Nörr, Knut Wolfgang, Die Republik der Wirtschaft. Recht, Wirtschaft und Staat in der Geschichte Westdeutschlands. Teil 1 Von der Besatzungszeit bis zur Großen Koalition, Teil 2 Von der sozialliberalen Koalition bis zur Wiedervereinigung. (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 25, 53), Tübingen 1999, 2007. X, 269, X, 303 S. Besprochen von Werner Schubert.

 

Mit dem Erscheinen des zweiten Teils des Werkes: „Die Republik der Wirtschaft“ hat Knut Wolfgang Nörr die Wirtschaftsrechtsgeschichte der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung abgeschlossen (zu Band 1 vgl. die Rezensionen von Friedrich Kübler, Rechtshistorisches Journal, Bd. 19 [2000], S. 197ff.; Gerold Ambrosius, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 89 [2002], S. 225ff.; Hans-Peter Benöhr, ZNR 2002, S. 237f.). Beiden Bänden liegt die Annahme zugrunde, dass sich im Kaiserreich das System einer „organisierten Wirtschaft“ herausgebildet habe, das die Grundlage der Wirtschaftskonzeption der Weimarer Verfassung geworden sei. Nach 1945 trat nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit der NS-Zwangswirtschaft der von der Freiburger Schule (Eucken, Böhm und Großmann-Doerth) entwickelte sog. Ordoliberalismus auf den Plan, der einen staatlich garantierten Wettbewerb in den Mittelpunkt der Wirtschaftsgestaltung stellte. Weiter entwickelt wurde das Modell des Ordoliberalismus insbesondere von Müller-Armack und ihm folgend von Ludwig Erhard als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebiets 1947/48 zum Konzept der sozialen Marktwirtschaft. Dieses wurde für die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik maßgebend und fand seinen Niederschlag im Leitsätzegesetz vom 24. 6. 1948 des Vereinigten Wirtschaftsgebiets (hierzu Bd. 1, S. 36ff.), dessen „protokonstitutionelle“ Natur Nörr herausarbeitet. Mit Recht stellt Nörr wiederholt die Doppeldeutigkeit bzw. Ambiguität des „Markts“ im Konzept der sozialen Marktwirtschaft heraus (u. a. Bd. 1, S. 61ff.) und spricht in diesem Zusammenhang von der „Instabilität des Begriffs der sozialen Marktwirtschaft“, sowie von seiner „mangelnden Subsumierbarkeit und Abgrenzungskapazität“ (Bd. 2, S. 7), was diesem Begriff die Überlebensfähigkeit bis heute sicherte. Demgegenüber liegt nach Nörr dem Grundgesetz von 1949 noch die Konzeption der „organisierten Wirtschaft“ zugrunde (Bd. 1, S. 84ff.). Wenn sich auch die Konzeption der sozialen Marktwirtschaft grundsätzlich durchgesetzt hat, so hat gleichwohl in der rechtspolitischen Auseinandersetzung das Konzept der „organisierten Wirtschaft“ im Untersuchungszeitraum eine nicht ganz unerhebliche Rolle gespielt und einige Erfolge erzielt, beispielsweise bei der Mitbestimmung im Unternehmen. Gegenstand der Untersuchungen Nörrs ist die Auseinandersetzung zwischen der Konzeption der „organisierten Wirtschaft“ und der (sozialen) „Marktwirtschaft“, deren reale Ausgestaltung zahlreichen Kompromissen unterlag.

 

Die Bände handeln zunächst von „Begriffen, Leitvorstellungen und übergreifenden ,Politiken’“ (Bd. 2 S. 1), während sich die jeweils weiteren Abschnitte mit mehr oder weniger weit geschnittenen Rechtsgebieten befassen. In Band 1 sind dies der hessische Entwurf eines Sozialisierungsgesetzes von 1948, das Bundesbankgesetz und die im Zusammenhang mit der Konzentrationsdebatte stehenden gesetzlichen Maßnahmen (Kartellgesetznovelle von 1965, Gesellschaftsrecht unter konzernpolitischen Maßnahmen; Publizitätsgesetz von 1969; Mittelstandsrechtspolitik). Behandelt wird ferner die Entwicklung der Montanmitbestimmung nach 1945, die für die Eisen- und Stahlindustrie zunächst in der britischen Zone eingeführt und durch das Mitbestimmungsgesetz von 1951 auf die Kohlenindustrie ausgedehnt wurde (S. 119ff.). Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 verschaffte den Gewerkschaften zahlreiche Einflussmöglichkeiten (S. 124ff.). Keinen Erfolg hatten die Pläne der Gewerkschaften und darauf aufbauend der Gesetzentwurf der SPD zur „Neuordnung der Wirtschaft“ von 1950, die überbetriebliche Mitbestimmung insbesondere durch einen Bundeswirtschaftsrat einzuführen (S. 112ff., 131ff., 138ff.). Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz vom 8. 6. 1967 (Bd. 1, S. 73ff.), dem die gesellschaftspolitische Erweiterung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft seit Beginn der 1960er Jahre vorausging, dehnte „Stabilität zu einem die Sphären der Politik, der Wirtschaft und der Gesellschaft umfassenden Begriff“ aus (Bd. 2, S. 96). Neben der Preisniveaustabilität ging es in gleicher Weise um einen hohen Beschäftigungsstand, das außenwirtschaftliche Gleichgewicht und um ein angemessenes und stetiges Wirtschaftswachstum (sog. Polygon oder magisches Viereck; vgl. Bd. 1, S. 67ff.; Bd. 2, S. 94ff.). Abschließend geht Nörr auf das Aktiengesetz von 1965 (einschließlich des Konzernrechts) ein, bei dem der Gesetzgeber unternehmensrechtlichen Überlegungen keinen Raum gegeben habe (Bd. 1, S. 236ff.; Bd. 2, S. 283).

 

Im zweiten Teil (für die Zeit von ca. 1970-1990) geht Nörr außer auf einige Grundsatzfragen (Schicksal der Begriffe „soziale Marktwirtschaft“, „Wirtschaftsverfassung“, „Wirtschaftsrecht“; Sozialstaatskonzeptionen, wirtschaftliche Macht) zunächst auf den EWG-Vertrag von 1957, das Aktionsprogramm von 1962 und die Einheitliche Europäische Akte von 1986 ein (S. 27ff.), bei denen die französischen und deutschen Organisationsvorstellungen aufeinander stießen. S. 94 ff. greift Nörr auf das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zurück und stellt in diesem Zusammenhang die Ursachen für das Misslingen von Stabilitätspolitik und Stabilitätsgesetz heraus. Ausgeweitet wurde 1972 die Mitbestimmung im Betrieb durch das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 (S. 129ff.) und die Mitbestimmung im Unternehmen durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976 (S. 142ff.). Keinen Erfolg hatten die Pläne der Gewerkschaften auf Einführung einer überbetrieblichen oder gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung (S. 155ff.). Weitere Themen des zweiten Bandes sind die Kartellgesetznovellen von 1973, 1980 und 1989, die primär zugunsten des Mittelstandes strukturpolitisch orientiert waren (S. 119ff.), das Gesetz zur Regelung der allgemeinen Geschäftsbedingungen von 1976 (S. 201ff.) und das weite Feld des Gesellschafts- und Kapitalmarktrechts (S. 211ff.; Anlegerschutz; Rechnungslegung und Eigenkapitalausstattung; Körperschaftsteuerreform). Das Schlusskapitel bringt unter der Überschrift „,Entelechien’ und ,Kontingenzen’“ eine „Zusammenfassung in Auswahl“ (S. 265-288). Das Werk wird abgeschlossen mit jeweils einem Entscheidungs-, Gesetzes- und Personenregister. Nützlich wäre auch ein Sachregister gewesen.

 

Nörr hat in beiden Bänden die wichtigsten wirtschaftspolitisch relevanten Gesetze und Gesetzesvorhaben der Bundesrepublik bis 1990 besprochen. Leider nicht einbezogen in sein Werk hat Nörr das grundlegende, an anderer Stelle behandelte Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen von 1957. Im Übrigen war bei der Vielzahl der behandelten Gesetze eine jeweils detaillierte Entstehungsgeschichte nicht möglich. Anschaulich gekennzeichnet ist die Entwicklung des Aktienrechts von 1965 (Bd. 1, S. 236ff.) und des GmbH-Rechts (Bd. 2, S. 250ff.). In gleicher Weise hat Nörr die bahnbrechende Judikatur des Bundesgerichtshofs zum Aktienrecht (u. a. Minderheitenrechte), zum GmbH-Recht und zum Anlegerschutz berücksichtigt. Auch die arbeitsrechtlichen Gesetze sind hinreichend detailliert gekennzeichnet. Auf der Darstellung Nörrs insbesondere der theoretischen Diskussionen über die Wirtschaftsordnung und Wirtschaftsverfassung der Bundesrepublik können weitere Detailstudien zu den Wirtschaftsgesetzen sowie zur wirtschaftsrechtlichen Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs aufbauen. Auch für die leider noch immer ausstehende Geschichte der zahlreichen öffentlichrechtlichen Gesetze der Bundesrepublik enthält das Werk wichtige Strukturierungshilfen. Insgesamt bieten die beiden Bände Nörrs „aus dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Ordnungs- und Verfassungszusammenhänge“ bis 1990 eine eindringlich geschriebene, in sich geschlossene Rechtsgeschichte, die allerdings einige Kenntnisse der Politik-, Wirtschafts-, Sozial- und Personengeschichte dieser Zeit voraussetzt.

 

Kiel

Werner Schubert