Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter, hg. v. Esders, Stefan. Böhlau, Köln 2007. VIII, 416 S. Besprochen von Adrian Schmidt-Recla.

 

Das Mittelalter als „orale Gesellschaft“ ist das Leitmotiv, das Herausgeber und Beiträger in Anlehnung an die Arbeiten Hanna Vollraths in vorliegendem Sammelband im Hinblick auf den Austrag von Konflikten durchdeklinieren. Statt den beobachtbaren Einzelerscheinungen die Definition der mittelalterlichen Gesellschaften etwa als „archaisch“, „herrschaftlich“ oder „feudal“ voranzustellen, erlaubt der Rekurs auf die Oralität der Gesellschaft einerseits und die Ritualität des Rechtslebens andererseits in der Tat eine insgesamt weitgehend zuschreibungsarme Analyse von historisch belegbar verwendeten Konfliktlösungsstrategien. Dass diese induktive Methode entweder genügend breit angelegte Einzelfallstudien oder aber Leitkonflikte, deren Exemplarität begründet werden kann, verlangt, liegt auf der Hand. Der von Stefan Esders herausgegebene Band mit Beiträgen von Chris Wickham, Warren Brown, Stefan Esders selbst, Philippe Depreux, Claudia Zey, Karl Kroeschell, Marita Blattmann, Christine Reinle, Rainer Walz, Patrick Geary, Letha Böhringer, Stefan Weinfurter, Michael Oberweis, Dirk Jäckel, Martin Kintzinger, Klaus Militzer und Karl Friedrich Krieger sowie Franz Fuchs, der in zwei Abschnitte gegliedert ist (Rechtliches Verfahren, soziale Lebenswelt und Schriftkultur einerseits und Politische und „internationale“ Dimensionen mittelalterlichen Konfliktaustrags andererseits), beinhaltet beide Herangehensweisen.

 

Hier können – pars pro toto – nur einige Stichworte herausgegriffen werden; insgesamt ist die Lektüre ungemein reich an Anregungen. Die Untersuchung karolingischer Formelsammlungen, von Schlichtungen im Loiretal, von Konfliktlösungen durch päpstliche Legaten und der Protokollführung im römisch-kanonischen und im „deutschrechtlichen“ Verfahren etwa sind methodisch auf eine Vielzahl von Fällen angelegte Analysen. Exemplarisches bieten etwa die Beiträge zu einer Totschlagsstreitigkeit des Abtes von Walkenried, zu Hinkmar von Reims’ Rolle als Mittler in Ehestreitigkeiten, zu Heinrichs II. regnum-Konzept und zum Zisterzienserorden im deutschen Thronstreit.

 

So vielgestaltig die Thematik der einzelnen Beiträge, so vielgestaltig sind auch die gewonnenen Ergebnisse. Oft aber wird festgehalten, dass die konkrete Konfliktlösung und deren Präsentation coram publico nicht den aus den zeitgenössischen normativen Quellen ableitbaren zivilrechtlichen, strafrechtlichen oder kanonistischen Anforderungen genügte, oder diese bewusst vernachlässigte. Zu kurz gegriffen wäre es aber den Autoren zufolge, hieraus den machiavellistischen Schluss zu ziehen, dass das Recht (auch im Mittelalter) nichts anderes als ein Machtmittel (gewesen) sei. Viel wichtiger erschien es demgegenüber (in einer auf Oralität basierenden Kommunikation), die Tragfähigkeit der gefundenen Lösung durch demonstrative Einmütigkeit herauszustellen. Mittelalterliches Recht und mittelalterliche Rechtsfindung habe demnach vor allem eine prozessuale, in Riten, Formen und Formeln ausgedrückte Bedeutung. Dass in diesem Rahmen aber auch die Individualität der energischen Einzelperson genügend Spielraum fand, zeigen etwa Weinfurter für Heinrich II. und Böhringer für Hinkmar von Reims nachdrücklich.

 

Nur zu verlockend wäre ein Eingehen auf Einzelheiten, etwa auf eine lesenswerte Replik Karl Kroeschells auf Michael Stolleis’ These von der Entbehrlichkeit der Unterscheidung von „Begriff“ und „Tatsache“, auf die Frage des „deutschrechtlichen“ Gerichtsverfahrens und etwa noch auf den Zusammenhang zwischen Ketzerei und Sodomie. Statt dessen soll betont werden, dass Esders’ Band die mittelalterliche Allgemein- und Rechtsgeschichte erheblich bereichert. Er zeigt die mittelalterliche Gesellschaft als eine im rechtlichen Denken in jegliche Richtung geschulte, rational handelnde und kreative Lösungen findende, soziale Folgen ihres Handelns berücksichtigende und auf Publizität ihres Handelns bedachte Ordnung. Damit ist wieder einmal Johannes Fried mit seiner These von der Aktualität des Mittelalters bestätigt.

 

Konstanz/Leipzig                                                        Adrian Schmidt-Recla