangen. Zu Recht versteht Hartmann die häufig anzutreffende Wiederholung älterer Kanones auf den Synoden des 9. und 10. Jahrhunderts gerade nicht als Zeichen ihrer Wirkungslosigkeit, sondern nimmt an, die Bischöfe hätten die Regeln wiederholen lassen, an deren Einhaltung sie nach wie vor interessiert waren (S. 4f.). Hier scheint mir die Parallele zum gerichtlichen Verfahren offensichtlich zu sein: Im Prozess werden die Verfahrensregeln auch immer wieder von den Schöffen abgefragt. Dieser Vorgang dient der Bestätigung der Rechtstradition, weil die Geltungsbestätigung des Rechts sich in der Wiederholung des tradierten Rechts gründet. Die sachliche Streitentscheidung durch die Schöffen empfängt in diesem Verfahren ihre Legitimation und kann so vom Konsens aller getragen werden.
Klaus Herbers („Päpstliche Autorität und päpstliche Entscheidungen an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert“ S. 7-30) reflektiert die Aktivität der päpstlichen Kanzlei. Herbers hebt hervor, dass bei der Frage, ob ein Bischof die Diözese wechseln darf (Translationsstreit), Anfänge wissenschaftlichen Arbeitens erkennbar sind. Zwar lässt Herbers offen, ob bereits Analogieschlüsse gezogen wurden, eine Argumentationsstruktur wird aber bei der Verwendung der Begriffe necessitas und utilitas erkennbar (S. 17). Anhand dreier Beispiele kann Herbers auf die Verwendung kirchenrechtlicher Quellen, insbesondere der Pseudoisidorischen Dekretalen hinweisen. Eine gewisse Kenntnis kirchlicher Rechtssätze muss daher sowohl im sächsischen als auch im mittelrheinischen und bayerischen Raum vorhanden gewesen sein (S. 27). Durchaus möglich wäre ja, dass die Synoden als Multiplikationsfaktoren gewirkt haben. Die Beispiele zeigen darüber hinaus, dass der römische Papst auch im späten 9. Jahrhundert eine Autorität darstellte, dessen Entscheidung Bedeutung beigemessen wurde. Herbers spricht von Rom als einem „Ort der Orientierung und Entscheidung“ (S. 27). Überzeugend ist der Zusammenhang mit der politisch unsicheren Lage im ostfränkischen Reich: Päpstliche Autorität wurde gesucht „als politische Sicherheiten ins Wanken gerieten.“ (S. 27).
Roman Deutinger versucht in seinem Beitrag („Der König als Richter“ S. 31-48) der Frage nachzugehen, „in welchen Formen, in welchen Fällen und mit welchem Erfolg das Königsgericht seine Urteile fällte.“ (S. 32). Dabei zieht er nur die Verfahren heran, die in Anwesenheit des Königs durchgeführt wurden. Dass sich bei der Urteilsfindung im Gericht der konsensuale Charakter der mittelalterlichen Herrschaft und Entscheidungsfindung zeigt, ist nicht weiter überraschend. Die Urteilsfindung ist stets eingebunden in den Konsens der beteiligten Kreise (S. 37ff.). Deutinger weist jedoch darauf hin, dass eben diese beteiligten Kreise in Prozessen gegen Aufrührer nicht nur Urteilsfinder, sondern häufig auch die Nutznießer des Urteils sind, weil die Güter des Verurteilten unter die Urteiler verteilt werden (S. 39ff.). Zu Recht betont Deutinger, dass die Formen der Urteilsfindung im Gericht von den Formen der Beschlussfassung in der Politik nicht klar zu unterscheiden sind (S. 43). Mir erscheint die Trennung in rechtliche, kirchliche und politische Verfahren für den hier untersuchten Zeitraum ohnehin fraglich zu sein. Deutinger stellt selbst fest, dass Recht und Politik keine Gegensätze sind, die sich gegenseitig ausschließen. Beide Bereiche zeigen viele gemeinsame formale Elemente, so dass „eine klare Unterscheidung im konkreten überlieferten Einzelfall nur selten möglich ist“ (S. 46f.). Schon der Begriff „placitum“ kann Gerichtstermin als auch politische Versammlung der Großen mit dem König bedeuten (S. 43f.). Auch personell gibt es keine Trennung zwischen dem Hof als politischem Organ und dem Hof als Ort des Königsgerichts. Am Königsgericht nehmen die gerade am Hof anwesenden weltlichen und geistlichen Großen teil. Die königliche Herrschaftsausübung ist so an ihren Konsens gebunden. Die Entscheidung, was mit besiegten Aufrührern geschieht, muss daher in einem gerichtsförmlichen Verfahren erfolgen, in dem die Rechtsgenossen der Angeklagten urteilen. Ob das Urteil deswegen parteiisch sein soll, weil das Königsgericht nur dann aktiv wird, wenn königliche Interessen tangiert sind, scheint mir allerdings fraglich zu sein.
Klaus Zechiel-Eckes formuliert „Quellenkritische Anmerkungen zur ,Collectio Anselmo dedicata’“ (S. 49-65). Diese systematische Kirchenrechtssammlung von beinahe 2000 Kapiteln aus der Zeit um 900 ist nur zu einem Zwölftel ediert. Die Verwendung wird schon durch den erheblichen Umfang erschwert, vor allem ist aber eine Vielzahl von Handschriften und Fragmenten zu konsultieren. Die „mit Abstand meistbenutzte Vorlage“ stellen die pseudoisidorischen Dekretalen dar (S. 59). Zechiel-Eckes gelangt zu dem Ergebnis, dass die Entstehungszeit der Collectio der Pontifikat Erzbischof Anselms II. von Mailand ist und lokalisiert den Entstehungsort dementsprechend in Mailand und nicht in Reims (S. 64).
Harald Siems beschäftigt sich mit dem Thema „In ordine posuimus: Begrifflichkeit und Rechtsanwendung in Reginos Sendhandbuch“ (S. 67-90). Siems stellt schon am Anfang klar, dass in der Zeit um 900 von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Recht nicht die Rede sein kann (S. 68). Es geht ihm nur um „Anfänge von Begriffsbildung, um Ansätze zur wortgebundenen, abstrakten Umschreibung rechtlicher Gegenstände.“ (S. 68). So sei „zu prüfen, ob ein Bemühen um Kategorienbildung feststellbar ist. (S. 69) Gemeint sei damit der „Weg von konkreten, einzelfallbezogenen Aussagen hin zur Erfahrung übergreifender Phänomene, die deshalb abstrakt bezeichnet werden, wie die unwillentlich, non sponte begangene Tat.“ (S. 69). Schon die Distinktion und Zuordnung von Sachverhalten und Normen könnte also das Vorhandensein von Begriffen erkennen lassen (S. 69). Das Ergebnis der Untersuchung fällt jedoch zurückhaltend aus. Begrifflichkeit dürfe bei Regino noch nicht vermutet werden (S. 87). So kann Siems zeigen, dass Regino zur Bezeichnung von vorsätzlichem und nicht vorsätzlichem Handeln jeweils eine Vielzahl von Worten verwendet (S. 87). Es fehlt also „eine durchgängige Handhabung und die eindeutige Verfestigung auf dem tragenden Wort“ (S. 88). So kann hier wohl nur der Ansatz zu einem reflektierten Umgang mit Rechtstexten gesehen werden. Auch die Durchnummerierung des Textes, die für Querverweise fruchtbar gemacht wird, wird zu einer „inneren Verschaltung“ des Textes, insbesondere für die Verbindung der Rechtstexte mit den vorangestellten Fragen, nicht genutzt (S. 89). Siems kann allerdings auch darauf hinweisen, dass Regino dicta verwendet, mit denen er Regelungen bewertet und Hinweise zur Anwendung gibt, die dem Benutzer Orientierung bieten sollen (S. 90, Beispiel auf S. 78f.). Der Gesichtspunkt einer Normenhierarchie werde aber von Regino noch nicht als Ordnungskriterium herangezogen (S. 75, auch S. 89). Reginos Ziel ist es zwar, das vorhandene Material für die praktische Verwendbarkeit im Sendgericht aufzuarbeiten (S. 72), indem er das Material auswählt und ordnet, damit es für eine Entscheidung herangezogen werden kann (S. 89). „Zur wichtigen, methodisch zu lösenden Frage, wie die maßgebliche Norm zu finden ist, gelangt Regino nicht. Vielmehr überlässt er die Entscheidung zwischen divergierenden Normen dem Belieben des Benutzers seiner Sammlung.“ (S. 75).
Karl Ubl beschäftigt sich mit dem Thema „Doppelmoral im karolingischen Kirchenrecht? Ehe und Inzest bei Regino von Prüm“ (S. 91-124): Auch Ubl wirft die Frage auf, ob Reginos Handbuch in der Praxis verwendbar war. Könnte gerade die Ausführlichkeit des Sendbuchs ein Indiz für dessen Praxisferne sein? (S. 92) Die Praxistauglichkeit wird zum Abschluss des Beitrags überzeugend mit einem Fragenkatalog begründet. Regino hat nämlich zu Beginn des ersten Buches 96 Fragen formuliert, die der Bischof an die Priester der visitierten Gemeinde richten sollte, und zu Beginn des zweiten Buches weitere 89 Fragen, die sich an die Laien richteten (S. 120).Ubl sieht Regino als „Sammler von durchaus divergierenden Satzungen des Kirchenrechts“ (S. 94), die Regino aber einer eigenständigen Bewertung unterziehe. Im Gegensatz zu Harald Siems im vorangegangenen Beitrag kommt Ubl zu dem Ergebnis, dass Regino zusammengehörige Kanones durchaus in eine hierarchische Ordnung bringt und so „bestimmten Rechtssätzen einen höheren Stellenwert zuschreibt.“ (S. 94). Eigenständige Entscheidungen Reginos kann Ubl an zwei Beispielen veranschaulichen. Regino schließt sich in seinem Sendhandbuch erstaunlicherweise einer „Mindermeinung“ an, indem er Ausnahmeregeln für die Wiederverheiratung geschiedener Eheleute heranzieht, die von zwei fränkischen Synoden nach Pippins Königskrönung formuliert worden waren, später aber kaum rezipiert worden waren (S. 95ff.). Vielmehr hatte sich unter dem Einfluss des Bonifatius der Gedanke der Unauflösbarkeit der Ehe weitgehend durchgesetzt. Diese strengen Regelungen stellten die „herrschende Meinung“ dar und finden sich beispielsweise in der Collectio Dionysio-Hadriana sowie in der Admonitio generalis. Das zweite Beispiel ist die Frage, ob auch die Ehe von Sklaven als unauflösbar verstanden werden musste, insbesondere wenn einer der Ehepartner verkauft werden sollte oder verkauft worden war. Das Konzil von Chalon (813) hatte die Ehe zwischen Sklaven verschiedener Herren unter denselben Schutz gestellt wie diejenige unter Freien (S. 100). Dagegen hatte das römische Recht die Ehe zwischen standesungleichen Personen untersagt (S. 102). Regino schließt sich bei der Lösung dieser Problematik der strengeren zweiten Ansicht an. Ubl folgert daraus, Regino habe besonders im Eherecht versucht, „seine eigenen normativen Überzeugungen, die durchaus nicht immer mit der Praxis übereinstimmten, zur Geltung zu bringen.“ (S. 121).
Ernst-Dieter Hehl widmet sich dem Thema „Die Synoden des ostfränkisch-deutschen und des westfränkischen Reichs im 10. Jahrhundert. Karolingische Traditionen und Neuansätze“ (S. 125-150). Rund 80 Synoden wurden im westfränkischen Reich zwischen dem Sturz Karls III. und der Festigung der Kapetinger-Herrschaft, 69 Synoden im Ostfrankenreich in der Zeit von Konrad I. bis Otto III. abgehalten (S. 125). Hehl kann darauf hinweisen, dass noch bis zum Jahr 952 von den Synoden Kanones verabschiedet wurden und somit die karolingische Tradition noch lebendig war. Auch die Synode von Hohenaltheim (916) greift auf Synodalbeschlüsse der Karolingerzeit zurück, zieht dafür aber nicht mehr die Synoden und Kapitularien selbst heran, sondern Reginos Sendhandbuch (S. 127). Darin zeige sich, dass im ostfränkischen Reich der Bezug zur Praxis stets im Vordergrund steht. Zwar verwenden auch Bernward von Hildesheim und Willigis von Mainz im Gandersheimer Streit kirchenrechtliche Argumente, aber nur in Italien seien die Bischöfe in der Lage, ihre Maßnahmen und Entscheidungen kirchenrechtlich abzusichern (S. 138). Hehl kann als Beispiel auf die Errichtung des Magdeburger Erzstuhls hinweisen, für den die Zustimmung der betroffenen Bischöfe von Mainz und Halberstadt noch fehlte. Die Synodalkanones verschwinden im 10. Jahrhundert, zunächst im westfränkischen Reich und erst später im ostfränkisch-deutschen Reich der Ottonen (S. 141). Hehl führt das auf die Stärke des Königtums zurück: Die Beschlüsse der Synoden ergehen in enger Zusammenwirken mit dem König oder dessen Kanzlei (S. 141), so auf den Synoden von Augsburg 952 und Ingelheim 972. Die Synoden demonstrieren „die Gemeinschaft des Herrschenden mit seinen Bischöfen“ (S. 143). In diesem Zusammenhang wird auch erkennbar, dass die Bischöfe Fachleute zu ihrer Unterstützung heranziehen, die über kirchenrechtliche Kenntnisse verfügen und diese zur Verteidigung und Begründung einer Rechtsposition einzusetzen verstehen (S. 146f.). In diesem Umfeld ist auch Burchard von Worms ausgebildet worden (S. 147).
Catherine Cubitt („Bishops and Councils in late Saxon England: the intersection of secular and ecclesiastical law“ S. 151-167) versucht das bemerkenswerte Phänomen zu erläutern, dass entweder nach 850 keine Synoden mehr stattgefunden haben oder jedenfalls Aufzeichnungen fehlen (S. 150). Cubitt vermutet, dass die Beurkundung ihr Ende fand, weil die Synoden ihre Gerichtsbarkeit über das Eigentum der Kirche verloren hatten (S. 152). Prozesse über kirchlichen Grundbesitz könnten stattdessen vor dem königlichen Gericht geführt worden sein, weil die Landleihe, die bis dato vornehmlich von der Kirche praktiziert wurde, nun auch vom weltlichen Adel angewandt wurde (S. 152). Eine Verbindung von weltlichem und kirchlichem Gericht ist naheliegend, zumal die Exkommunikation als kirchenrechtliche Strafe in weltlichen Urkunden anzutreffen ist (S. 153). Auch hier ist eine enge personelle Verbindung zu beobachten: Ealdorman und Bischöfe sitzen gemeinsam auf regionalen Gerichtsversammlungen zu Gericht (S. 158). Als Protagonisten der Verbindung von weltlicher und geistlicher Gewalt macht Cubitt Erzbischof Wulfstan von York (1002-1023) aus, einen Zeitgenossen der bedeutenden Reichsbischöfe Buchard von Worms, Bernward von Hildesheims und Willigis von Mainz (S. 153 ff.).
Während die Exkommunikation bislang vornehmlich zur Zeit des klassischen kanonischen Rechts seit dem 12. Jahrhundert das Augenmerk der Forschung fand, beleuchtet der Beitrag Sarah Hamiltons (“The Anglo-Saxon and Frankish Evidence for Rites for the Reconciliation of Excommunicants” S. 169-196) die Praxis der frühmittelalterlichen Exkommunikation und deren Aufhebung in einem Akt der Versöhnung, der die Wiederaufnahme des Exkommunizierten in die Gemeinschaft der Christen symbolisierte. Als das schärfste Schwert der Kirche wird die Exkommunikation häufig bezeichnet. Mit dem Exkommunikationsritus korrespondiert auch ein Rekonziliationsritus. Sowohl im fränkischen Reich als auch im angelsächsischen England sind Versöhnungsriten nachweisbar, die im Ablauf zwar Unterschiede aufweisen, aber jeweils auf Urkundenklauseln antworten, die eine Exkommunikation vorsehen (S. 178ff., 189f.).
Ludger Körntgen untersucht „Bußbuch und Bußpraxis in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts“ (S. 197-215). Er weist zunächst auf den erstaunlich konservativen Zug der Bußbücher hin. Noch im 9. Jahrhundert verwenden sie die Formulierungen des 6. und 7. Jahrhunderts. Ihr Inhalt sind keine tagesaktuellen Fälle, sondern das immer gleiche Material (S. 197). Die kirchenrechtlichen Quellen der Bußbücher waren jedoch häufig unklar. Erst in der Mitte des 9. Jahrhundert erarbeiteten Halitgar von Cambrai und Hrabanus Maurus Bußbücher aufgrund der Bibel und kirchenrechtlicher Autoritäten (S. 200). Regino von Prüm dagegen schöpfte wieder sowohl aus den neuen Bußbüchern Halitgars und Hrabans als auch aus den älteren Bußbüchern (S. 200f.). Die Ausbildung eines Frageschemas sei erst im Zusammenhang karolingischer Reformen erfolgt, um die praktische Durchführung der Buße unter Leitung eines Priesters zu vereinfachen (S. 214). Der Priester sollte so der Mühe enthoben werden, selbst Fragen zu formulieren (S. 214).
Daran anschließend sind „Die Bußbücher und das Recht im 9. und 10. Jahrhundert“ das Thema von Rob Meens (S. 217-233). Bußbücher zielen darauf ab, Hinweise zu geben, die bei der Beichte nützlich sein könnten (S. 219). Meens wirft die wichtige Frage nach dem „tatsächlichen Funktionieren dieser Texte“ auf: „Sind solche Texte nur bei der geheimen Buße angewandt worden, oder muss man ihre Anwendung vielmehr in einem rechtlichen Kontext annehmen?“ (S. 219) Die Bußbücher könnten durchaus in einen Kontext von Konfliktlösung gehören, etwa zum Bereich des „dispute settlement“. So könnten die Kirchenrechtssammlungen zusammen mit Bußbestimmungen dazu beigetragen haben, Konflikte innerhalb von lokalen Gemeinschaften zu lösen oder wenigstens einzuschränken (S. 220). Meens weist ergänzend auf die karolingische Dichotomie der Buße hin. Während öffentliche Vergehen einer öffentlichen Buße bedurften, konnten Vergehen, die nicht öffentlich bekannt waren, auch durch geheime Buße gesühnt werden (S. 225). Meens hebt hervor, dass Bußbücher „unter anderem im Prozess der Konfliktlösung innerhalb von lokalen Gemeinschaften benutzt worden“ seien, in denen „die Geistlichkeit ... oft eine Vermittlerrolle gespielt“ habe (S. 228). Die Bußbücher, die als Genre gegen Ende des 9. Jahrhunderts verschwinden, sind ihrerseits die Quellen einer neuartigen Literaturform. Das Sendhandbuch Reginos von Prüm und das Dekret Burchards von Worms sind in gewisser Weise Nachfolger der Bußbücher. Hier werden viele Themen aufgenommen, die vorher in den Bußbüchern Berücksichtigung fanden (S. 227). In einer kleinteiligen Gesellschaft, in der Täter und Opfer mit ihren jeweiligen Familien vermutlich vielfältige Beziehungen zueinander haben, kann bei Delikten wie Mord, Körperverletzung oder Ehebruch, wie sie Reginos Sendhandbuch enthält, eine dauerhafte friedliche Streitbeilegung nur gelingen, wenn sie vom Konsens aller Beteiligten getragen wird. Das setzt eine entsprechende Sühneleistung des Täters voraus, die das Rache- oder Ausgleichsinteresse des Opfers oder seiner Familie befriedigt. Deswegen bedarf es der öffentlichen Verhandlung im Sendgericht und der öffentlichen Buße, der dann eine Wiederaufnahme des Täters in die Gemeinschaft folgen kann (S. 228).
Die detaillierten Spezialuntersuchungen dieses Bandes beleuchten wichtige grundlegende Fragen zu dem Komplex Kirche, Recht und Gericht. Wertvolle Erkenntnisse und Anregungen können insbesondere zur Rechtsentstehung, zur Rechtsfindung, zur Konfliktlösung und über die Ansätze zu einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Recht gewonnen werden. Das angeblich so dunkle Zeitalter ist also viel lichter geworden.
Berlin/Würzburg Steffen Schlinker